Die Winterdepression kennt wohl jeder. Doch für einige Menschen mit Seasonal-Affective Disorder sind hingegen die Sommermonate eine psychomentale Zerreißprobe. Warum?
Es ist Sommer! Sonne satt, endlich keine kalten und dunklen Tage mehr. Mal die Seele baumeln lassen, sich sonnen, die Wärme genießen. Einfach glücklich sein und Sonne tanken!
Die einen verbinden mit dieser Beschreibung vielleicht schöne Sommererinnerungen, Ferien, Freiheit und Glück. Einige, gar nicht so wenige, wollen davon nichts wissen. Für sie stellen die Sonnentage, insbesondere die sehr heißen Tage und Wochen, eine psychomentale Zerreißprobe dar. Es ist aber etwas mehr, etwas anderes als „Summer Blues“ oder „Summertime Sadness“. Bei einigen Menschen handelt es sich tatsächlich um eine behandlungsbedürftige, saisonal-bedingte, affektive Störung. Wenn wir über Seasonal-Affective Disorder (SAD, passenderweise) reden, denken die wenigsten an eine Sommerdepression. SAD ist eher mit einer Herbst- oder Winterdepression assoziiert.
Dabei unterscheiden wir eigentlich eine Winter-SAD von einer Sommer-SAD (S-SAD). Die Symptome sind auch tatsächlich anders: Die S-SAD beinhaltet primär Schlafstörung (Insomnie), Appetitmangel und innere Unruhe. Auch anekdotische Daten berichten über „Ärger, Wut und Aggressionssteigerung“, oder Gereiztheit durch das grelle Licht, die anhaltende Hitze und die Luftfeuchtigkeit. Dabei ist die S-SAD-Symptomatik sehr heterogen. Dies führte bislang auch zu einer geringeren Entdeckungsrate im Vergleich zur Winter-SAD. Die Prävalenzdaten sind noch wenig untersucht, wobei man laut Daten aus den Niederlanden bei 0,1 % der untersuchten Stichprobe Symptome von Sommer-SAD feststellen konnte.
Was ist über die ätiopathophysiologischen Mechanismen bekannt? Bei der sommerbezogenen affektiven Störung geht man von den gleichen oder ähnlichen molekularbiologischen Mechanismen wie bei der winterbezogenen affektiven Störung aus. Insbesondere die spürbaren Veränderungen im Klima und die damit assoziierten Klimaphänomene rückten dieses Störungsbild – zusammen mit anderen psychischen Auswirkung der Klimakrise – in den wissenschaftlichen Fokus.
Einige Studien verglichen den Effekt von hohen Temperaturen auf die psychische Gesundheit und fanden erhöhte Prävalenzen von vollendeten Suiziden und subjektiven psychischen Beschwerden. Dabei stellte man bei einigen Studien fest, dass die Reduktion der Temperaturen durch Kühlung oder Klimaanlagen den negativen psychischen Folgen entgegen wirkte. Der Zusammenhang zwischen Suizidalität und hohen Temperaturen, i. e. Erhöhung von Suizidraten in den Sommermonaten, war bereits Gegenstand unterschiedlicher Forschungsbemühungen. Einige Meta-Analysen konnten einen direkten Zusammenhang zwischen der Temperaturerhöhung und der Erhöhung von negativen psychischen Auswirkungen bzw. der Exazerbation von psychischen Störungen und Verhaltensweisen feststellen, wobei es hier auch große Unterschiede im Alter der Betroffenen zu konstatieren war. In einer Studie konnte man sogar zeigen, dass ein Temperaturanstieg über 21 °C eine signifikante Verschlechterung des psychischen Erlebens in Form von Ärger, Wut und Stress mit sich brachte.
Die Hypothese mit den erhöhten Temperaturen ist zwar aus psychologischer Sicht (im Sinne von psychologischem Stress) einleuchtend, kann aber die molekularen Mechanismen einer affektiven Erkrankung nicht erklären. In der Regel besitzt der menschliche Körper spezifische Thermoregulationsprozesse (z. B. Wärmereduktion durch Schwitzen), sodass der Organismus i. d. R. keine Werte von über 42 °C erreicht, was für die Hitzeschockinduktion von Stressproteinen erforderlich wäre. Gleichzeitig vertreten einige Hypothesen auch die Sichtweise, dass es sich bei der S-SAD um eine Art physiologischer Stressor oder Temperaturstress (im physiologischen Sinne) handelt. Diese Befunde zeigen generell, welche physiologischen Folgen Hitze und hohe Temperaturen auf vegetative und psychomentale Prozesse haben. Wie dies jedoch eine affektive Störung verursacht, bleibt ungeklärt.
Einige Forschungs- bzw. Übersichtsarbeiten konzentrierten sich auf den Beitrag von saisonalen und chronobiologischen Schwankungen auf Hirnfunktionen und psychische Erkrankungen. Dabei spielen genetische und biologische Unterschiede in der Lichtsensitivität in Interaktion mit dem Genotyp bzw. der genetischen Variation in den Clockgenen (z. B. PER1-3, NPAS2) eine wichtige Rolle in den Mechanismen, die affektiven und anderen psychischen Erkrankungen zugrunde liegen.
Einige Studien konnten einen Zusammenhang herstellen zwischen den Clockgenen und der Anfälligkeit für die Entwicklung einer affektiven Störung – generell und insbesondere SAD (hier wurde die Rolle von genetischen Varianten der Gene PER2, ARNTL und NPAS2 hervorgehoben). Es wurde des Weiteren postuliert, dass chronobiologische Interventionen, die eine antidepressive Wirkung haben (z. B. Schlafdeprivation oder Schlafphasenverlagerung) einen nachweisbaren Effekt auf die beteiligten Clockgene erzielen.
Eine weit verbreitete Hypothese zur Erklärung der S-SAD besagt, dass durch die Tageslänge und die UV-Einstrahlung an Sommertagen die Produktion von Melatonin verringert wird, was zu einem Ungleichgewicht in weiteren biochemischen Pfaden führt und bei Personen mit Risiko-Genotypen (z. B. genetischen Polymorphismen in den Clockgenen oder anderen chronobiologisch-relevanten Genen) eine fehlende Adaptation an die saisonalen Begebenheiten verursacht. Diese neurochemische Dysbalance resultiert in einer depressiven bzw. affektiven Erkrankung.
Aufrechterhaltend hierfür können psychologische Mechanismen sein. Während an trüben, kalten Wintertagen eine gedrückte Stimmung sich leicht erklären lässt, ist dies in der milden und hellen Jahreszeit auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar. Betroffene bekommen sogar eher „schlechtes Gewissen“, nach dem Motto: „Eigentlich sollte es mir gut gehen! Die Sonne scheint, schönes Wetter, alle sind glücklich. Was stimmt mit mir nicht?“ Gleichzeitig kann der soziale Zwang, sich an diesem scheinbar perfekten Leben zu beteiligen, die Symptome verstärken im Sinne der Bildung von innerer Reaktanz. Dies wiederum führt zu vermehrtem sozialen Rückzug (manchmal auch, um sich von den sozialen Interaktionen zu erholen, denn diese können für Menschen mit einer Depression sehr zermürbend sein).
Ein weiterer Erklärungsansatz betrachtet die erhöhte Pollenbelastung an warmen Sommertagen. Hier wird die Hypothese gestellt, dass die hohe Pollendichte an heißen Tagen eine respiratorische Inflammation bei bestimmten Individuen auslöst. Entzündungsprozesse wurden des Öfteren mit depressiven Phasen und Störungsbildern assoziiert. Auch ein bidirektionaler Zusammenhang zwischen Depression und Entzündungsprozessen wurde diskutiert.
Es liegt auf der Hand, dass heiße Sommernächte für viele von uns nicht unbedingt erholsam sind. Darunter leidet auch die Schlafqualität. Insbesondere in Sommerphasen, wo die Hitze auch in den späten Abendstunden anhält, wo die Luft kaum abkühlt. Auch dieser Effekt des fehlenden erholsamen Schlafs wurde als eine weitere Erklärung für die S-SAD herangezogen. Dabei haben viele Forschungsarbeiten einen soliden Zusammenhang zwischen Schlaf und Hirnfunktionen gezeigt. Ein weiterer interessanter Befund ist, dass Schlafdeprivation Entzündungsprozesse verschärft, was auch mit depressiven Symptomen einhergehen kann. Dies kann als Verbindung zur „Entzündungshypothese“ betrachtet werden. Der Zusammenhang zwischen Schlafmangel und depressiven Symptomen scheint jedoch von weiteren biologischen Faktoren abhängig zu sein, z. B. konnte man in einer Studie Geschlechtsunterschiede feststellen.
Welche Hypothese nun die meiste wissenschaftliche und klinische Evidenz erhält, lässt sich noch nicht sagen. Jedenfalls lässt eine saisonal-bedingte affektive Störung aufgrund ihrer Vorhersagbarkeit präventive Interventionen zu, z. B. vorbeugende Behandlung mit Bupropion. Des Weiteren helfen non-pharmakologische, psychotherapeutische Interventionen bei der Behandlung einer S-SAD, genauso wie diese auch bei anderen affektiven Erkrankungen hilfreich sind. Ich wünsche einen depressionsfreien Restsommer!
Quellen:
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