In den letzten Jahren sind Pflegefachkräfte mehr und mehr aus der Vollzeit in die Teilzeit und zur Leiharbeit geflüchtet. Spoiler: Das liegt nicht nur am Geld – und auch ihr Ärzte könntet was tun.
Fachkräftemangel – wie ein Menetekel geistert dieses Wort durch die Gesundheitsbranche. Pflegeheime, Kliniken und ambulante Tagespflegeeinrichtungen suchen händeringend nach Pflegefachkräften. Ausbildungsplätze bleiben reihenweise unbesetzt. Die Folgen sind gravierend: Alles beginnt mit einer höheren Arbeitsbelastung für Pflegekräfte, was zu mehr Arbeitsausfällen durch physische und psychische Erkrankungen führt. Die Belastung für Fachkräfte vor Ort steigt, was zu mehr Krankmeldungen führt. Es ist ein Teufelskreis.
Träger wiederum spüren wirtschaftliche Folgen, wenn Pflegeplätze und Betten gestrichen oder gesperrt werden. Für manche Einrichtungen bedeutet der Mangel an Fachkräften in Kombination mit steigenden Kosten für Medizin- und Hygienebedarf sowie Energie sogar das Aus. Erste privatwirtschaftliche Träger von Pflegeheimen haben bereits Insolvenz angemeldet. Umso dringender wird die Frage: Was lässt sich gegen diesen Trend unternehmen?
Eine aktuelle Review vom Institut für Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen zeigt Wege auf, wie sich die vorhandenen Potenziale der Mitarbeiter besser ausschöpfen lassen. Die Ergebnisse überraschen; und sie mögen nicht allen Vorgesetzten oder Trägern gefallen.
Die Sozialwissenschaftlerinnen Julia Lenzen, Denise Becka und Michaela Evans vom IAT haben Ergebnisse von Befragungen ausgewertet. Die Interviews richteten sich an Teilzeitkräfte in der Pflege, die mitunter in einem Leiharbeitsverhältnis standen. Denn, so konnten die Wissenschaftlerinnen für Nordrhein-Westfalen zeigen, in den vergangenen Jahren „flohen“ immer mehr beruflich Pflegende in Teilzeitbeschäftigungen und/oder in die Leiharbeit.
Die Studie „Ich pflege wieder, wenn …“ bestand aus einer Online-Befragung unter ausgestiegenen Pflegekräften sowie Teilzeitpflegekräften der Langzeit- und Krankenpflege in Deutschland. Daten wurden zwischen dem 16. August und dem 25. Oktober 2021 erhoben. Aus insgesamt 12.684 Rückmeldungen fokussierten sich die Sozialwissenschaftlerinnen nur auf die Fälle aus NRW, nämlich 785 Personen. Diese Teilzeitpflegekräfte seien durchschnittlich 43,78 Jahre alt und überwiegend weiblich (86,37 Prozent). 91,21 Prozent hatten eine dreijährige abgeschlossene Berufsausbildung mit Examen oder einen höheren Abschluss in der Pflege. 3,57 Prozent davon standen in einem Leiharbeitsverhältnis, und die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit betrug rund 26 Stunden pro Woche.
Zwar ist die Umfrage nicht repräsentativ. Dennoch konnten die Forscherinnen eine Top-10-Liste der Bedingungen ableiten, unter denen Pflegende in Teilzeit ihre Arbeitsstundenzahl wieder signifikant erhöhen würden. Immerhin gaben 23 Prozent an, dass sie unter geänderten Voraussetzungen sehr wahrscheinlich wieder mehr arbeiten würden – der Wunsch wäre da.
Besonders überraschend ist, dass es nicht primär um finanzielle Anreize geht, die helfen, vorhandene Potenziale auszuschöpfen. An Platz eins der Top-10-Gründe stand mit 98,3 Prozent vielmehr ein fairer Umgang unter Kollegen.
In Kombination mit weiteren Daten kommen die Wissenschaftlerinnen zum Schluss, dass Vorgesetzte Fachkräfte binden und ihr Potenzial ausschöpfen könnten, wenn diese Bedingungen grundsätzlich umgesetzt würden. Als zentrale Themen rund um den Arbeitsplatz nennen die IAT-Mitarbeiterinnen so unter anderem:
Konzentriere man sich aus der Perspektive der Arbeitgeber darauf, die Bedingungen in der Pflege für Beschäftigte in dieser Hinsicht zu verändern, könne man ein durchaus großes, bereits vorhandenes Potenzial aktivieren, schreiben die Forscherinnen. Sie haben errechnet, dass allein in NRW das sogenannte „nominale Pflegekräftepotenzial in der Kranken- und Langzeitpflege“ zwischen 20.517 bis 41.039 Vollzeitäquivalenten liegt.
Zwar seien damit Bemühungen um mehr Auszubildende, Quereinsteiger sowie Fachkräfte aus dem Ausland nicht obsolet, heißt es in der Studie. Aber schon mit Änderungen der Arbeitsgestaltung und der Führungskultur ließe sich bereits ein großer Gewinn für den Pflegesektor erzielen – für alle Beteiligten, wohlbemerkt.
Die Wissenschaftlerinnen regen an, diese Aspekte auch bei gesundheitspolitischen Strukturreformen zu berücksichtigen: „Das Personal folgt nicht automatisch der Leistung, sondern eben auch individuellen Erwartungen, Interessen und Präferenzen“, kommentieren sie in ihrer Studie.
Lenzen, J., Becka, D. & Evans, M.: Präferenzordnungen von beruflich Pflegenden in NRW. Impulse für Strategien zur Fachkräftesicherung. Forschung Aktuell, 2023 (08). Gelsenkirchen: Institut Arbeit und Technik, Westfälische Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen. https://doi.org/10.53190/fa/202308.
Auffenberg, J., Becka, D., Evans, M., Kokott, N., Schleicher, S. & Braun, E.; „Ich pflege wieder, wenn …“. Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften. Bremen: Arbeitnehmerkammer Bremen. https://doi.org/10.26092/elib/1683.
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