Es gibt eine neue Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung des akuten Koronarsyndroms – und die hats endlich mal in sich. Warum ich als Kardiologe großer Fan der Neuerungen bin, lest ihr hier.
Die neue Leitlinie zum akuten Koronarsyndrom wurde auf dem Kongress der europäischen Gesellschaft für Kardiologie in Amsterdam veröffentlicht – und sie hat es in sich. Hier ist sicher eine der größten Fortschritte und Paradigmenwechsel der letzten Jahre zu finden. Das STEMI-Konzept ist eigentlich überholt und nicht mehr zeitgemäß – meine Kollegen und ich waren schon lange davon überzeugt, dass das OMI-Konzept massive Vorteile bietet. Auch in der Leitlinie kann man jetzt sehen, dass ein Umdenken und eine Dynamik in der Wertung der Ereignisse zu finden ist.
Schon auf den ersten Seiten der Leitlinie und in den ersten Grafiken zeigt sich der Wechsel von Schubladendenken hin zu einem Spektrum:
Das akute Koronarsyndrom (ACS) umfasst ein Spektrum von Erkrankungen, zu denen Patienten gehören, die sich mit kürzlich aufgetretenen Veränderungen der klinischen Symptome oder Anzeichen, mit oder ohne Veränderungen im 12-Kanal-Elektrokardiogramm (EKG) und mit oder ohne akute Erhöhung der kardialen Troponinkonzentration (cTn) vorstellen. Credit: ESC Guideline 2023
Auch weiterhin wird es STEMI als Diagnose und Pathway-Marker geben, aber nicht wie früher als getrennte Leitlinien, sondern endlich in einer einzelnen umfassenden Leitlinie. Naturgemäß ändert sich dann auch an der Empfehlung einen STEMI sofort zu katheterisieren nichts, interessanter wird es daher bei den NSTE-ACS (akuter Brustschmerz ohne persistierende ST-Strecken-Erhöhung). Gerade Hochrisiko NSTEMIs (OMI) sind ja häufig mit einer viel komplexeren Koronaranatomie verknüpft als der klassische STEMI. Das wird in der Leitlinie jetzt dementsprechend mehr gewichtet, da dies noch mal deutlicher Richtung Intervention bei der richtigen Indikation verschoben wird.
Aus der Notfallmedizin kennen wir Akronyme und Algorithmen anhand von Buchstabenfolgen schon länger, dies wird in der aktuellen Leitlinie auf das Koronarsyndrom und seine Abkürzung ACS ausgedehnt. Hier wird es mit dem A für ein abnormales EKG, mit einem C für den klinischen Kontext und einem S für die Stabilität interpretiert. Aus der Zusammenschau dieser Befunde und Eindrücke soll sich dann die weitere Risikostratifizierung und insbesondere Therapie ableiten.
Interessanterweise wird die Diagnose an den Schluss gestellt. Und auch hier zeigt sich noch einmal, dass die Therapie erst mit Diagnose einzuleiten ist. Das bedeutet für uns sowohl in Präklinik wie Klinik, dass nur beim STEMI, der direkt in den Herzkatheter geht, Heparin zu geben ist. Heparin ist hier ein ausschließlich peri-interventionelles Medikament für die Intervention selbst. Für NSTE-ACS soll sich die Auswahl anhand der Revaskularisierungsstrategie orientieren.
Hier ist Enoxaparin Heparin vermutlich überlegen, noch sind die Empfehlungen aber bei Heparin – was ich persönlich nicht ganz verstehen kann. Warum soll ich jetzt Heparin geben, das vielleicht 90 Minuten lang wirkt, wenn die Zielwirkung erst zum Herzkatheter in 6 Stunden relevant ist. Bei verzögerter Revaskularisation (> 24 h) wird Fondaparinux empfohlen. Wir müssen also auch weiterhin nicht in jeden Brustschmerz, den wir ACS nennen, Heparin reinpressen. Selbst bei stehender Diagnose sollte ein niedermolekulares Heparin vorgezogen werden, was bedeutet, dass wir hier ohne Zeitdruck arbeiten können und sollten.
Antithrombotische Behandlungen beim akuten Koronarsyndrom: pharmakologische Ziele: ADP, Adenosindiphosphat; FVIIa, Faktor VIIa; FXa, Faktor Xa; GP, Glykoprotein; TF, Gewebefaktor; TxA2, Thromboxan A2; UFH, unfraktioniertes Heparin. Medikamente, die oral verabreicht werden, sind blau, Medikamente, die bevorzugt parenteral verabreicht werden, rot dargestellt. Credit: ESC Guideline 2023
Bei mittlerweile wirklich extrem großer Evidenz bezüglich der hochsensitiven Troponine ist es möglich 0 und 1 Stunden Algorithmen zu fahren, auch wenn die Symptome gerade frisch sind. Hier zeigt sich eines der großen Defizite dieser Leitlinie für uns im Alltag: Zahlreiche Patienten präsentieren sich ja nach 3 Stunden ohne Dynamik in ihrer Symptomatik und brauchen daher keine Kontrolle. Die Leitlinie empfiehlt aus Sicherheitsgründen (und um den Ablauf immer gleich zu halten), dass bei allen Patienten das 0/1 Stundenschema gefahren wird.
Hier wird von einem Anteil von 10–15 % gesprochen. Nach meinen Erfahrungen mit den Leitlinien der ESC handelt es sich hier um gefühlte Einschätzungen und keine wirklichen Real-Life-Daten. Für uns in der Notaufnahme wird sich hier wenig ändern, ich würde sogar so weit gehen und auch weiterhin auf eine zweite Troponinkontrolle bei länger anhaltenden Beschwerden verzichten.
Die 0 h/1 h- bzw. 0 h/2 h-Rule-Out- und Rule-In-Algorithmen unter Verwendung von hochsensitiven kardialen Troponin-Tests bei Patienten, die mit Verdacht auf NSTEMI und ohne Indikation für eine sofortige invasive Angiographie in die Notaufnahme eingeliefert werden. Credit: ESC Guideline 2023
Eine frühe Revaskularisation bzw. invasive Strategie innerhalb von 24 Stunden wird bei folgenden Patienten empfohlen:
Aber auch bei Hochrisiko-Merkmalen:
Als Kardiologe freut mich natürlich, dass der radiale Zugang als Level IA Empfehlung drin steht. Ich habe den femoralen Zugang nie wirklich gelernt.
Eine der wichtigsten notfallmedizinischen Publikationen des 21. Jahrhunderts ist nach wie vor das Bild von Antoine Ayer mit den STEMI-Äquivalenten. Alleine in den Notaufnahmen, in denen ich gearbeitet habe, hat dieser Überblick mehr Leben gerettet als alle Intubationen zusammen. Davon findet sich jetzt immer mehr in den Leitlinien. Diesmal dazu gekommen – auch wenn noch nicht als STEMI-Äquivalent bezeichnet – de Winter und Wellens. Es wird ja, auch wenn die ESC offensichtlich den Begriff OMI/NOMI noch scheut wie der Teufel das Weihwasser. Leider finden sich diese EKG-Beispiele im Supplement und nicht in der zentralen Leitlinie:
Elektrokardiographische Anomalien bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Strecken-Elevation. EKG, Elektrokardiogramm; LAD, linke anteriore absteigende Arterie. Die Abbildung zeigt einige der elektrokardiografischen Anomalien, die bei Patienten mit NSTE-ACS auftreten können. Credit: ESC Guideline 2023
Endlich wird mit einem alten, sehr gruseligen Vorurteil aufgeräumt, das nachweislich zu einer schlechteren Versorgung von Frauen in der Herzinfarkttherapie geführt hat. Es wird endlich nicht mehr unterschieden nach Geschlechtszugehörigkeit. Es gibt keine Daten, die das je unterstützt hätten. Es wird eher darauf hingewiesen, dass ungewöhnliche Symptomkonstellationen uns wachsamer werden lassen sollten.
Aus Gründen der Aktualität und der Lesbarkeit haben wir primär einen Teil der für uns in mobiler wie klinischer Notfallmedizin relevanten Aspekte herausgearbeitet und nicht die komplette Leitlinie en detail zusammengefasst. Wie immer gilt: es lohnt sich, die Originalpublikation zu lesen.
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Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
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