Tierärzte sind rar. Wer kein Haustier hat, mag denken: „Was geht mich das an?“ So einfach ist es aber nicht. Wieso Landwirte im Umgang mit kranken Tieren geschult werden und was sich sonst noch ändern soll, lest ihr hier.
Wenn die meisten Menschen an Tierärzte denken, haben sie wohl eine Kleintierpraxis im Kopf, in der sich um die Gesundheit von Hund, Katze und Kaninchen gekümmert wird. Vielleicht denken sie noch an einen hemdsärmeligen Mann in Gummistiefeln, der einer Kuh dabei hilft, ihr Kalb zur Welt zu bringen. Was viele nicht auf dem Schirm haben, sind aber die vielen Bereiche, in denen Tierärzte außerdem noch arbeiten. Denn neben der Behandlung von Nutz- und Haustieren sind sie auch für die Tierseuchenbekämpfung, die Lebensmittelüberwachung, die Resistenzbekämpfung und den Tierschutz zuständig. Letzterem kommt aufgrund der Verankerung im Grundgesetz seit 2002 eine zunehmende politische Bedeutung zu.
Warum die Betonung dieser Aufgabenbereiche? Weil der Tierärztemangel zunehmend zum Problem wird – und zwar in all diesen Tätigkeitsfeldern. Wer kein Tier besitzt, konsumiert aber wahrscheinlich zumindest Lebensmittel tierischer Herkunft und möchte die Prävention und das Management von potentiellen Ausbrüchen zoonotischer Infektionserreger in Expertenhand wissen.
Jüngst schlagen immer mehr Landwirte Alarm, dass die Versorgung von Nutztieren mehr und mehr gefährdet ist. Das ist zugleich ein Tierschutzproblem als auch eine Gefahr für die Sicherheit tierischer Lebensmittel. „Wir sehen mit Sorge, dass das Berufsbild offenbar nicht mehr attraktiv ist und im ländlichen Raum schon jetzt viel zu wenig Tierärzte Nutztiere behandeln oder zu den Betrieben rausfahren können“, sagt Dr. Holger Hennies, Präsident des Landesbauernverbandes Landvolk Niedersachsen. In Niedersachsen gebe es derzeit rund 6.650 Veterinäre, davon arbeiteten 1.620 als niedergelassene, 1.627 als angestellte Tierärzte in Praxen und 540 in Behörden und Verwaltung. Viele Stellen würden nach Angaben der Tierärztekammer aber unbesetzt bleiben – vor allem in Praxen auf dem Land und in der Veterinärverwaltung. Als Gründe sieht der Verband unter anderem die erhöhten gesetzlichen Anforderungen und vielen Dokumentationspflichten, insbesondere im Nutztierbereich.
Auch in Bayern sieht es nicht anders aus: Das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz rechnet in den kommenden Jahren in einigen Regionen ebenfalls mit einer tierärztlichen Unterversorgung im Nutztierbereich. Unter anderem der demographische Wandel habe zu einem deutlichen Rückgang der tierärztlichen Praxen für Nutztiere geführt: 2014 habe es noch knapp 1.200 niedergelassene Nutztierärzte gegeben, aktuell seien es nur noch knapp 740.
Auch im Kleintierbereich kann eine flächendeckende Notfallversorgung hierzulande schon länger nicht mehr gewährleistet werden. Immer mehr Tierkliniken geben ihren Klinikstatus auf, um keine 24-Stunden-Erreichbarkeit gewährleisten zu müssen – sie können den Ansturm an Notfallpatienten schlicht und einfach nicht mehr stemmen. Die Zahl der Kleintierkliniken mit einer 24-Stunden-Versorgung sank in Deutschland zwischen 2015 und 2020 um etwa 30 %, Tendenz weiter fallend. Die Gründe für diese Situation sind sehr vielschichtig und werden seit Jahren in der Tierärzteschaft diskutiert. Liegt es am stetig wachsenden Frauenanteil in diesem Beruf – der mittlerweile bei 90 % angelangt ist? Nach dem Studium bekommen viele Tierärztinnen Kinder und möchten bzw. können im Anschluss erstmal nicht in Vollzeit arbeiten, so das Argument. Auch wollen junge Tierärzte generell lieber angestellt und in Teilzeit arbeiten. In der Tierärztekammer Nordrhein gab es 2022 zum ersten Mal mehr angestellte als selbstständige praktizierende Tierärzte, geht aus einem Anschreiben der Kammer von Anfang des Jahres hervor. Vor 10 Jahren lag das Verhältnis noch bei 2:1 Selbstständige zu Angestellten. „Selbstständige arbeiten aber in der Regel pro Tag deutlich länger als Angestellte, so dass auch hier tierärztliche Arbeitskraft verloren geht“, schreibt die Kammer.
Überhaupt hat sich der Anteil jährlich ausgebildeter Tierärzte seit 20 Jahren nicht verändert – und das bei steigenden Tierzahlen, wachsenden Aufgabenfeldern, vermehrter Bürokratie und gestiegenen Anforderungen von Tierhaltern sowie höheren medizinischen Standards. Seit all den Jahren ist die Zahl der Studienplätze an den fünf veterinärmedizinischen Fakultäten nahezu unverändert. Insgesamt gibt es etwa 6.400 Studienplätze in Deutschland, jedes Jahr können etwas mehr als 1.000 Studenten in Berlin, Leipzig, Hannover, Gießen und München ein Tiermedizinstudium beginnen. Zum Vergleich: In der Humanmedizin hat sich das Angebot im gleichen Zeitraum um rund 20.000 Studienplätze erhöht.
An Bewerbern mangelt es jedenfalls nicht – noch im Vergabeverfahren 2021/2022 kamen 5,6 Bewerbungen auf einen verfügbaren Studienplatz der Tiermedizin. Deshalb forderten die tierärztlichen Berufsverbände bpt (Bundesverband Praktizierender Tierärzte) und BbT (Bundesverband der beamteten Tierärzte) zusammen mit der Bundestierärztekammer dieses Jahr einen sechsten veterinärmedizinischen Hochschulstandort in Nordrhein-Westfalen.
Auf der Internetseite tierarztmangel.de wird sich dem seit Jahren bestehenden Problem gewidmet und von engagierten Vertretern des Berufsstandes nach Lösungsansätzen gesucht. Die Autoren schreiben: „Aktuell wird die Versorgung der Haus-, Heim- und Nutztiere in Deutschland laut jährlich aktualisierter Tierärztestatistik von rund 22.000 Tierärzten in etwa 12.000 Praxen gestemmt. Etwas mehr als die Hälfte der Tierärzte (ca. 12.000) sind niedergelassene Praxis- und Klinikeigentümer, die neben der Patientenversorgung auch die Verantwortung für das Praxismanagement tragen. Auf der anderen Seite stehen alleine rund 35. Mio. Haustiere, die versorgt werden wollen, Tendenz steigend mit zum Teil zweistelligen Wachstumsraten – Pferde, Kühe, Schweine, Schafe und Geflügel kommen noch ‚on top‘.“ Im öffentlichen Bereich würden viele Stellen nur noch als Teilzeitstellen ausgeschrieben und aus dem universitären Bereich werde gemeldet, dass an den fünf deutschen Hochschulstandorten zahlreiche Professuren unbesetzt blieben, so heißt es auf der Seite.
In ihrem Schreiben appelliert auch die Tierärztekammer Nordrhein an die Politik: „In Summe führen alle diese Punkte schon jetzt dazu, dass der Bedarf an tierärztlicher Arbeitskraft nicht mehr gedeckt ist und dass der tierärztliche Berufsstand seinen gesellschaftlichen Auftrag, vorsichtig ausgedrückt, nur noch eingeschränkt erfüllen kann.“ Es sei absehbar, dass sich dieser Zustand noch weiter verschlechtern wird, wenn nicht massiv gegengesteuert werde. Die Kammer pocht auf die Aufstockung der Studienplätze, um den Trend entgegenzuwirken. „Eile tut hier not, denn die negativen Folgen der beschriebenen Entwicklung werden sich durch das allmähliche Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge im tierärztlichen Berufsstand in den nächsten Jahren zusätzlich noch verstärken.“
Bis hier jedoch etwas passiert, versuchen die jeweiligen Arbeitsbereiche schon jetzt mit Maßnahmen gegenzusteuern. Unter Kleintierärzten und in der Pferdepraxis wird seit Jahren über die herrschenden Arbeitsbedingungen gesprochen und Praxisinhaber versuchen, ihre freien Stellen attraktiver zu gestalten. Teilweise haben sich regionale Notdienstringe etabliert, um die tiermedizinische Versorgung zumindest einigermaßen zu gewährleisten. Der Landesbauernverband Niedersachsen und das Bayerische Umweltministerium wollen in Zukunft für den Berufsstand und das Arbeiten auf dem Land werben und Anreize für Tierärzte schaffen, für den Job auch in ländlichere Gegenden zu ziehen – vergleichbar mit der Landarztquote in der Humanmedizin. Zusammen mit der Tierärztekammer werden in Niedersachsen außerdem Schulungen für Landwirte geplant, um ihnen den Umgang mit kranken und verletzten Tieren im Sinne des Tierschutzes näher zu bringen – falls mal kein Tierarzt zur Verfügung steht. Das wird wohl leider in den kommenden Jahren öfter vorkommen. Man kann nur hoffen, dass die Politik den Ernst der Lage erkennt und bald mit entsprechenden Maßnahmen gegensteuert.
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