Die aktuelle Leitlinie empfiehlt, Borderline-Persönlichkeitsstörungen möglichst früh zu diagnostizieren – am besten schon bei Jugendlichen ab 12 Jahren. Warum ich als Psychotherapeut das problematisch finde.
Im November 2022 erschien die neue S3-Leitlinie Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Darin wird empfohlen, bereits ab einem Alter von 12 Jahren eine fachgerechte Abklärung einer BPS-Diagnose zu erwägen, sofern mindestens eines der folgenden Charakteristika vorliegt (Empfehlungsgrad A, also eine starke, „Soll-Empfehlung“):
Ab 12 Jahren? Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut würde ich Zwölfjährige nicht unbedingt – und auch nicht alle – als Jugendliche bezeichnen. Sie befinden sich zwar in der Gonadarche (mit geschlechtsspezifischen Jahresunterschieden), aber aus entwicklungspsychologischer Sicht würde ich eher von Kindern reden. Dies wird – wenn auch rechtsdogmatisch – in unterschiedlichen Gesetzen so gesehen (z. B. § 7 Kinder- und Jugendhilfegesetz SGB VIII, § 1 Jugendgerichtsgesetz JGG).
Ich finde die Herabsetzung des Alters, ab dem angeblich valide und stabile Kriterien für eine schwere psychische Störung vorliegen, höchst kritisch. Auch wenn viele Kliniker bestimmter Arbeitsgruppen die Tatsache vehement verneinen, dass Persönlichkeitsstörungen zu den schweren psychischen Störungen gehören. Es geht mir nicht um die Borderline-Störung (i.S. einer emotional-instabilen Störung), sondern um die Persönlichkeitsstörung. Nicht aus ideologischen Gründen oder aus einer nachvollziehbaren Zurückhaltung hinsichtlich der Stellung einer Persönlichkeitsstörungsdiagnose im Kindes- und Jugendalter – wie einige Autoren betonen (z. B. Kaess M. und Brunner R.). Bei der Diagnosestellung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sollen auch die allgemeinen Kriterien von Persönlichkeitsstörungen erfüllt sein, also die sogenannten G-Kriterien in ICD-10.
Aus meiner klinischen Erfahrung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und psychologischer Psychotherapeut – also der praktischen Erfahrung mit Menschen, die ich im Kindes- und Jugendalter untersuche und dann nach mehreren Jahren vielleicht wieder als erwachsene Personen erneut im klinischen Setting antreffe – kann ich die Plausibilität der Borderline-Kriterien im Jugendalter (nicht Kindesalter!) nachvollziehen. Dies gilt nicht für die allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung. Es geht hier auch nicht um die Debatte, ob Kinder und Jugendliche eine Persönlichkeit haben!
Es existieren psychoanalytische Arbeiten, z. B. von Paulina Kernberg und andere, die überzeugend die Entwicklung von dysfunktionalen Persönlichkeitsmerkmalen bei Kindern erläutern. Ob es sich hier um eine „fertige“ Persönlichkeitsstörung handelt, also sich in Kognitionen, Affektivität, Impulskontrolle, der Art des Umgangs mit anderen Menschen und der Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen zeigt, sowie in der Konsistenz, Permanenz und Rigidität (laut ICD-10: F60) – dies ist eine andere Frage. Klinisch kann ich sehr wohl bestätigen, dass jugendliche Betroffene mit einer leichten Dominanz des weiblichen Geschlechts – zunehmend aber auch männliche Betroffene – unter affektiver Instabilität, Impulsivität und erschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Schaut man sich das Kriterium „Identitätsunsicherheit“ an, dann ergeben sich weitere Aspekte, die eine kritische Betrachtung erforderlich machen.
Die entwicklungspsychologisch-normative Identitätsunsicherheit von Jugendlichen kann bei bestimmten Individuen und in bestimmten Lebensphasen sehr schwer zu unterscheiden sein von einer borderline-typischen Identitätsunsicherheit. Vor allem für Kinder und Jugendliche der heutigen Zeit: in einer Zeit, wo Wahrheitspluralismus herrscht. In einer Gesellschaft, wo das subjektive Empfinden alleine – nicht die biologischen/medizinischen Fakten – eine rechtsverbindliche Zuordnung zu einem Geschlecht rechtfertigt, unter Rechtsreformen, unter denen Individuen ein Mal im Jahr ihr Geschlecht ändern können.
In einer Zeit, wo Wissenschaftsfeindlichkeit herrscht, wo gefühlt keine Fakten zählen, wenig Leitplanken existieren, wo sich alles rasend schnell verändert. Ganz ehrlich – wie soll sich bei einem jungen Menschen, der noch auf der Suche nach seinem Ich ist, eine sichere Identität entwickeln? Soll man bei solchen jungen Menschen, bei Zutreffen der o. g. klinischen Merkmale und einer Identitätsunsicherheit eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizieren? Ach ja, selbstverletzendes, nicht-suizidales Verhalten gehört noch dazu. Wobei dieses Kriterium unter allgemeinen Versorgungsaspekten und in nicht-professionellen Settings sehr großzügig gesehen wird.
Es ist etwas anderes, zu fordern, dass die pathologischen Merkmale seit der frühen Adoleszenz vorliegen müssen oder die Diagnose bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Adoleszenz gestellt werden muss. Die erste Forderung führt zu einer retrospektiven Diagnosestellung. Wenn jemand aber erst 14 Jahre alt und impulsiv ist oder sich selbst verletzt, dann rechtfertigt das aber noch lange nicht die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung. Zudem – und das zeigen viele Studien – ist die Komorbiditätsrate bei BPS sehr hoch. Fast 100 % der Patienten mit einer BPS haben mindestens eine weitere psychiatrische Diagnose (hier oder hier).
Es geht nicht darum, die diagnostischen Kriterien zu vernachlässigen und zu hoffen, dass die Betroffenen schon aus ihrem Zustand herauswachsen. Die diagnostischen Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung, wenn angewandt auf ein sehr junges Alter, sind aber unspezifisch. Es ist ähnlich wie eine präpsychotische Prodromalsymptomatik bei der Früherkennung einer Schizophrenie. Im Bereich der Früherkennung und der Frühintervention psychotischer Erkrankungen hat man mittlerweile sehr gute Hilfsmittel und diagnostisch-kommunikative Abstufungen. Hier gilt ein diagnostisches Kontinuum: Mit der Zunahme von Zahl und Schwere der Prodromalsymptome nimmt die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung der Krankheit und damit auch die diagnostische Sicherheit zu.
Die allermeisten Fälle, die die o. g. Kriterien erfüllen, haben eines gemeinsam. Es ist ein Merkmal, was nicht entwicklungspsychologisch-normativ ist: Wenn man die BPS-Kriterien vergleicht, dann findet man viele Überlappungen mit extremeren Ausprägungen der Pubertät. Bei vielen bilden sich diese Merkmale/Symptome zurück. Bei einigen bilden sich daraus andere psychische Störungen im Erwachsenenalter, z. B. bipolare Störungen, Psychosen, Impulskontrollstörungen.
Das eine Merkmal ist die Emotionsregulationsstörung. Nach Wöller umfasst die Fähigkeit der Emotionsregulierung die Fähigkeiten:
a) eigene Affekte deutlich zu erleben (Affektgenerierung),
b) die erlebten Affekte zu ertragen (Affekttoleranz),
c) die erlebten Affekte intrapsychisch zu differenzieren (Affektdifferenzierung),
d) die eigenen Affekte zu inhibieren und exprimieren (Affektregulierung) und
e) die eigenen Affekte anderen mitzuteilen (Affektausdruck).
Leider existiert keine Störungsdiagnose mit der Bezeichnung „Emotionsregulationsstörung“ oder „Affektregulationsstörung“. Nochmal: Wenn die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung – die allgemeinen Kriterien oder die Eingangskriterien – nicht erfüllt sind, dann kann man keine Persönlichkeitsstörungsdiagnose vergeben. Hier ist entwicklungspsychologische oder entwicklungspsychiatrische Expertise gefragt.
Ab wann kann man bei einem 12-Jährigen behaupten, dass das Merkmal X ein repräsentatives Merkmal seiner Persönlichkeit ist? In den meisten Fällen, bei denen voreilig eine BPS-Diagnose gestellt wird, handelt es sich um extreme Formen einer Affektregulationsstörung (mit zusätzlich einer erschwerten Pubertät) und als Folge eine Beeinträchtigung in der Beziehungsgestaltung und Bindungsfähigkeit.
Es spricht nichts dagegen, bei Vorliegen der entsprechenden Symptome, auch BPS-entsprechend zu behandeln. Hier ist selbstverständlich Früherkennung und Frühintervention wichtig. Was uns fehlt ist aber eine „Zwischen“-Diagnose. Eine solche, die auch in Leitlinien anerkannt ist. Denn nur so können Studien durch Drittmittel finanziert werden und nur so kann man auch belastbare Daten für die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung erhalten.
Quellen:
DGPPN e. V. (Hrsg.) für die Leitliniengruppe: S3-Leitlinie Borderline-Persönlichkeitsstörung. Version 1.0 vom 14.11.2022
Galvan, A. (2018). Cambridge fundamentals of neuroscience in psychology: The neuroscience of adolescence. Cambridge University Press.
Brunner, R., & Kaess, M. (Hrsg.). (2016). Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter: Früherkennung und Frühintervention. Kohlhammer.
Kernberg, P. F., Weiner, A., & Bardenstein, K. (2015). Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (S. Mehl, Übers.; 3. Aufl.) Klett-Cotta.
Chanen A.M, Jovev M., Jackson H.J. Adaptive functioning and psychiatric symptoms in adolescents with borderline personality disorder. J Clin Psychiatry. 2007 Feb; 68(2):297-306. doi: 10.4088/jcp.v68n0217
Kaess M. et al. Axis I and II comorbidity and psychosocial functioning in female adolescents with borderline personality disorder. Psychopathology. 2013; 46(1):55-62. doi: 10.1159/000338715
Häfner, H. et al. (2018). Psychosen – Früherkennung und Frühintervention: Der Praxisleitfaden (1. Aufl.) Schattauer.
Wöller, W. (2013). Trauma und Persönlichkeitsstörungen: Ressourcenbasierte Psychodynamische Therapie (RPT) traumabedingter Persönlichkeitsstörungen (2. Aufl.). Schattauer.
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