Ob eine eiweißreiche Ernährung mit Nierenschäden in Verbindung steht, wird kontrovers diskutiert. Wir wissen überraschend wenig darüber – und ignorieren möglicherweise einen uralten, natürlichen Regulator des Körpers.
Wir wissen sehr wenig über die gesundheitlichen Effekte einer proteinreichen Kost, obwohl Eiweiß bei normalgewichtigen Erwachsenen mit etwa 20 % den größten Teil der Körpermasse ausmacht. Proteine gelten als die vielfältigsten Biomoleküle, die wir kennen. Sie nehmen zahlreiche Schlüsselfunktionen im Körper wahr. So dienen sie unter anderem als Enzyme, Hormone, Antikörper, Gerinnungsfaktoren, Transport- und Signalmoleküle, Rezeptoren, Ionenkanäle sowie als Strukturelemente von Muskeln, Knochen, Zähnen, Haut und Haaren.
Sie sind darüber hinaus die wichtigste Stickstoffquelle des Körpers. Täglich werden etwa 150–300 g Protein umgesetzt. Ein großer Teil davon wird recycelt: Der Körper baut ständig Proteine zu Aminosäuren ab und kombiniert sie mit den über die Nahrung aufgenommenen Aminosäuren zu neuen Eiweißmolekülen. Überschüssiges Protein wird über die Nieren in Form von Harnstoff ausgeschieden. Nur im Notfall werden Proteine als Substrat zur Energieversorgung herangezogen.
Neun von zwanzig proteinogenen Aminosäuren sind essenziell, müssen also mit der Nahrung aufgenommen werden. Die Qualität von Nahrungseiweiß wird als Indexzahl zwischen 4 (z. B. Kopfsalat) und 135 (z. B. Hühnerei plus Kartoffeln) angegeben. Diese biologische Wertigkeit gibt Auskunft darüber, wieviel Gramm körpereigenes Eiweiß aus 100 g Nahrungsprotein gebildet werden können. Aus historischen Gründen gilt das Protein von Hühnereiern als Referenzwert. Aus 10 g Ei-Eiweiß kann der Körper annähernd 10 g körpereigenes Eiweiß bilden. Die geschickte Kombination verschiedener pflanzlicher Nahrungsmittel deckt den täglichen Eiweißbedarf aber ebenso gut wie tierisches Eiweiß.
Pflanzliche Nahrung liefert darüber hinaus zahlreiche weitere nützliche Nährstoffe und Bestandteile wie Ballaststoffe, Antioxidantien und sekundäre Pflanzenstoffe. Zu den eiweißreichsten pflanzlichen Lebensmitteln zählen Hülsenfrüchte, Nüsse, Samen und Kerne, Getreide, Pseudogetreide, Kartoffeln, Avocados, Wurzelgemüse, Knollengewächse und Sprossen. Wichtige tierische Eiweißquellen sind Fleisch, Geflügel, Fisch, Meeresfrüchte, Eier und Milch.
In der Überprüfung und Weiterentwicklung der Ernährungsempfehlungen orientiert sich die DGE am wissenschaftlichen Konzept der evidenzbasierten Medizin (EbM). Bisher erschienen sind Leitlinien zur Kohlenhydrat- (2011) und Fettzufuhr (2015). Die aktuelle Protein-Leitlinie behandelt die Frage, welche Beziehung zwischen Qualität und Quantität von Nahrungsproteinen und den medizinischen Endpunkten kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Krebs, Muskel-, Knochen- und Nierengesundheit, Blutdruck sowie Körpergewichtsstabilität in der Allgemeinbevölkerung besteht. Dazu veröffentlicht die DGE seit Mai 2023 sukzessive einzelne Manuskripte, die am Ende zu einer Gesamtempfehlung zusammengefasst werden sollen. In der aktuellen Veröffentlichung untersuchte eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern verschiedener Fachdisziplinen, inwieweit Veränderungen in der Proteinzufuhr die Nierenfunktion gesunder Erwachsener beeinflusst.
Bereits in den 1920er Jahren empfahl eine Kommission des Völkerbundes die tägliche Aufnahme von 1 g Protein pro kg Köpergewicht. Auf Basis von Stoffwechselstudien, Stickstoffbilanz-Analysen sowie klinischen Beobachtungen haben internationale Gesundheits- und Ernährungsorganisationen, darunter die WHO, das US-amerikanische Institute of Medicine (IOM) sowie die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die Zufuhrempfehlung mittlerweile leicht reduziert.
Der aktuelle Referenzwert der DGE für gesunde Erwachsene zwischen 19 und 65 Jahren liegt bei 0,8 g Eiweiß pro kg Körpergewicht. Ein physiologischer Bedarf besteht strenggenommen nicht für Protein, sondern für die neun unentbehrlichen Aminosäuren sowie für das Element Stickstoff. Für eine 50-jährige Frau mit einem Gewicht von 60 kg liegt der tägliche Proteinbedarf demzufolge bei 48 g. Für einen Mann im selben Alter mit 80 kg Körpergewicht sind es bereits 64 g. Für Kinder und Senioren, Leistungssportler, Frauen während der Schwangerschaft und Stillzeit sowie für Patienten mit vorbestehenden Nierenerkrankungen werden entsprechende Anpassungen vorgenommen. Wie die Daten der Nationalen Verzehrstudie II zeigen, werden die Empfehlungen zur Proteinaufnahme von den meisten deutschen Erwachsenen jedoch überschritten. Männer nehmen im Mittel 85 g pro Tag, Frauen 64 g zu sich, was vor allem auf den erhöhten Konsum von Milchprodukten zurückgeführt wird. Bezogen auf die Energiezufuhr entspricht das etwa 13–15 % der täglichen Kalorienaufnahme.
Um die verfügbare Evidenz zu den Auswirkungen einer langfristig erhöhten proteinreichen Ernährung auf die Nierenfunktion gesunder Erwachsener zusammenzufassen und zu bewerten, wurden die drei großen wissenschaftlichen Datenbanken PubMed, Embase und Cochrane nach systematischen Übersichtsarbeiten randomisierter kontrollierter Studien (RCTs) und prospektiven Kohortenstudien, die zwischen 02/2008 und 12/2022 erschienen sind, durchsucht.
Die analysierten harten Endpunkte waren das Auftreten einer chronischen Nierenerkrankung sowie die Bildung von Nierensteinen. Darüber hinaus wurden die Surrogat-Parameter glomeruläre Filtrationsrate (GFR), die Konzentrationen von Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin im Serum sowie die Albumin- und Kalziumausscheidung im Urin und der pH-Wert des Urins zur Beurteilung der Nierenfunktion herangezogen. Zur Bewertung der methodischen Qualität und der ergebnisspezifischen Evidenzsicherheit wurde eine modifizierte Version von AMSTAR 2 bzw. das NutriGrade-Scoring-Tool verwendet.
Nach Überprüfung aller vorab festgelegten Ein- und Ausschlusskriterien konnten insgesamt neun Übersichtsarbeiten in die Analyse eingeschlossen werden. Sechs davon beinhalteten eine begleitende Meta-Analyse, wovon drei ausschließlich auf randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) basierten und drei auf Kohortenstudien. Sieben Übersichtsarbeiten untersuchten die Auswirkungen der Proteinaufnahme auf die Entwicklung von Nierenerkrankungen sowie ausgewählte Funktions- und Laborparameter, zwei Reviews mit Meta-Analyse untersuchten den Effekt von Nahrungsprotein auf die Bildung von Nierensteinen. Lediglich eine Übersichtsarbeit fokussierte auch auf mögliche Unterschiede zwischen der Aufnahme von tierischem und pflanzlichem Eiweiß und der Nierengesundheit.
Die Teilnehmer waren in der Regel gesund, männlich oder weiblich und mindestens 18 Jahre alt. Probanden mit einer vorbestehenden Nierenfunktionsstörung waren von der Analyse ausgeschlossen. Einige der Primärstudien schlossen allerdings Teilnehmer mit kardiometabolischen Risikofaktoren (Übergewicht, Adipositas, Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, Typ-2-Diabetes) oder moderaten körperlichen Funktionseinschränkungen ein.
Die Interventionsdauer der Primärstudien variierte zwischen 4 Tagen und 24 Monaten für RCTs und 6 bis 26 Jahren für die Kohortenstudien. Die Proteinaufnahme reichte von 1 bis 3,3 g pro kg Körpergewicht und Tag (proteinreiche Gruppen) gegenüber 0,3 bis 2,6 g/kg KG/d (Kontrollgruppen) bzw. von 12,5 bis 40 Energieprozent (proteinreiche Gruppen) gegenüber 5,4 bis 24 Energieprozent (Kontrollgruppen) oder von 123 bis 150 g Protein pro Tag (proteinreiche Gruppen) im Vergleich zu 46 bis 75 g/d (Kontrollgruppen) für alle eingeschlossenen RCTs, die den Zusammenhang zwischen Proteinaufnahme und den präspezifizierten Endpunkten untersuchten. Für die Proteinzufuhr der Kohortenstudien lagen keine exakten Informationen zum Proteinverzehr vor.
Die methodische Qualität der Übersichtsarbeiten nach AMSTAR 2 wurde für drei Übersichtsarbeiten als „hoch“, für fünf als „moderat“ und für eine als „niedrig“ angegeben. Bei keinem der Reviews wurde sie als „sehr niedrig“ eingestuft. Die ergebnisspezifische Vertrauenswürdigkeit der Evidenz gemäß des NutriGrade-Scores variierte je nach Endpunkt zwischen „sehr niedrig“, „niedrig“ und „moderat“. Für keinen der Endpunkte wurde die Bewertung „sehr hoch“ vergeben.
Insgesamt ergab sich für keinen der untersuchten Endpunkte eine zwingende Verschlechterung der Nierenfunktion als Folge einer erhöhten Proteinzufuhr. Das gilt sowohl für das Auftreten von Nierenerkrankungen als auch für die Bildung von Nierensteinen sowie für die beobachteten moderaten Veränderungen bei den Labor- und Nierenfunktionsparametern. Es bleibt daher weiterhin unklar, ob eine langfristig hohe Proteinzufuhr die Nierengesundheit ungünstig beeinflusst. Eine hohe Proteinzufuhr ist zwar wahrscheinlich mit einer erhöhten Calciumausscheidung im Urin, einem Risikofaktor für die Bildung von Calciumsteinen, verbunden. Allerdings zeigt die Gesamtevidenz keinen unabweisbaren Zusammenhang zwischen der Proteinzufuhr und dem Risiko für die Bildung von Nierensteinen.
Die beobachteten moderaten Veränderungen scheinen bei den meisten Laborwerten und Nierenfunktionsparametern nur vorübergehender Natur zu sein und sind vermutlich Ausdruck einer normalen physiologischen Anpassungsreaktion. Sie werden durch eine erhöhte Proteinzufuhr bei normalem Nierenfunktionszustand induziert und von der Arbeitsgruppe nicht als pathometabolische Veränderungen eingestuft. Das gilt auch für den beobachteten GFR-Abfall sowie für die Zunahme der Albuminurie.
Die überwiegende Mehrzahl der eingeschlossenen Primärstudien waren von eher kurzer Dauer, so dass das Langzeitrisiko eines erhöhten Proteinverzehrs nicht abschließend eingeschätzt werden kann. Um herauszufinden, ob die Albuminausscheidung tatsächlich nicht dauerhaft ansteigt und die glomeruläre Filtrationsrate nicht kontinuierlich sinkt, wenn die Proteinzufuhr die aktuellen Empfehlungen von 0,8 g/kg KG/d über einen Zeitraum von Jahrzehnten übersteigt, sind weitere kontrollierte Studien unerlässlich. Die vorliegenden Daten reichen nicht aus, um eine maximal verträgliche Höchstmenge für Eiweiß zu bestimmen. Dennoch sieht die EFSA bereits heute schon eine Zufuhr in doppelter Höhe des derzeitigen Referenzwertes für Erwachsene als sicher an.
Es konnten keine spezifischen Aussagen zur Relevanz von tierischem gegenüber pflanzlichem oder Milchprotein im Hinblick auf die Nierengesundheit getroffen werden, insbesondere aufgrund einer unzureichenden Anzahl entsprechender spezifischer Datenanalysen. Alles in allem scheint eine proteinreiche Kost der Niere gesunder Erwachsener offenbar nicht zu schaden. Weder Nierensteine noch andere Nierenerkrankungen treten bei einem über den Empfehlungen liegenden Proteinkonsum häufiger auf. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Niere sich physiologisch an die erhöhte Proteinzufuhr anpasst.
Der Umbrella-Review ist durch ein erhebliches Maß an Heterogenität der zugrunde liegenden 408 Primärstudien geprägt. So variierten die Interventionsdauern bzw. Beobachtungzeiträume, Art und Umfang der Proteinzufuhr, die Studienpopulationen, die Studiendesigns sowie die Anzahl der analysierten Endpunkte und deren Erhebung beträchtlich. Hinzu kommt, dass wichtige Studien, die nicht in den systematischen Übersichtsarbeiten enthalten waren, sowie Publikationen in anderen Sprachen als Englisch und Deutsch unberücksichtigt bleiben mussten. Nicht zuletzt fehlen Dosis-Wirkungs-Analysen zur besseren Beurteilung der Ergebnisse.
Vielleicht hat die Evolution die Frage nach der optimalen Eiweißmenge für unsere Gesundheit ja bereits beantwortet. Dafür sprechen Untersuchungen von Stephen J. Simpson und David Raubenheimer. Sie gingen bereits Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts der Frage nach, wie Lebewesen in der freien Natur den optimalen Nährstoffmix finden, obwohl sie keine Zutatenlisten und Kalorienangaben kennen und ihnen niemand sagt, was gesund für sie ist. Dazu servierten die beiden Biologen Heuschrecken im Labor Mahlzeiten in 25 unterschiedlichen Nährstoffmischungen und exakt abgemessenen Mengen. Diese enthielten in erster Linie viel oder wenig Protein. Bei dem aufwendigen Experiment durften die Insekten so viel fressen, wie sie konnten. Die Forscher fanden heraus, dass der Anteil des Proteins bestimmte, wie groß die verzehrte Portion war. Erst wenn die Insekten eine gewisse Menge an Eiweiß intus hatten, hörten sie auf, zu fressen.
Bekamen die Sechsbeiner wenig Protein in ihrer Mixtur und dafür mehr Kohlenhydrate und Fett, fraßen sie größere Mengen. Weil der Eiweißgehalt so gering war, mussten die Tiere mehr von der Mischung fressen, um ihren Proteinbedarf zu stillen. Und dabei nahmen sie deutlich mehr Kohlenhydrate und Fette auf. War das Verhältnis umgekehrt, fraßen sie deutlich weniger von der Futtermischung. Heuschrecken ließen sich von dem Proteinanteil des Futters leiten.
Die beiden Forscher überprüften ihre Entdeckung im Weiteren an Käfern, Spinnen, Mäusen, Katzen, Hunden und Affen. Sie fanden heraus, dass das instinktive Verlangen nach Protein bzw. essenziellen Aminosäuren das Verhalten all dieser Tiere beim Fressen bestimmt. Sie hatten damit ein universelles Prinzip der Appetitregulation gefunden. Sie vermuteten, dass es sich dabei um ein uraltes, fundamentales Regelwerk der Evolution handeln musste. Auch beim Menschen wirkt das so genannte Protein-Prinzip, was zahlreiche Studien belegen. Darunter auch eine im November 2022 veröffentlichte Studie, die die Ernährung von rund 10.000 Australiern beleuchtete.
Auf der Basis ihrer Untersuchungen kommen die Forscher zu dem Schluss, dass etwa 15 Energieprozent unseres Essens aus Eiweiß bestehen sollte. Bei einer Ernährung, die vorwiegend aus frischen, unverarbeiteten Zutaten und natürlichen Lebensmitteln besteht, kann somit das Kalorienzählen entfallen. Die natürlichen Regulationssysteme übernehmen bei dieser Ernährungsweise die intuitive Kontrolle des Appetits. Industriell stark verarbeitete Nahrungsmittel dagegen sind aus Kostengründen meist arm an Proteinen. Geschmacksverstärker bewirken jedoch, dass auch proteinarme aber energiedichte Fertigprodukte einen fleischigen und herzhaften Geschmack („umami“) entfalten. Gegen diese „Hyper-Schmackhaftigkeit“ hat der Mensch kaum eine Chance. Er isst so lange, bis er satt an Eiweiß ist und nimmt dabei massenhaft leere Kalorien in Form von Zucker, Maissirup, modifizierter Stärke, gehärteten Fetten sowie große Mengen an Salz (Natrium) und Lebensmittelzusatzstoffen auf.
Die mittel- und langfristigen Folgen sind Übergewicht und Adipositas. Es spricht also viel dafür, dass nicht der Gesamtproteinverzehr als solcher, sondern vielmehr der zunehmende Konsum von industriell stark verarbeiteten Fertigprodukten die Nierengesundheit beeinträchtigt. Dafür sprechen auch zwei Studien, die ebenfalls erst kürzlich publiziert wurden (hier und hier). Die Ernährungsempfehlungen zum Nierenschutz gesunder Erwachsener lassen sich somit auf eine einfache Faustformel herunterbrechen, die leicht zu vermitteln ist: „Essen Sie ballaststoffreiche Mischkost, frisch zubereitet, aus Zutaten, die nicht industriell vorverarbeitet wurden.“
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