Wenn medikamentöse Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen versagen, gilt die Elektroschocktherapie als Mittel der Wahl. Dennoch sehen sich jene, die sie anwenden, mit Vorurteilen aus der Allgemeinbevölkerung konfrontiert. Was sagen Ärzte dazu?
„Allein der Begriff ‚Elektroschock‘ klingt schon gruselig“, sagt David Zilles, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Göttingen. „Doch wir haben es bei der Elektrokonvulsions- oder Elektrokrampftherapie (EKT) mit einer ganz klar wissenschaftlich belegten, hochwirksamen Methode zu tun. Wir bieten sie Patienten an, die häufig schwer krank sind und bei denen andere Therapien nicht erfolgreich waren.“ Die meisten Menschen, die mit EKT Erfahrung hätten, fänden sie gut, so Zilles. Der Göttinger Experte sieht folgendes Problem: „Viele Menschen, seien es Betroffene, Angehörige oder auch Ärzte, haben selbst nie in irgendeiner Form persönliche Erfahrungen mit der EKT gemacht.“ Da sei viel Unwissen oder auch Halbwissen vorhanden, was entsprechend zu Vorurteilen führen könne. „Aus meiner langjährigen Erfahrung weiß ich aber, dass die Therapie von den meisten Patienten gut angenommen wird“, sagt Zilles. Doch das Thema bleibt schwierig: Bei der Recherche zu diesem Artikel stieß die Autorin auf mehrere Ärzte, die große Sorge hatten, sich zu äußern. Nicht, weil die jeweiligen Ärzte die EKT kritisch sehen würden, sondern allein deshalb, weil der Ruf der EKT in der Allgemeinbevölkerung ihrer Meinung nach schlecht sei und sie nicht in einem solchen Artikel namentlich erwähnt werden möchten. Der allgemein schlechte Ruf ist unter anderem bedingt durch erschreckende Filmszenen, die Zwangsbehandlungen mit EKT zeigen. Auch eine Anfrage bei der entsprechenden Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), brachte wenig Kritisches zutage. In einem Positionspapier heißt es: „Die EKT ist zu einem modernen medizinischen Behandlungsverfahren für schwere psychische Störungen geworden. Vor allem Patienten mit depressiven und psychotischen Beschwerden sprechen gut auf die Therapie an. Sie ist hochwirksam, sicher und im Verhältnis zur Schwere der behandelten Erkrankungen nebenwirkungsarm.“ Die EKT sei bei den genannten Indikationen die Therapie der Wahl, bestätigt ein Pressesprecher, und verweist auf eine entsprechende Broschüre für Patienten und Angehörige.
„Ohne jeden wissenschaftlichen Zweifel wirkt die EKT bei richtiger Indikation viel schneller und vor allem viel effektiver als alle anderen therapeutischen Maßnahmen in der Psychiatrie“, sagt auch Alexander Sartorius, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für psychische Gesundheit (ZI) in Mannheim: „Bei schwer erkrankten Patienten bleibt der moderne multimodale Therapieansatz unabdingbar, deshalb sollte die EKT nie als alleinige therapeutische Maßnahme eingesetzt werden. Doch die die Heilungsraten etwa bei der wahnhaften Depression liegen bei 95 Prozent. Ein solcher Erfolg lässt sich mit Medikamenten nicht erreichen, die EKT ist hier die Therapie der ersten Wahl.“ Eine große Metaanalyse aus dem Jahr 2003 bestätigt dies. „Bei manchen Indikationen ist die EKT die Therapie der Wahl“, sagt der Psychiater Alexander Sartorius. „Die klassische Indikation für die EKT stellt heute die Depression dar, insbesondere die therapieresistente Depression, bei denen andere Maßnahmen wie Medikamente und Psychotherapie nicht ansprechen“, sagt Zilles: „Außerdem gibt es Depressionen, die so schwer ausgeprägt sind, dass man schnellstmöglich eine definitive klinische Besserung erreichen möchte. Das ist zum Beispiel der Fall bei Depressionen, die mit Nahrungsverweigerung oder hochgradiger Suizidalität einhergehen und wo man nicht viel Zeit hat, um andere Maßnahmen auszuprobieren.“ Wenn medikamentöse Verfahren und andere Therapien nicht ausreichend wirkten, sei auch hier die EKT eine gute Option, so der Psychiater. „Es gibt darüber hinaus eine Menge seltenerer Indikationen bei Krankheitsbildern, die in der Regel anders behandelt werden können, bei Therapieresistenz aber auch auf die EKT gut ansprechen.“ Für die Wirksamkeit der EKT gebe es eine gute Datenlage, sagt der Experte: „Wenn man die Werte im Mittel über alle depressiven Patienten hinweg betrachtet, dann liegen wir bei 70 bis 80 Prozent Ansprechrate.“ Dabei müsse man aber unterscheiden, ob Patienten akute, schwerwiegende depressive Erkrankungen hätten, etwa mit Vorhandensein psychotischer Symptome. Diese zeigten in der Regel ein besonders gutes Ansprechen von bis zu 90 Prozent. „Patienten, die länger chronifiziert erkrankt sind mit langen Krankheitsverläufen, bei denen auch eine medikamentöse Therapieresistenz vorliegt, haben in der Regel eine schlechtere Ansprechrate. Sie liegt aber immer noch bei rund 50 Prozent“, so Zilles. Elektroden werden auf der Kopfhaut des Patienten fixiert. Eine Narkose und ein nervenberuhigendes Mittel sorgen dafür, dass nur das Gehirn stimuliert wird.
In den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren versuchte man, Schizophrenie und Depressionen mittels Insulinschocktherapie zu heilen, indem man Patienten durch Verabreichung von Insulin in ein kurzes Koma versetzte. Zwar gab es einige Erfolge, doch es kam auch zu irreversiblen Hirnschäden und Todesfällen. Zu dieser Zeit experimentierte auch der Budapester Arzt Ladislas J. Meduna zunächst mit Kampfer, dann mit Pentetrazol (Cardiazol), einer Chemikalie, die in den 1920ger Jahren als Kreislaufmittel verbreitet war. Es löste ebenfalls Krampfanfälle aus. Meduna veröffentlichte 110 Fälle, mit denen er die therapeutische Wirkung bei schizophrenen und depressiven Zuständen dokumentierte. Doch Cardiazol war schwer zu dosieren. Patienten erlitten darunter qualvolle Angstzustände und unter den heftigen Krampfanfällen kam es zu Knochenbrüchen. Schocks durch Elektrizität zu evozieren, war die Idee des Italienischen Neurologen Ugo Cerletti. Er testete die Methode erstmals 1938 erfolgreich an Patienten mit Schizophrenie, eine Therapie, die sich in den Vierziger- und Fünfzigerjahre auch international ausbreitete. Doch den Erfolgen standen bis heute immer auch ihr schlechter Ruf gegenüber, denn Elektroschocks wurden häufig missbräuchlich und gegen den Willen von Kranken verabreicht. Auch vermischte man das Eine mit dem Anderen: So experimentierten Euthanasieärzte während des Nationalsozialismus in Deutschland mit Strom, nicht aber mit EKT an unzähligen wehrlosen Anstaltinsassen. Auch in der ehemaligen DDR wurden Patienten ungefragt mit Stromstößen traktiert. Noch lange glaubte man, Stromstöße würden das Gehirn nachhaltig schädigen; Ernest Hemmingway zum Beispiel, der an schweren Depressionen litt, glaubte nach einer EKT-Therapie, er habe sein Gedächtnis verloren und nahm sich das Leben.
Bei bestimmten Indikationen schadet es Patienten, ihnen eine EKT vorzuenthalten, so der Göttinger Psychiater David Zilles. Negative Folgen für das Gehirn gebe es nicht, sagt Sartorius, im Gegenteil: „Aufgrund der vielen Vorurteile gegenüber Strom und Krampfanfall, aber auch aufgrund der vor allem bei älteren Patienten auftretenden vorübergehenden Probleme der Kognition wurden lange Zeit strukturelle Hirnschäden durch die EKT befürchtet. Heute wisse man, dass das Volumen der grauen Substanz durch die EKT zunehme, sagt der Psychiater. „Vor allem in Gehirnbereichen, bei denen es durch schwere Depressionsverläufe zu Verlusten von Nervenzellen und synaptischen Verbindungen kommen kann. Regeneration und Restauration von grauer Substanz könnte daher einer der Wirkmechanismus sein.“ Andere Experten diskutieren Effekte auf die Ausschüttung von Hormonen und Neurotransmittern. Dies könnte zur Normalisierung neuroendokrinologischer Störungen und zur Regulierung gestörter Signalübertragungswege führen. Letztlich gibt es fundierte Hypothesen und Erkenntnisse aus Tierexperimenten. Was im menschlichen Gehirn abläuft, muss noch erforscht werden. Nach aktuellem Kenntnisstand führen nur EKT-Serien bei unüblich hoher Ladungsmenge zu irreversiblen neurohistologische Veränderungen bei Versuchstieren. Vor vier Jahren fanden Wissenschaftler Hinweise auf eine durchaus wünschenswerte Gedächtniskonsolidierung. Sie untersuchten das Erinnerungsvermögen von 42 Patienten mit Major-Depression nach einer EKT. Elektroschocks scheinen Erinnerungen in der Phase der Rekonsolidierung abschwächen. Ob sich Effekt für Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung eignet, bleibt offen. „Mit der EKT lösen wir unter kontrollierten Bedingungen einen therapeutisch wirksamen zerebralen Krampfanfall aus“, erklärt Zilles die Mechanismen einer EKT. „Es ähnelt dem, was bei einer Epilepsie unkontrolliert und krankheitsbedingt passiert. Bei der EKT induzieren wir dagegen einen Anfall unter kontrollierten und klar standardisierten Bedingungen von außen.“ Der Patient bekomme eine EKT unter Narkose und unter Gabe eines muskelentspannenden Mittels, so der Experte: „Über Elektroden, die an verschiedenen Positionen auf der Kopfhaut platziert werden können, erfolgt dann mittels kurzer elektrischer Impulse eine entsprechende Stimulation des Gehirns und wir induzieren so einen therapeutischen Anfall. Dadurch wird es zu einer synchronen Aktivität der Nervenzellen angeregt. Das Gehirn selbst beendet nach zumeist 30 bis 60 Sekunden diesen Krampfanfall dann von allein.“ Der Krampfanfall selbst sei eine synchrone elektrische Aktivität der Nervenzellen, erklärt Zilles: „Die Aktivität im Gehirn ist, vereinfacht gesagt, normalerweise eher chaotisch. Nervenzellen sind in einem großen Durcheinander entweder aktiv oder inaktiv. Durch die Induktion des zerebralen Krampfanfalls kommt es dann zu einer synchronisierten Entladung einer elektrischen Aktivität dieser Nervenzellen.“ Bei einem klassischen Krampfanfall würde man dies zum Beispiel durch die motorischen Entäußerungen auch sehen können, so Zilles weiter. Bei der EKT aber spiele sich durch die Gabe des muskelentspannenden Mittels die Aktivität nur im Gehirn ab, denn nur da sei sie nützlich für die therapeutische Wirkung.
„Heute wird die EKT in einigen Ländern wie Italien seltener angewendet als in Deutschland“, sagt Sartorius, „doch im Vergleich zu den meisten westlichen Ländern wie etwa den USA, Australien, Belgien oder Schweden wird bei uns von 0,3 Patienten pro 10.000 Einwohnern pro Jahr etwa zehnmal seltener zur EKT gegriffen.“ Allerdings unterscheiden sich auch die Anwendungspraktiken je nach Kontinent: Laut der Studie Contemporary use and practice of electroconvulsive therapy worldwide, die 2012 von Wissenschaftlern um Kari Ann Leiknes in Brain and Behaviour veröffentlicht wurde, wird die EKT in Asien, Afrika und Lateinamerika noch immer ohne Sedativa durchgeführt. Ein mittels EKT induzierter zerebraler Anfall wird von den Ärzten sorgfältig überwacht.
Dass die EKT in Deutschland einen vergleichsweise schlechten Ruf hat, liegt Sartorius’ Meinung nach an althergebrachten Vorbehalten - trotz gegenteiliger wissenschaftlicherer Befunde und klarer Vorgaben der Leitlinien. Unter Psychiatern scheint es keinerlei Bedenken gegen die EKT zu geben, weder Zweifel noch Schattenseiten sind zu hören. Tatsächlich hatten Sartorius und Zilles zunächst Vorbehalte gegen diesen Bericht, weil sie fürchteten, er könne alte Vorurteile schüren. Auch Zilles sieht sich immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert, insbesondere durch ärztliche Kollegen. Das Bild des zuckenden Patienten in der Zwangsjacke scheint tief im Bewusstsein verankert zu sein. „Dabei kann eine EKT auch heute in seltenen Ausnahmefällen gegen den natürlichen Patientenwillen eingesetzt werden“, sagt er. Dies sei möglich, wenn die Einwilligungsfähigkeit des Patienten durch eine schwerwiegende psychische Erkrankung zumindest vorübergehend so beeinträchtigt sei, dass er einen freien Willen nicht mehr bilden oder äußern könne, Informationen nicht angemessen aufnehmen und infolgedessen nicht zu einer sinnvollen Entscheidung kommen könne. „In solchen Fällen kann es unter eng definierten Umständen die Notwendigkeit geben, den Patienten auch gegen seinen Willen zu behandeln, etwa wenn eine Selbstgefährdung durch Suizidalität oder Verweigerung der Nahrungsaufnahme vorliegen“, sagt Zilles. „Mit der EKT können wir Patienten rasch aus der schwersten Krankheitsphase herausholen mit dem Ziel, seine Einwilligungsfähigkeit wiederherzustellen. Damit kann er wieder sinnvoll selbst entscheiden.“ Das Fürsorgeprinzip habe dann ein größeres Gewicht als das Autonomieprinzip. Behandlungen gegen den natürlichen Willen seien aber nicht EKT-spezifisch, sondern ein generelles psychiatrisches Phänomen, so Zilles. „Eine bestimmte Behandlung kategorisch auszuschließen verstößt gegen das Gerechtigkeitsprinzip“, sagt Medizinethiker Alfred Simon
Daneben gebe es weitere Aspekte, die eine Behandlung gegen den natürlichen Patientenwillen nötig machen könnten: „Es braucht auch gute Hinweise dafür, dass ihm mit der Behandlung geholfen werden kann. Im Vorfeld muss auf verschiedenen Wegen versucht worden sein, ihm die Notwendigkeit der Behandlung zu erklären“, so der Ethiker. Schließlich sei erst kürzlich im neuen Paragraphen 1906a 6b im BGB festgelegt worden, dass es keinen Hinweis darauf geben dürfe, dass der Patient die Behandlung zuvor in einem einwilligungsfähigen Zustand ablehnt haben würde. Die Debatte um den natürlichen Patientenwillen sei eng verknüpft mit der Geschichte der modernen Medizinethik, so Simon. Früher habe der Arzt das Sagen gehabt und es sei darum gegangen, den Patienten dazu zu bringen, das zu tun, was der Arzt für richtig befunden hätte. „In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das Selbstbestimmungsrecht von Patienten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Heute ist weithin anerkannt, dass eine Behandlung nur nach vorheriger Aufklärung und mit Einwilligung des Patienten erfolgen darf, und dass ein einwilligungsfähiger Patient eine ärztliche Maßnahme verbindlich ablehnen darf, auch wenn der Arzt diese für dringend erforderlich hält“, sagt der Medizinethiker. Wie wenig dies noch immer in der Praxis üblich sei, zeige die erst vor wenigen Wochen veröffentlichte Neufassung des Genfer Ärztegelöbnisses: „Dass der Arzt den Willen des Patienten zu respektieren hat, steht erst jetzt, 70 Jahre später, zum ersten Mal dort“, sagt Simon.
„Ich wünsche mir, dass man die Fragen nach Behandlung gegen den natürlichen Patientenwillen nicht ideologisch und dogmatisch behandelt und beantwortet. Im Zusammenhang mit der EKT erscheint es mir sinnvoll, Fragen um Nutzen und Schaden im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung zu klären“, sagt Simon. Es sollten nicht die Ärzte allein, sondern gemeinsam im Team unter Einbeziehung der anderen therapeutischen Berufsgruppen und des Patientenvertreters entschieden werden. Das sei leider nicht immer der Fall. Oft heiße es, wenn etwas aus ärztlicher Sicht notwendig sei, dann sei es auch zulässig. „Sowohl bei Mitarbeitern der Psychiatrie als auch in der Öffentlichkeit erlebe ich Vorbehalte gegenüber der EKT als Zwangsbehandlung“, so Simon: „Die EKT als Möglichkeit von der Zwangsbehandlung kategorisch auszuschließen, halte ich aber unter ethischen Gesichtspunkten für ungerecht, denn es gibt klare Hinweise darauf, dass sie gerade bei schweren, therapieresistenten Erkrankungen oft das Mittel der Wahl ist, das dem Patienten noch helfen kann.“ Auch Zilles bedauert die Stigmatisierung der EKT: „Sie wird in eine Ecke gestellt, in die sie nicht gehört“, sagt er: „Patienten in schweren Krankheitsphasen bekommen die Therapie vielleicht nicht angeboten, das kann sehr problematisch sein. Insofern sollten wir die EKT als eines von vielen psychiatrischen Behandlungsverfahren betrachten, die in manchen Situationen wirksamer ist als andere.“