Der Tod einer roh-veganen Influencerin ging durch die Medien. „Diese Ernährungsform kann man eigentlich nicht überleben“, sagen Experten. Wie gefährlich ist der wachsende Einfluss von Food-Influencern?
Social Media und Essstörungen gehören mittlerweile untrennbar zusammen. Egal ob Anorexie, Bulimie oder Orthorexie – auf Instagram, TikTok und YouTube findet jeder die für sich passende Essstörung und das jeweilige Influencer-Vorbild gleich mit dazu. Erst kürzlich ging der offenbar durch ihre extreme Diät mitverursachte Tod der russischen Influencerin Zhanna Samsonova durch die Schlagzeilen. Aber dieser Fall wird vermutlich nicht der letzte bleiben, denn viele Influencer teilen ihren vermeintlich gesunden Lifestyle und Gesundheitstipps rund ums Essen mit ihren Followern – mit teilweise fatalen Folgen.
„Wie wir bereits in anderen Bereichen gesehen haben (DocCheck berichtete), ist das Teilen von vermeintlichen Gesundheitstipps über soziale Medien nicht ungefährlich“, erklärt Psychotherapeut Dr. Ahmed El-Kordi im Gespräch mit DocCheck. Überwiegend würden Jugendliche und junge Erwachsene, die generell schon anfällig für Essstörungen oder einen dysfunktionalen Umgang mit ihrem Körper seien, negativ beeinflusst. „Dabei können sich sozialpsychologische Vergleichsprozesse auf die sich noch entwickelnde Identität negativ auswirken.“
Samsonova ernährte sich die letzten vier Jahre ihres Lebens von veganer Rohkost. Die sogenannte Raw Vegan Diet besteht aus rohem Obst, Gemüse, Nüssen, Samen und Sprossen. Wer sich so ernährt, rutscht quasi zwangsläufig in eine Mangelernährung. Bei einem vergleichsweise niedrigen Gewicht und geringen Körperfettanteil, mangelt es vielen Rohveganern an essenziellen Makro- und Mikronährstoffen. „Jede restriktive Ernährung, die große Lebensmittelgruppen komplett ausschließt, birgt erhöhte Unterversorgungsrisiken“, erklärt Ernährungsexperte Dr. Stefan Graf im Gespräch mit DocCheck. „Bei der roh-veganen Philosophie werden die bei veganer Ernährung durch fachkundige Lebensmittelkombination und gezielte Supplementierung handhabbaren Mangelrisiken […] potenziert.“
Die unterschiedliche Gewichtung von Obst, Gemüse, Nüssen und Samen spielen dabei eine ebenso große Rolle, wie die gewählte Kochmethode. So erhitzen einige Rohveganer ihre Speisen auf bis zu 42 °C, andere verzichten auf jegliche Garung. „Der Wegfall der keimtötenden Hitzewirkung ist ein zusätzliches Risiko, das der Verzicht auf jedwede Speisenerhitzung auf hohe Temperaturen mit sich bringt“, sagt Graf.
Neben Mangelrisiken für Proteine, Vitamin B12, Vitamin B6, Folsäure, Kalzium sowie ungünstig niedrigen HDL-Cholesterinwerte, sieht Graf in einer solchen Ernährung allerdings auch Probleme für anorektische Menschen. „Das Abgleiten in eine Anorexie sowie umgekehrt die Instrumentalisierung der roh-veganen Ernährung von bereits anorektisch Erkrankten ist ein weiteres Gefahrenmoment. Amenorrhoe und eine verringerte Knochenmasse sind für untergewichtige roh-vegan lebenden Frauen in Studien beschrieben.“
Samsonova hielt sich religiös an ihre roh-vegane Diät und schränkte die bereits extrem restriktive Ernährungsform noch weiter ein, indem sie sogar auf das Trinken von Wasser verzichtete – eine Ernährungsweise, die für jeden gesunden Menschen völlig absurd erscheint. Dennoch hatte die russische Influencerin ein breites Publikum und viele Bewunderer, die ihr täglich auf ihrem Instagram-Kanal beim Essen zusahen. Neben Rezepten gab es dort schön angerichtete Teller, ästhetische Essensfotos und bunte Smoothie-Bilder zu sehen. Außerdem wurden jede Menge Gründe genannt, warum diese extreme Ernährung nicht nur idiologisch, sondern auch medizinisch absolut klasse wäre – weswegen andere Menschen sich ein Bespiel nehmen sollten. Aber die Realität ist eine ganz andere.
„Auch wenn mir die Dosisweisheit von Paracelsus mittlerweile zu inflationär herausposaunt wird, trifft sie natürlich auf die Lebensmittelauswahl und Nährstoffgewichtung zu“, sagt Graf. „Selbst das gesündeste Lebensmittel verliert bei Maßlosigkeit und fehlender Kombination mit anderen Nährstoffträgern viel von seinem Wert.“
Samsonova verstarb am 21. Juli 2023. Die Mutter der roh-veganen Influencerin nennt gegenüber einigen News-Outlets eine Cholera-ähnliche Infektion, die der geschwächte Körper der 39-Jähren nicht mehr verkraften konnte, als vermeintliche Todesursache. „Diese Ernährungsform kann man eigentlich nicht überleben. Dass sie überhaupt so lange mit einer so einseitigen Ernährung leben konnte, wundert mich“, erklärt Ernährungsexpertin Angelika Kirchmaier. Samsonova ist aber nicht die einzige Influencerin, um deren Gesundheit sich die Öffentlichkeit seit Jahren sorgt.
Ein YouTube-Sternchen, das seit mittlerweile über 10 Jahren immer wieder mit seinem Gewicht Aufmerksamkeit erregt, ist Eugenia Cooney. Bereits 2016 lief eine kontroverse Petition, die YouTuberin solle von der Plattform verbannt werden, 2021 eine weitere. Die Gründe: Ihre Videos und vor allem ihr Aussehen seien ein schlechtes Vorbild für junge Mädchen. Cooney sei ein großes Vorbild in der Pro-Ana-Community (Pro Anorexia), sie gelte als sogenannte Thinspiration (thin = engl. dünn, inspiration = engl. inspiration). Cooney war wohl die erste, wirklich bekannte Influencerin, die wegen ihres niedrigen Gewichtes immer wieder im Gespräch war.
Die heute 28-Jährige betreibt einen erfolgreichen YouTube-Kanal mit über zwei Millionen Abonnenten und veranstaltet Livestreams auf Twitch. Anders als Samsonova befasst sich Cooney nicht mit Essenscontent, sondern widmet sich Fashion, Gaming und Make-Up. Fragen und Spekulationen um ihr Gewicht und eine (nicht offiziell diagnostizierte) Essstörung sind jedoch ihre stetigen Begleiter, denn wenn Cooney ihren Followern die neueste Mode zeigt, dann mit sehr viel Haut und Knochen. Spekulationen um Cooneys Gesundheitszustand setzten dabei auch der Influencerin selbst zu, die scheinbar immer mehr Gewicht verliert. Fans bangen um ihr Leben.
„Die Überlebenschancen [bei Anorexia nervosa] hängen von einem multifaktoriellen Geschehen ab. Es sind einerseits die bereits vorliegenden personalen und biologisch-genetischen Risikofaktoren, aber auch die konstitutionelle Ausgestaltung, die Reagibilität der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse – und neuerdings auch die genetische und epigenetische Ausstattung vom Mikrobiom“, erklärt El-Kordi.
Zuschauer und Fans machen sich besonders wegen Cooneys Alter sorgen. Unter medizinischen Laien heißt es oft, 30 Jahre sei eine magische Grenze, die viele stark anorektische Menschen nicht erreichen würden. Eine generelle Pauschalisierung, ab welchem Alter die Krankheit besonders gefährlich wäre, sei laut El-Kordi allerdings schwierig. Dies hänge von vielen Faktoren, wie Ersterkrankungsalter, Chronizität der Erkrankung sowie eventuellen komorbiden Störungen, ab. „Bei Anorexia nervosa muss man zudem beachten, dass ein präpubertäres Ersterkrankungsalter sowohl hormonelle als auch neurokognitiv-strukturelle negative Auswirkungen auf die weitere Entwicklung hat.“
Unter dem Deckmantel der Essstörung-Recovery finden sich auch Influencer, die ihren beschwerlichen Weg aus einer Essstörung zurück ins normale Leben dokumentieren. Was wie eine gute Idee und vor allem Inspiration für ebenfalls betroffene Menschen klingt, kippt allerdings schnell ins komplette Gegenteil. So bewegen sich Influencer von einer Essstörung in die nächste – oft, ohne es selbst wahrzunehmen.
Liz Seibert, Model und Influencerin, erholt sich laut eigener Aussagen aktuell von Anorexie. Wirft man allerdings einen Blick darauf, wie diese Recovery aussieht, merkt selbst ein Laie schnell: Gesund ist das mit Sicherheit nicht. Seibert nimmt (ebenfalls laut eigener Angaben) täglich 32 Supplemente ein. Alle davon morgens, zeitgleich – ihr Ernährungsberater hätte das so empfohlen. „32 Supplemente einzunehmen, hat mit ausgewogener Ernährung nichts zu tun“, sagt Graf. „Neben Wechselwirkungen zwischen einzelnen Mikronährstoffen müssen besonders Menschen, die Medikamente einnehmen, vor dem unkontrollierten NEM-Konsum gewarnt werden. Es gibt eine ganze Wechselwirkungsliste von Supplementen, die die Resorption und damit Wirkungsentfaltung verschiedener Medikamente verringern oder auch erhöhen.“
Neben den Supplementen wäre dann natürlich noch Seiberts Hauptthema: die Ernährung. Seibert schwört auf eine High-Fat-Diät – überwiegend bestehend aus unpasteurisierten Milchprodukten, die mit ganz eigenen Problemen daherkommen. „Rohmilch kann […] auch Salmonellen, Campylobacter jejuni, Brucellen und enterohämorrhagische Escherichia-coli-Stämme (EHEC) enthalten“, sagt Graf.
Seiberts tägliche Essensplanung sieht ungefähr so aus:
Seibert sei eigener Angaben nach allerdings so gesund wie nie zuvor – trotz massiv erhöhter Cholesterinwerte, die bekanntermaßen das Risiko für Gefäßablagerungen und damit für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen (Tageszufuhr rund 10-mal höher, als die American Heart Association empfiehlt). Die Ernährung sei aber nicht der einzige wichtige Cholesterin-Faktor, so Graf. „Bei Gesunden werden etwa 70 % des im Blut gemessenen Cholesterins von Leber und Darmschleimhaut synthetisiert. Bei höherer Cholesterinaufnahme mit der Nahrung wird die Eigenproduktion herunterreguliert.“ Entgleisungen des Cholesterinspiegels seien in erster Linie genetisch angelegte Stoffwechselstörungen, die dann durch cholesterinreiches Essen und anderen Lebensstilfaktoren (Rauchen, viel Alkohol, Bewegungsarmut) verstärkt werden.
Neben den Cholesterin-Werten machen sich Seiberts Zuseher aber auch Sorgen um die massiven Mengen an gesättigten Fettsäuren, die Seibert täglich zu sich nimmt. Graf ordnet diese Bedenken so ein: „Was die gesättigten Fettsäuren aus Fleisch und Milchprodukten anbelangt, haben Metaanalysen neueren Datums die gefäßschädigende Wirkung sehr infrage gestellt“, so Graf. „Eine 2020 publizierte, in Deutschland wohl im Corona-Taumel untergegangene Meta-Analyse zeigt, dass es keine belastbare Evidenz für den Nutzen einer Reduktion gesättigter Nahrungsfette im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen und die Gesamtsterblichkeit gibt.“ Auch sei der Zusammenhang zwischen dem Verzehr gesättigter Fettsäuren und dem Anstieg des LDL-Cholesterinspiegels noch nicht abschließend geklärt. „Die Autoren kommen zu dem meines Erachtens wichtigen Schluss, dass gesättigte Fette nicht separat, sondern nur im Kontext der gesamten Makronährstoffkombination beurteilt werden können.“
Anzurechnen ist der Influencerin dabei allerdings, dass sie ihre Ernährung nicht – wie viele ihrer Kollegen – als die eine richtige Art für alle zu verkaufen versucht. Sie weist darauf hin, dass sie versucht, zuzunehmen, mit Ernährungsberatern zusammenarbeitet und dass sie bei dieser Diät ärztlich betreut wird; über die Qualität der Beratung weiß man hingegen nichts. „Auch in Therapiephasen, in den die Gewichtszunahme im Vordergrund steht, sollte es nicht um bloßes Kalorienfassen gehen“, sagt Graf. „Ein gleichermaßen genussvolles wie insgesamt ausgewogenes, aber undogmatisches Ernährungsverhalten, das nicht den Lebensinhalt der Betroffenen ausmachen darf, gilt es, wieder zu erlernen.“ Mittlerweile scheint Seibert auch deutlich weniger Supplemente zu sich zu nehmen.
Ist man also einmal in das Rabbit Hole der extremen Diäten auf Social Media gefallen, kommt man so schnell nicht mehr raus. Von Frutarismus bis zu reinen Fleischdiäten ist absolut alles dabei. Besteht der Content nun aus der Ernährung selbst oder dem Lifestyle der Influencer – ihre Körper stehen so gut wie immer im Fokus. Was macht das mit jungen und essgestörten Menschen, die durch den Algorithmus vieler sozialer Medien weitere Inhalte dieser Art regelrecht aufgezwungen bekommen, sobald sie einmal länger auf einem Video verharren?
Graf sieht das Ganze kritisch: „Grundsätzlich finde ich es problematisch, wenn Influencer ihre wie auch immer gearteten Extrem-Philosophien ihren möglicherweise auch zum Teil essgestörten Followern als Empfehlung verkaufen. Die Individualität der Ernährung und große Bedeutung der persönlichen Lebensweise (körperliche Aktivität, Gesundheitszustand, Veranlagung, Bekömmlichkeit, Geschmack) werden vollkommen ausgeblendet.“ Graf findet es wünschenswert, diese Ernährungsweisen mit medizinischen und wissenschaftlichen Fakten zu widerlegen. „Nur bewegen sich wenige Experten in solchen Social-Media-Blasen und wenn doch, haben sie wenig Einfluss.“
Dieser Meinung schließt sich auch El-Kordi an: „Risiken sehe ich in der unreflektierten Umsetzung von Laienempfehlungen, ohne wissenschaftlich fundierte Grundlage. Viele Influencer – wenn nicht die meisten – haben keine klinische, medizinische, psychologische oder welche auch immer Grundausbildung und berichten über hochsubjektive Erlebnisse und Meinungen. Es mag sein, dass bei ihnen diese Diätempfehlungen helfen (bei was auch immer). Diese unreflektiert umzusetzen oder sogar noch seine Hoffnung darauf zu legen, finde ich höchst kritisch.“
El-Kordi geht sogar noch einen Schritt weiter. Er wünscht sich eine Regulierung solcher Inhalte. „Wenn man berücksichtigt, welche Wirkmacht und welchen Wirkungsradius soziale Medien haben und wie ungefiltert und unreflektiert deren Inhalte von jungen Menschen konsumiert werden […], gehört zur Etablierung einer zukünftig krisenfesten Gesellschaft eine Regulierung von potenziell schädigenden Medieninhalten, die ihren Einfluss auf die Lebensführung, psychische Verfassung und mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entfalten.“ Graf hingegen appelliert, Social Media auch einfach mal Social Media sein zu lassen: „Meines Erachtens sollte man die Tragweite des Influencertums auch nicht überbewerten. Letztlich spielt sich das doch in der Social-Media-Blase von Instagram, TikTok etc. ab, in der sich eine zwar lautstarke, aber auf die Gesamtbevölkerung gerechnet sehr überschaubarer Kohorte bewegt. Für die meist jungen ‚Opfer‘ kann das natürlich gravierende Folgen haben. Aufklärungsarbeit in Elternhaus und Schule ist da sicher geboten – inwieweit wirksam, vermag ich nicht zu beurteilen.“
Abraham K, Trefflich I, Gauch F, Weikert C. Nutritional Intake and Biomarker Status in Strict Raw Food Eaters. Nutrients. 2022 Apr 21;14(9):1725. doi: 10.3390/nu14091725.
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