Ob zu schwach, versteift oder entzündet – die Welt der Myopathien ist groß. Welche ihr auf dem Schirm haben solltet und was Muskelzellen aus der Petrischale damit zu tun haben, lest ihr hier.
Hand aufs Herz: Wie fit seid ihr bei diesem Thema? Jedem fallen spontan einige Begriffe wie Duchenne-Hinken, Myasthenie und vielleicht noch weitere ein. Doch die Kenntnisse aus dem Studium liegen bereits länger zurück und sind nicht mehr unbedingt frisch.
Ein Update kann nicht schaden, zumal es eine bahnbrechende wissenschaftliche Entwicklung gibt: 2022 konnten Forscher der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) Skelettmuskeln im Labor herstellen. Sie erzeugten künstlich aus Stammzellen von Menschen mit Muskelerkrankungen, gewonnen durch Hautbiopsie oder Blutentnahme, induzierte pluripotente Stammzellen, aus denen in der Laborkulturschale erkrankte Muskeln entstehen. An ihnen können Krankheiten erforscht und Medikamente entwickelt und erprobt werden. Dadurch wird die Anzahl von Tierversuchen reduziert. Es können auch Versuche zur gezielten Muskelheilung und zum Muskelaufbau, z. B. nach Verletzungen, durchgeführt werden.
Der fachliche Oberbegriff für Muskelerkrankungen lautet Myopathie. Betroffen sind in der Regel quergestreifte Skelettmuskeln. Hauptsymptom ist eine progrediente Muskelschwäche mit Verlust von Muskelsubstanz. Hochrechnungen gehen davon aus, dass es in Deutschland etwa 500.000 Erkrankte gibt. In der ICD-10 findet man eine Einteilung der Krankheiten im Bereich der neuromuskulären Synapse und des Muskels in G70 Myasthenia gravis (Myasthenie) und sonstige neuromuskuläre Krankheiten, G71 primäre Myopathien, G72 sonstige Myopathien und G73 Krankheiten bei andernorts klassifizierten Krankheiten.
Die Myasthenie ist eine Autoimmunerkrankung. Bei den meisten Betroffenen (Frauen zu Männer 3:1) findet man zu 85 % Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor (anti-AChR-AK) im Serum. Sie werden in der Thymusdrüse gebildet und führen zu einer Muskelschwäche, die typischerweise im Tagesverlauf und bei Belastung zunimmt. Betroffen sind häufig die Augenmuskeln mit schweren Oberlidern (Ptose) und Sehen von Doppelbildern. Es können auch Störungen beim Sprechen und Schlucken auftreten und/oder eine rasche Ermüdung von Muskeln des Schultergürtels, der Oberarme, des Beckens und der Oberschenkel. Die betroffenen Muskeln erholen sich in Ruhe, die Lähmungen verschlechtern sich bei Stress und fieberhaften Infekten.
Der erste diagnostische Schritt ist, dass Ärzte eine neuromuskuläre Übertragungsstörung überhaupt in Betracht ziehen. Klinische Haltetests von Kopf, Armen und Beinen sowie Bestimmung von Antikörpern und EMG-Messungen sollten als diagnostische Maßnahmen folgen. Eine Vergrößerung der Thymusdrüse kann durch ein CT mit Kontrastmittel des vorderen oberen Thorax erkannt werden. Myasthenie ist nicht heil-, aber gut behandelbar. Zur Standardtherapie gehören Acetylcholinesterasehemmer wie Pyrostigmin und Kortikosteroide wie Prednisolon. Weitere Therapiemöglichkeiten sind monoklonale Antikörper, Plasmapherese, Immunglobuline und die Thymektomie.
In der Gruppe der primären Myopathien finden sich die genetisch vererbten progressiven Muskeldystrophien. Eine häufige Form ist die X-chromosomal rezessiv vererbte Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Ein Genfehler auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms fungiert wie ein Stopp-Zeichen und bewirkt eine hochgradig verminderte bzw. fehlende Produktion des Strukturproteins Dystrophin, das Bestandteil der Muskelfasermembran Sarkolemm ist und Aktinfilamente bindet und mit der Zellmembran vernetzt. Frauen erkranken nur, wenn sie zwei X-Chromosomen mit dem Gendefekt besitzen, was äußerst selten auftritt. Das Vorhandensein eines gesunden X-Chromosoms führt nicht zum Krankheitsausbruch. Männer erhalten ihr defektes X-Chromosom in der Regel von gesunden Frauen, die als Überträgerinnen oder Konduktorinnen bezeichnet werden. Das fehlerhafte X-Chromosom kann nicht durch ein fehlerfreies Y-Chromosom korrigiert werden, so dass es praktisch ausschließlich männliche Patienten gibt.
Meist werden im Alter zwischen 3 und 5 Jahren die ersten Symptome beobachtet. Muskelschwäche am Becken und den Oberschenkeln führt zu einem hinkenden Gangbild, das als Duchenne-Hinken bezeichnet wird. Die Krankheit verläuft progredient, so dass die jungen Männer im zweiten Lebensjahrzehnt nur noch mit einem Rollstuhl mobil sind. Im dritten Lebensjahrzehnt treten meist Probleme mit der Atmung oder der Herzfunktion auf, so dass ihre Lebenserwartung ohne Behandlung reduziert ist. Eine symptomatische Behandlung mit Kortison ist in der Regel effektiv und erhöht die Lebenserwartung. Seit 2014 ist in der EU als kausale Therapie der Arzneistoff Ataluren zugelassen, der bis 2018 ab einem Alter von 5 Jahren und seitdem ab einem Alter von 2 Jahren oral verabreicht werden darf. Durch Ataluren wird das falsche Stopp-Zeichen auf dem X-Chromosom überlesen, so dass in den Muskelzellen Dystrophin gebildet werden kann.
Andere primäre Myopathien sind autosomal dominant oder rezessiv vererbte Muskeldystrophien. Es gibt sowohl weibliche als auch männliche Erkrankte. Meist liegen unterschiedliche Gendefekte vor, die sich negativ auf die Muskelproteinbildung auswirken. Differenziert werden Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp und eine fazioskapulohumerale Muskeldystrophie. Erste Symptome treten als Muskelschwäche rumpfnah im Becken- oder Schultergürtelbereich auf. Aktuelle Medikamentenstudien sind erfolgversprechend.
Myotone Dystrophien werden ebenfalls autosomal dominant vererbt. Charakteristisch ist eine Muskelsteifigkeit schwacher Muskeln, die sich nach Kontraktion nur verzögert entspannen. Bei der myotonen Dystrophie Typ 1 sind überwiegend Gesichts-, Hals-, Unterarm- und Unterschenkelmuskeln betroffen, oft besteht eine vermehrte Tagesmüdigkeit. Die myotone Dystrophie Typ 2 tritt eher proximal am Rumpf auf, betrifft auch die Augen (Katarakt) und kann zu hormonellen Störungen wie Diabetes mellitus führen.
Metabolische Myopathien sind selten und gehören ebenfalls zu den primären Myopathien. Je nach Stoffwechselstörung unterscheidet man elf Muskelglykogenosen, Lipidspeichererkrankungen und Mitochondriopathien. Ihr Krankheitsverlauf kann unterschiedlich schwer sein. Bei der Glykogenose Typ 2 – auch als Morbus Pompe bezeichnet und mit 15 % die häufigste Form – schwächen sich nicht nur Becken- und Rumpfmuskeln, sondern zusätzlich die Atemmuskeln ab. Diese Patienten haben einen Mangel an saurer α-Glucosidase. Sie können mit einer Enzymersatztherapie (Infusion alle 14 Tage) dauerhaft behandelt werden. Der Glykogenose Typ 5- oder McArdle-Erkrankung liegt ein Mangel an Muskelglykogenphosphorylase zugrunde, durch die die Glykogenolyse katalysiert wird. Dadurch treten belastungsabhängige Muskelschmerzen und Muskelsteifigkeit auf, Muskelfasern können untergehen (Rhabdomyolyse) und bei der Hälfte der Patienten die Nieren bis hin zum Nierenversagen schädigen. Therapeutisch hilfreich sind die Einnahme von Saccharose vor Muskelbelastungen und kontrolliertes Ausdauertraining.
Bei den seltenen und autosomal rezessiv vererbten Lipidspeichermyopathien akkumulieren Lipidtropfen im Muskelzytoplasma, verursacht durch einen Carnitin- oder Carnitin-Palmityl-Transferase-Mangel. Dadurch können langkettige Fettsäuren nicht mittels β-Oxidation abgebaut werden. Symptome sind eine generalisierte Muskelschwäche, eine progressive dilatative oder hypertrophische Kardiomyopathie sowie häufige Hypoglykämien. Als Therapie werden eine kohlenhydratreiche und eiweiß- und fettarme Diät sowie die Einnahme von L-Carnitin und Riboflavin empfohlen.
Bei mitochondrialen Myopathien ist die Bereitstellung des Energieträgers ATP gestört. Deshalb ermüdet die aktive Muskulatur rasch und schmerzt. Unterschiedliche Gendefekte führen zu vielseitigen Symptomen. Ihre Prävalenz wird auf 10–15 Fälle pro 100.000 Einwohner geschätzt. Diagnostische Sicherheit wird durch eine Muskelbiopsie erreicht. Eine der Krankheitsformen ist der primäre Coenzym-Q10-Mangel, der auf fünf der 16 Genen manifestiert ist, die die komplexe Biosynthese des Coenzym Q10 steuern. Ihre Behandlung liegt in der Supplementierung von Coenzym Q10, das auch als Ubichinon bekannt ist.
Sekundäre oder erworbene Muskelkrankheiten haben als endokrine Myopathien ihre Ursache in hormonellen Störungen oder sind Myositiden mit entzündlichen Infiltrationen der Skelettmuskulatur.
Die häufigste endokrine Myopathie ist die Steroid-Myopathie im Rahmen eines Cushing-Syndroms, bei der eine Dysfunktion der Nebennierenrinde besteht. Schwäche und Atrophie der Muskulatur sind schmerzlos und betreffen meist den Beckengürtel und die Oberschenkel. Ärzte sollten die Steroiddosis so niedrig wie möglich einstellen und Patienten zu Ausdauertraining und körperlicher Aktivität motivieren.
Myopathien bei Schilddrüsendysfunktion treten sowohl bei Hyper- als auch bei Hypothyreose auf. Über 60 % der hyperthyreoten Patienten weisen eine Schwäche der proximalen Muskulatur bei nur geringer Atrophie auf, während hypothyreote Patienten häufig über Schmerzen, Schwäche, Steifheit und Krämpfe in ihren Muskeln klagen und sowohl Muskelkontraktionen als auch ihre Entspannung verlangsamt sind. Die Symptome schwächen sich durch eine euthyreote Stoffwechsellage ab.
Myopathien können sich auch bei Dysfunktionen der Hypophyse bei Akromegalie und bei Hypophyseninsuffizienz entwickeln, oder bei Dysfunktionen der Nebenschilddrüse. Charakteristisch sind bei einem Hyperparathyreoidismus proximale Muskelschwächen, Atrophien und lebhafte Muskeleigenreflexe. Mit Normalisierung der Parathormonwerte sind die Symptome rückläufig. Hypoparathyreoidismus führt zu einer Hypokalzämie, die häufig eine Tetanie mit perioralen und distalen Parästhesien zur Folge hat und diffuse Muskelkrämpfe auslösen kann. Kontrolliert und normalisiert werden sollten die Serumspiegel von Kalzium, Magnesium und Vitamin D.
Immunogene entzündliche Muskelerkrankungen sind mit etwa fünf Neuerkrankungen auf eine Million Einwohner pro Jahr sehr selten. Häufigste Formen sind die Dermatomyositis (DM), die Polymyositis (PM) und die sogenannte sporadische Einschlusskörpermyositis (sIBM). Diese Myositiden lassen sich durch Bestimmung der Muskelenzyme im Serum, Elektromyografie und Muskelbiopsie differenzieren und diagnostizieren. Ihre Pathogenese ist nicht genau bekannt, die Auswirkungen sind vielfältig und können auch innere Organe einschließen. Therapeutisch werden Kortikosteroide als nicht-spezifische Immunsuppressiva eingesetzt.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen die erregerbedingten Myositiden, deren Muskelentzündungen durch Bakterien, Parasiten, Pilze oder Viren im Rahmen einer direkten Infektion hervorgerufen werden oder immun- bzw. toxinvermittelt sind. Direkte Infektionen im Rahmen einer Operation, Muskelverletzung oder Ischämie sind meist lokal begrenzt. Häufigster Erreger bakterieller Muskelinfektionen ist Staphylococcus aureus, bei Infektion mit einem Pilz häufig der Befall mit Candida. Diagnostik und Therapie variieren je nach dem Auslöser einer erregerbedingten Myositis.
Oft führt das klinische Bild zur Diagnose, unterstützt durch Laborbefunde (Blutbild, Entzündungswerte, Abstrich) und ggf. Bildgebung. Daran schließt sich eine gezielte Therapie an, bei bakteriellen Infektionen ggf. mit einem Antibiotikum oder einer Kombination mehrerer Antibiotika, die möglichst mittels Antibiogramm bestimmt wurden. Virusbedingte Myositiden heilen in der Regel von selbst aus. In einigen Fällen lokal begrenzter Muskelinfektionen ist eine chirurgische Sanierung sinnvoll bzw. notwendig.
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