Hausärzte sind oft die erste Anlaufstelle für psychiatrische Patienten. Auf dem DEGAM-Kongress zeigt sich: Ohne Vernetzung und Weiterbildung trauen sie sich eine Diagnose nicht zu. 6 brandneue Studien im Schnelldurchlauf.
Der Seminarraum zum Thema Psychische Erkrankungen füllte sich sehr schnell. Auch nach Beginn der Vorträge suchten Zuhörer noch Plätze und standen schließlich reihenweise im Gang. So ärgerlich das für die Vortragenden war, zeigte es eindrücklich das große Interesse der Hausärzte. Sechs Arbeitsgruppen stellten ihre aktuellen Forschungsarbeiten und Promotionsprojekte vor: von der Diagnose über den Umgang mit suizidalen Patienten bis hin zu ADHS-Screenings. Einig sind sich die Allgemeinmediziner darin, dass sie sich mehr Austausch mit der Psychotherapie wünschen – und (wenig überraschend) mehr Zeit für psychiatrische Patienten. Hier unser Überblick für euch.
Laut der Studie von Hannah Tebartz van Elst et al. kommen mehrere Faktoren zusammen, wenn es um das Stellen einer psychiatrischen Diagnose im hausärztlichen Kontext geht. Diagnosestellung und Daten zur Prävalenz beeinflussen sich gegenseitig, dabei sei tatsächlich wenig über die Prävalenz von psychiatrischen Erkrankungen im primärärztlichen Bereich bekannt. Die Ausbildung, Erfahrung und die persönliche Einstellung eines Arztes wirke sich auf die Diagnosestellung aus. Unter den im Rahmen von insgesamt 26 Interviews gesammelten Zitaten stachen zwei besonders heraus: „Ich brauche es, um bestimmte Medikamente verschreiben zu dürfen, weil ich ja einfach eine Indikation brauche“, meint ein Allgemeinmediziner. Ein anderer gab an: „Also wenn ich denke, es verpasst kein Mitbehandler was, wenn ich nichts zum psychischen Befund schreibe, dann spar ich mir das.“
Die Analyse der Interviews ergab drei Kategorien.
Allgemeimediziner stellten häufiger eine Diagnose, um Arbeitsunfähigkeiten zu bescheinigen, während mehr Psychiater eine Erkrankung diagnostizierten, um medikamentöse Therapien zu ermöglichen. Die Autoren stellen zur Diskussion, dass somit nur ein Teil der psychiatrischen Diagnosevergabe objektiv erfolge. Da es sich nach wie vor um einen stigmatisierten Bereich handelt, ist Fingerspitzengefühl gefragt. Bei der Interpretation von Patientendaten und Prävalenzen seien diese Faktoren der Diagnosestellung unbedingt zu berücksichtigen.
Die Arbeitsgruppen um Puya Younesi und Constantin Brand beschäftigen sich beide mit dem Thema Suizidprävention. In der Studie von Younesi et al. ging es um niedrigschwellige und schnelle Interventionen in der Hausarztpraxis. Denn bei der Gefahr eines Suizids rennt die Zeit – genau diese fehlt bekannterweise im hausärztlichen Setting oft. Im Rahmen einer systematischen Literaturrecherche analysierten die Autoren mögliche Kurzinterventionen bei Suizidalität und Depression. Dabei fiel auf: Nur wenige geeignete Interventionen sind bisher wissenschaftlich fundiert untersucht. Angesichts langer Wartezeiten für Therapieplätze sollte hier unbedingt nachgearbeitet werden, da von positiven Effekten dieser Art der Intervention auszugehen sei und Patienten so kurzfristig, beispielsweise im Rahmen von Telefonaten mit dem Praxisteam, aufgefangen werden könnten. Maßstab müsse die Leistbarkeit in der deutschen Hausarztpraxis sein; mit Chronic-Care-Programmen, wie es sie z. B. in den USA gebe, seien diese Interventionen allerdings nicht zu vergleichen.
Brand et al. ermittelten Hindernisse und erleichternde Faktoren im Umgang mit suizidalen Patienten in der Hausarztpraxis. Den Hausärzten komme angesichts steigender Fallzahlen eine besondere Rolle zu, denn häufig suchen Suizidale vor dem Tod ihren Hausarzt auf. Allerdings sprechen die wenigsten Patienten aus eigenem Antrieb über ihr Vorhaben; Hausärzte sollten hier aktiv werden. Das setze wiederum voraus, dass sie im Umgang mit suizidalen Menschen geschult sind und sich sicher fühlen – denn die Situation kann für alle Beteiligten sehr belastend sein. Viele der in der Studie befragten Ärzte wünschten sich mehr Zeit, Anlaufstellen oder Lotsen, an die sie die Patienten übergeben können und Möglichkeiten zum praktischen Üben, z. B. mit Schauspielern oder anhand von Lehrfilmen. Einige Allgemeinmediziner fühlten sich recht sicher und gaben an, eine Art Textdatei im Kopf zu haben, die sie in solchen Fällen abarbeiten. Andere räumten ein, das Thema eher nicht anzusprechen, besonders nicht bei jüngeren Patienten, um „kein Fass aufzumachen“. Die Autoren planen, mit den Ergebnissen ihrer Arbeit einen Gesprächsleitfaden zu erstellen, der Hausärzte unterstützen und den Umgang mit dem Thema Suizid erleichtern soll.
Die Prävalenz des adulten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) sei unklar, von etwa 3 % ist in Deutschland auszugehen – allerdings seien im klinischen Setting 70 % der Diagnosen im Erwachsenenalter Erstdiagnosen, ermittelten Johanna Ganzenmüller et al. in ihrer Arbeit. Sie verglichen Screening-Tools für ADHS und berücksichtigten neben der Validität auch die Machbarkeit in der Hausarztpraxis. Am besten schnitt der ASRS-6 ab, auch WURS-25, CAARS-S und TRAQ10 seien anwendbar. Die Tools seien gute Mittel, um ausführlichere Tests einzuleiten und für Patienten einen Termin beim Psychiater zu bekommen. Aber auch um eben kein ADHS festzustellen, seien die Screenings hilfreich.
Die Studie führte zu regen Diskussionen im Plenum. Eine Hausärztin berichtet, Patienten kämen häufig mit eigens gestellter ADHS-Diagnose in ihre Praxis – Selbsttests im Internet sei Dank. „Ich hab die Tests auch gemacht und hab eindeutig ADHS“, kommentierte sie die Verlässlichkeit dieser Tests. Man müsse sich darauf einstellen, dass so etwas häufiger werde. Ein anderer Allgemeinmediziner ergänzte: „Ich glaube, Psychiater mögen diese Diagnose nicht“, das Thema Modediagnose wurde kurz diskutiert. Man war sich dennnoch einig: Es handelt sich bei den Betroffenen oft um interessante Patienten, jung, kreativ und lebhaft. Im Erwachsenenalter lasse sich viel durch Organisation ausgleichen, doch die Impulsivität, ein fester Teil der Symptomatik, führe oft dazu, dass Patienten ihr Berufsleben vor die Wand fahren.
Die beiden abschließenden Studien nahmen das Thema interdisziplinäre Zusammenarbeit genauer unter die Lupe. Marisa Sperrfechter et al. ordneten die Bedeutung des Psychotherapie ein: Jeder zehnte Deutsche nimmt psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Doch bei der Abstimmung zwischen Hausarzt und Psychotherapeut hakt es oft. In ihrer Studie fanden sie sogar Hinweise darauf, dass die psychiatrische Berichtspflicht im untersuchten Gebiet teilweise nicht eingehalten werde. Die erhobenen Interviews mit Hausärzten bestätigen das: „Das ist mir eigentlich noch nie passiert, dass ich irgendwie nochmal zwischendurch Rückmeldung bekommen habe“, fasst ein Arzt zusammen. Zwar sei das gewünschte Spektrum der Kommunikation – von „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“ bis „alle Aspekte sind relevant“ – sehr breit, insgesamt wünschen sich aber alle mehr Vernetzung, denn der Bedarf ist groß. Eine Ärztin aus dem Publikum warf ein, dass sie das Problem umgehe, indem sie den Patienten einfach direkt frage, was er gerade in der Therapie mache. Das sei zwar eine Möglichkeit, stimmte Sperrfechter zu; allerdings finde so auch kein direkter fachlicher Austausch statt.
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (SMI) gemeinsam versorgen – damit beschäftigte sich die Arbeitsgruppe um Olaf Reddemann et al. in ihrer Studie. Patienten mit SMI haben oft eine verkürzte Lebenserwartung, nicht nur wegen des erhöhten Suizidrisikos, sondern auch wegen schwerer Komorbiditäten. Die damit eingeschränkte körperliche und psychische Gesundheit erschwere wiederum den Zugang zu Hilfsangeboten; ein Teufelskreis.
Wie die Versorgung Betroffener verbessert werden kann, untersuchten Reddemann und seine Gruppe unter anderem anhand von Interviews mit Psychiatern und Hausärzten. Einige der vorgestellten Zitate sorgten für Raunen im Publikum, darunter „Die sind oft nicht wartezimmertauglich“ (Psychiater) und „Oft sprengen sie die Sprechstunde“ (Hausarzt). Interessanterweise nehmen Hausärzte und Psychiater sich gleichermaßen als einzige und verantwortliche Anlaufstelle wahr: „Die Patienten sind oft einsam und es gibt sonst niemanden, der sich kümmert.“ Einigkeit besteht auch in den Wünschen, beide Berufsgruppen wollen mehr gegenseitige Offenheit, den direkten Draht zueinander, mehr Austausch und bessere Arzneimittelpläne – denn gerade im psychiatrischen Setting seien oft komplexe Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Das sei in aktuellen Richtlinien nicht abgedeckt, kritisiert der Vortragende. Doch es gab auch Gegenwind aus dem Plenum: „Ich bin nicht einverstanden mit viel von dem, was Psychiater tun, z. B. der ungehemmte Einsatz von Antidepressiva. Da habe ich Hemmungen in der Zusammenarbeit“, kommentierte ein Arzt – und erntete zustimmendes Klopfen. Da funkte bei allen gegenteiligen Studien zum Abschluss einmal kurz die Arbeitsrealität dazwischen.
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