Die Corona-Pandemie will keiner aufarbeiten? Die Hausärzte schon. Beim DEGAM-Kongress gab es Lob, aber es regnete auch ordentlich Kritik.
Der Beginn war schnippisch: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach habe die Pandemie für Deutschland im Frühjahr 2023 für beendet erklärt, sagte Prof. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM): „Andere Länder waren da etwas schneller.“ Anders als die Bundesregierung, die sich der von einigen Seiten geforderten Einsetzung einer Enquête-Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie widersetzt, will die DEGAM ihren Anteil leisten. Deswegen hat sie bei ihrer Jahrestagung in Berlin jetzt ein Positionspapier vorgelegt, das zehn „Lessons Learned“ aus Sicht der hausärztlichen Versorgung auflistet.
Diskutiert wurden die Pandemielektionen in Berlin auf einem spannend zusammengesetzten Pressepodium, auf dem für die DEGAM neben Scherer noch DEGAM-Vizepräsidentin und STIKO-Mitglied Prof. Eva Hummers aus Göttingen saß. Außerdem saßen im Podium noch der Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit aus Hamburg und – in einer Doppelrolle als Arzt und Bundestagsabgeordneter – Johannes Wagner von Bündnis 90/Die Grünen. Wer nur Unverbindlichkeiten erwartet hatte, wurde zumindest bei einigen Punkten eines Besseren belehrt.
Weitgehendes Versagen wurde beim Thema Pandemieprävention konstatiert. Risikoanalysen und Pandemiepläne gab es, aber sie entfalteten keine Wirkung: „Die theoretischen Dinge lagen in den Schubladen des RKI. Die Umsetzung in die Realität hat nicht geklappt. Das wollen wir besser machen“, so Wagner, der insofern leicht reden hat, als dass er dem Deutschen Bundestag erst seit 2021 angehört.
Deutliche Kritik geäußert wurde an der Art und Weise, wie in Deutschland Experten in die Politikberatung einbezogen wurden. Ein interdisziplinäres Expertengremium kam spät und dessen Entscheidungen bleiben teilweise bis heute intransparent. Protokolle, die existieren, müssen freigeklagt werden, ein ziemlich unwürdiges Schauspiel für eine Demokratie. Alternativlosigkeit wollte Schmidt-Chanasit hier nicht gelten lassen: „Andere Länder haben gezeigt, dass es gut gelingen kann, alle an einen Tisch zu holen.“
Transparenz und Interdisziplinarität seien auch deswegen so wichtig, weil nur so Vertrauen in der Bevölkerung entstehe. „Ohne Mitarbeit der Bevölkerung kann man in einer solchen Situation nicht bestehen“, so der Virologe. Er möchte das Thema Transparenz auch auf finanzielle Interessenkonflikte ausgeweitet sehen: „Wir waren nicht so transparent wie nötig.“ Würden Studien mit Unterstützung von Impfstoffherstellern durchgeführt, dann müsse das beispielsweise glasklar kommuniziert werden, schon um Verschwörungstheorien vorzubeugen.
Eines der Probleme beim Thema Experteneinbindung in Deutschland war die starke Politisierung von Expertise. Das RKI, so zeigte sich, war als dem Bundesministerium für Gesundheit nachgeordnete Behörde nicht unabhängig genug, um ein interdisziplinäres Expertengremium orchestrieren zu können. Die Einbeziehung der Leopoldina war eher eine Notlösung. Die Erkenntnis, dass es in Deutschland institutionelle Defizite gibt, hat dazu geführt, dass ein Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit Eingang in den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition gefunden hat.
Das ist jetzt zwei Jahre her. Als einziger Politiker auf dem Podium musste Wagner zu diesem politisch brisanten Thema Stellung nehmen, und er tat es. Ab Oktober gebe es jetzt mit dem ehemaligen Kölner Gesundheitsamt-Chef Johannes Nießen einen Bevollmächtigten, der das neue Bundesinstitut aufbauen soll: „Es geht voran.“ Auf die Nachfrage, ob dieses neue Institut dann auch eine Art Pandemie-Expertengremium im „Standby-Modus“ erhalten solle, damit Experten bei künftigen Pandemien eben nicht mehr intransparent zusammengeklüngelt werden müssen, gab es seitens Wagner zumindest kein klares Nein. Wann es denn so weit sei mit den Plänen für das „BIÖG“, wurde noch gefragt: „Zeitnah. Sehr zeitnah.“
Überhaupt Gremien. Darum ging es in einigen der kritischsten Passagen der Podiumsdiskussion. Das Vorpreschen des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn im Sommer 2021 in Sachen Kinderimpfung, das analoge Vorpreschen seines Nachfolgers Karl Lauterbach ein Jahr später im Hinblick auf die Empfehlung eines zweiten Boosters für unter 60-jährige, das Darstellen der STIKO als ein ältlicher, langsamer Amateurverein, all das kam gar nicht gut an bei den Allgemeinmedizinern.
„Das betrifft nicht nur die STIKO, sondern auch das IQWiG in Köln. Das Vertrauen in diese Institutionen wurde aktiv geschwächt. Das ist nicht gut in so einer Krisensituation, wo es auf Vertrauen in die Versorgung und ihre Institutionen ankommt“, so Scherer. Evidenz müsse systematisch aufbereitet werden, und das geschehe am besten in den entsprechenden Gremien: „Es war oft wichtiger, wer eine Einzelstudie hochgehalten hat, als was in der jeweiligen Studie stand. Es reicht nicht, wenn ein Promi in einer Talkshow erklärt, er habe dieses oder jenes Paper gelesen. Das generiert nicht Evidenz.“
Evidenz ist natürlich nicht nur ein Gremienthema, sondern auch ein Medien- und Öffentlichkeitsthema. Die Öffentlichkeit, so Scherer, höre zu sehr auf einzelne Experten: „Die eminenzbasierte Medizin ist in der Bevölkerung noch ganz tief verankert. Wir brauchen einen kulturellen Wandel dahingehend, dass Leitlinien Handlungsgrundlage sein müssen.“ Dass es dazu mehr und schnellerer Leitlinienarbeit bedürfe, darüber herrschte Einigkeit. Dass die Finanzierung dieser bisher weit überwiegend ehrenamtlichen Arbeit ungeklärt ist, ist kein Geheimnis.
Ein paar ganz konkrete Kinnhaken an die Politik gab es dann auch noch. Die Allgemein- und Familienmediziner inklusive Kinderärzte waren jene Ärzte, die die Impfkampagne ganz wesentlich gestemmt haben. Und sie waren es auch, die die Folgen der Schulschließungen – abgesehen von den Familien selbst – am unmittelbarsten erlebten. Eva Hummers wurde hier sehr deutlich: „Die Schulschließungen waren am Anfang nachvollziehbar. Schule ist eine Massenveranstaltung. Aber wir wussten auch sehr früh, dass es das nicht wirklich gebracht hat.“ Das, so Hummers, hätte man in Deutschland – wie andere Länder es getan haben – evidenzbasiert in laufender Pandemie ändern können. Stattdessen wurde ein zweiter Schullockdown begonnen und dann auch noch endlos in die Länge gezogen.
Das zweite konkrete Thema, das Hummers und den Hausärzten auf den Nägeln brennt, sind die COVID-Impfungen. Anders als einige Kollegen hält die Allgemeinmedizinerin die Impfzentren rückblickend für im Prinzip richtig. Deutlich effizienter hätte die Impfkampagne aber sein können, wenn parallel die hausärztlichen Strukturen genutzt worden wären, statt Hausärzte aus der Versorgung abzuziehen, um sie in Zentren impfen zu lassen.
Ein anderes Thema sind die Beschaffungsverträge, die Staaten damals nach dem Wer-zahlt-am-meisten-Prinzip mit den Impfstoffherstellern abgeschlossen hatten. Diese Verträge verhindern heute noch, dass Impfstoffhersteller COVID-Impfungen für die anstehende Auffrischungs-Kampagne in Einzeldosen ausliefern, obwohl das problemlos möglich wäre. Wagners Lektion daraus: „Wir brauchen Pandemieverträge auf WHO-Ebene.“ Solidarität, so der Bundestagsabgeordnete, müsse so organisiert werden, dass es nicht zu einem Wettbewerb der Gesundheitsminister komme, der die Preise nach oben treibe und sonstige Vertragsbedingungen diktiere.
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