Wird das Long-Covid-Risiko unnötig aufgebauscht? Epidemiologen üben harte Kritik an der Studienlage. Was deutsche Experten dazu sagen, lest ihr hier.
Was die postakuten Corona-Beschwerden angeht, tappen wir immer noch weitestgehend im Dunkeln. Die Tatsache, dass schon tausende Paper zum Thema erschienen sind, mag darüber hinwegtäuschen, dass es sich keineswegs um ein verstandenes Krankheitsbild handelt. Das leuchtet ein, wenn man sich vor Augen hält, dass es COVID-19 vor 4 Jahren noch gar nicht gab.
Die Probleme fangen schon bei den Begrifflichkeiten an, die nach wie vor von Experten und Laien gleichermaßen durcheinandergeworfen werden. Die postakuten Covid-Symptome werden mittlerweile in der Regel unterteilt in Long Covid, also Beschwerden in den ersten drei Monate nach der Infektion, und Post Covid (post-acute sequelae of COVID-19; PASC), was die langanhaltenden Beschwerden jenseits der Dreimonatsmarke beschreibt. Noch mehr Kopfzerbrechen bereitet Forschern die tatsächliche Zahl der Erkrankten, die mit dem Problem der Definition Hand in Hand gehen. Die Angaben schwanken von Paper zu Paper; Zahlen von 3 % bis über 30 % der SARS-CoV-2-Infizierten geistern herum, je nachdem, wie man Long Covid oder Post Covid definiert. Wie hoch die Zahl tatsächlich ist, weiß daher niemand so recht.
US-Epidemiologen wollen mit ihrer Veröffentlichung jetzt auf das Problem aufmerksam machen – und sorgten mit ihrer Analyse, die in BMJ Evidence-Based Medicine veröffentlicht wurde, für Aufsehen. Den Forschern zufolge wird das Risiko von Langzeitfolgen nach einer SARS-CoV-2-Infektion „stark überschätzt“. Das liege vor allem daran, dass viele wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Häufigkeit von Long und Post Covid methodische Schwächen aufwiesen. Was genau bemängeln die Autoren – und was sagen andere Long-Covid-Experten?
Ein besonderes Problem besteht laut der Autoren darin, dass schlecht durchgeführte Studien in Überblicksarbeiten und Meta-Analysen einfließen – was in der Öffentlichkeit unnötige Besorgnis schürt. Die Forscher kritisieren unter anderem die unklare und weit gefasste Definition. Internationale Gesundheitsorganisationen verlangten nicht einmal einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Corona-Infektion und langanhaltenden Symptomen. Auch die Begriffe finden die Autoren problematisch: Long oder Post Covid suggerieren, dass es sich um einen anhaltenden Zustand handelt, obwohl es Hinweise darauf gibt, dass sich die nach COVID-19 auftretenden Symptome im Laufe der Zeit verbessern – auch wenn einige Symptome länger anhalten können als andere.
Angesichts der breiten Definition von Long Covid sollten Forscher sich dazu verpflichten, die Art und Häufigkeit der gemeldeten Symptome bei infizierten Personen mit denen von nicht-infizierten Personen zu vergleichen, schreiben die Autoren. Oft gab es aber gar keine Kontrollgruppen in den Studien, wie etwa eine systematische Übersichtsarbeit aus dem letzten Jahr zeigt. Darin hatten nur 22 der 194 untersuchten Long-Covid-Studien überhaupt Kontrollgruppen. Würde man sich nur jene Studien mit Kontrollgruppen anschauen, so ergeben sich bis zu 12 Wochen nach einer Infektion bei den meisten Patienten nur geringe bis gar keine Unterschiede in der Häufigkeit von Langzeitsymptomen. Neben fehlenden Kontrollgruppen bemängeln die Epidemiologen auch, dass die Probanden meist nicht nach Alter, Geschlecht und vorherigem Gesundheitszustand abgeglichen worden sind.
Die Epidemiologen liefern auch einige Verbesserungsvorschläge mit. So sollten Forscher klare Definitionen für Langzeitsymptome verwenden und diese nur nach Ausschluss anderer Ursachen diagnostizieren. Außerdem müsse ein Auswahlbias vermieden werden, indem repräsentative Fälle und Kontrollen in Studien einbezogen werden, um die Ergebnisse auf die gesamte Bevölkerung übertragen zu können. Zudem sollte der vorherige Gesundheitszustand der Studienteilnehmer berücksichtigt werden.
Und wie reagieren deutsche Long-Covid-Experten auf die Kritik der Forscher? Prof. Andreas Stallmach, Direktor der Klinik für Innere Medizin IV und Leiter des Long-COVID-Zentrums am Universitätsklinikum Jena, erklärt: „Grundsätzlich halte ich diese Publikation für wichtig, gibt sie doch Denkanstöße.“ Allerdings weist er ebenfalls auf Schwächen in der Analyse hin. Zum Beispiel werfen die Autoren der Veröffentlichung selbst die Begriffe Long Covid und Post Covid durcheinander. Prof. Clara Lehmann, die die Post-Covid-Ambulanz an der Uniklinik Köln leitet, sagt: „Ich stimme den in der BMJ-Analyse beschriebenen Mängeln zu.“ Sie könnten das Krankheitsrisiko verzerren und weitreichende Auswirkungen haben, etwa erhöhte gesellschaftliche Ängste und wachsende Gesundheitsausgaben. Sie betont dennoch, dass das Krankheitsbild ernst genommen werden müsse, „aber dazu gehört eine ehrliche wissenschaftliche Bestimmung des tatsächlichen Krankheitsrisikos.“
Andere ärztliche Kollegen aus dem Vereinigten Königreich äußern sich kritischer zu der Analyse. Jeremy Rossman von der School of Biosciences an der University of Kent etwa sagt: „Leider handelt es sich hierbei um eine fehlerhafte Analyse, die mehr Missverständnisse über Long Covid hervorruft als sie beseitigt.” Er kritisiert, dass die Forscher in ihrer Veröffentlichung selbst keine Untersuchungen durchgeführt hätten und es sich um kein systematisches Review handelt. Stattdessen hätten sich die Autoren auf eine kleine Anzahl von Studien bezogen und sie pauschal auf das gesamte Feld der Long-Covid-Forschung übertragen. Ähnlich sieht das auch Immunologe Prof. Danny Altmann vom Imperial College London: „Diese Arbeit hätte von einer umfassenderen Analyse der umfangreichen Long-Covid-Literatur in Bezug auf Epidemiologie und Mechanismus profitiert.“
Quelle:
Prasad et al.: How methodological pitfalls have created widespread misunderstanding about long COVID. BMJ Evidence-Based Medicine, 2023. doi: 10.1136/bmjebm-2023-112338
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