Spezielle Ionenkanäle machen es möglich: Nervenzellen können mit Licht gezielt an- und abgeschaltet werden. Diese Kanäle wurden nun von Wissenschaftlern verbessert. Komplexe Verhaltensmuster lassen sich dadurch leichter untersuchen als bisher.
Sie sind mehr als 10.000-mal so effektiv wie ihre in der Natur vorkommende Variante: Lichtempfindliche Ionenkanäle, die der Würzburger Pflanzenphysiologe Professor Georg Nagel und der Physiologe Dr. Robert Kittel entwickelt und getestet haben. Diese ermöglichen es, Nervenzellen deutlich leichter als bisher zu stimulieren und reduzieren damit den Aufwand bei einer Vielzahl von Experimenten. Die Wissenschaftler eröffnen damit unter anderem neue Wege bei der Untersuchung komplexer Hirnfunktionen.
„Mit der Hilfe von Ionenkanälen leiten Zellen elektrisch geladene Teilchen durch ihre Zellmembran ins Zellinnere hinein oder in den extrazellulären Raum hinaus. Nervenzellen nutzen diesen Mechanismus beispielsweise für die Signalweiterleitung von Sinnesempfindungen ans Gehirn und zur Steuerung der Muskeln“, erklärt Georg Nagel die Arbeitsweise dieser Zellbausteine. Im Zentrum der Forschung der beiden Wissenschaftler stehen allerdings ganz spezielle Ionenkanäle: sogenannte Kanal- oder Channelrhodopsine. Sie reagieren auf Licht und können deshalb auf vergleichsweise einfache Art und Weise an- und wieder ausgeschaltet werden. Nagel ist einer der Pioniere auf diesem Gebiet, welches inzwischen unter dem Stichwort „Optogenetik“ bekannt ist.
Vor allem ein Forschungsgebiet hat von der Entwicklung der Channelrhodopsine enorm profitiert: die Neurowissenschaften. Das gezielte Ansteuern einzelner Nervenzellen und Nervenzellgruppen ermöglicht tiefe Einblicke in komplexe Hirnfunktionen; die Technik liefert Forschern ein Werkzeug, mit dem sie den kausalen Zusammenhang von Nervenaktivität und Verhalten untersuchen können. „Die Entwicklung lichtempfindlicher Ionenkanäle, die mit Hilfe der Gentechnik gezielt in spezifische Zellen eingebaut werden, hat sich für diese Herausforderung als einzigartige Lösung erwiesen“, sagt Robert Kittel, Leiter einer Emmy-Noether-Gruppe am Physiologischen Institut der Universität Würzburg. Gemeinsam mit seinem Team erforscht er am Beispiel der Fruchtfliege Drosophila melanogaster die molekularen Mechanismen in Nervenzellen und deren Zusammenhang mit bestimmten Verhaltensweisen. Dabei setzt Kittel auch auf lichtempfindliche Ionenkanäle.
Bislang hatten die Wissenschaftler bei ihren Experimenten allerdings ein gravierendes Problem: „Um das Verhalten der Fruchtfliege studieren zu können, müssen sich die Tiere möglichst ungestört und frei bewegen können“, sagt Kittel. Gleichzeitig müssen die Forscher aber dazu in der Lage sein, die Channelrhodopsine in den Nervenzellen mit Lichtimpulsen zu schalten. Bei Fliegenlarven geht das noch vergleichsweise einfach, denn deren Körper ist so gut wie durchsichtig. Schwieriger verhält es sich bei erwachsenen Tieren; bei ihnen vermindert die pigmentierte Körperdecke den Lichteinfall deutlich. Nur mit großem Aufwand konnten die Wissenschaftler diesen Nachteil in ihren Experimenten ausgleichen; trotzdem ließen sich damit nicht alle Probleme ausräumen. „Um in diesen Fällen die Channelrhodopsine zu aktivieren, müssen wir sehr energiereiches Licht verwenden“, so Kittel. Geschieht dies über einen längeren Zeitraum, könne dies bei den Fliegen Hitzeschäden verursachen.
Wie gut die von Nagel entwickelten neuen Ionenkanäle funktionieren, haben Kittel und seine Mitarbeiter in einer Reihe von Experimenten mit Fruchtfliegen untersucht – unter anderem am Beispiel eines komplexen Verhaltens, dem Balzverhalten. „In der Natur zeigen männliche Fruchtfliegen bei der Balz ein charakteristisches Verhaltensmuster, das sich aus einer festen Abfolge verschiedener Aktivitäten zusammensetzt“, erklärt Robert Kittel. Unter anderem „klopfen“ die Männchen zuerst auf den Hinterleib des Weibchens, um es anschließend zu umrunden oder zu verfolgen. Währenddessen breiten sie einen Flügel aus, versetzen ihn in Schwingung und erzeugen so ein ganz spezielles „Liebeslied“. Verantwortlich für dieses Verhalten ist ein Netzwerk von rund 2000 Nervenzellen. Die Fliegenmännchen zeigen dieses Verhalten auch dann, wenn das neuronale Netzwerk, bestückt mit den neu entwickelten Ionenkanälen, durch vergleichsweise schwache Lichtpulse aktiviert wird, so die Würzburger Studie, jedoch mit Veränderungen im Ablauf. „Unsere Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die biophysikalischen Eigenschaften dieser Ionenkanäle die zeitliche Abfolge der einzelnen Bestandteile des Balzverhaltens umkehren“, sagen die Forscher. Nagel und Kittel vermuten, dass dafür die sehr schnelle Aktivierung der entsprechenden Nervenzellen durch den Lichtpuls verantwortlich ist, die nur langsam wieder abgebaut wird.
Ob sich mit Hilfe der neuen Ionenkanäle auch höhere neuronale Funktionen im Experiment erforschen lassen, untersuchten die Wissenschaftler in einer klassischen Lern-Situation in Kollaboration mit Professor André Fiala von der Universität Göttingen. So lassen sich beispielsweise Fluchtfliegen darauf trainieren, verschiedene Gerüche zu erkennen und zu unterscheiden. Dies geschieht klassischerweise so, dass den Tieren jeweils eine Duftnote zusammen mit einer Belohnung präsentiert wird und eine andere in Kombination mit einer Bestrafung. Nach einer Reihe von Wiederholungen hätten die Tiere gelernt, den einen Duft zu vermeiden und den anderen zu suchen. Gleiches gelang Fiala in seinen Experimenten. Dabei setzte er allerdings nicht auf eine konkrete Belohnung oder Bestrafung. Stattdessen aktivierte er bei der Präsentation einer Duftnote mit kurzen Lichtblitzen spezielle Zellen im Nervensystem der Fruchtfliegen – sogenannte dopaminerge Neuronen. „Diese modulierenden Neurone aktivieren im Prozess des assoziativen Lernens die ‚Strafinformationen‘“, erklärt Fiala. Damit sorgen sie dafür, dass die Fliegen lernen, sich von diesem Geruch fernzuhalten. Der „Lernerfolg“ sei dabei genauso gut gewesen wie in vergleichbaren Experimenten, in denen die Fliegen eine reale Bestrafung zu spüren bekamen.
Insgesamt seien sich die Wissenschaftler einig, dass das neue Channelrhodpsin sich vor allem für solche Experimente bestens eignet, in denen ein Maximum an Lichtempfindlichkeit gewünscht ist – beispielsweise wenn Zellen auf optischem Weg nur schlecht anzusprechen sind oder wenn Hitzeschäden drohen. Deshalb eigne sich der Ionenkanal besonders für Experimente, bei denen die Lichtmenge der begrenzende Faktor ist, wie etwa Untersuchungen an Tieren, die sich frei im Raum bewegen. Kittel und Nagel sind überzeugt davon, dass die Eigenschaften dieses „leistungsstarken optogenetischen Werkzeugs“ nicht nur für die gesamte Drosophila-Community von Interesse ist, sondern für alle Biologen, die das Verhalten von sich frei bewegenden Tieren erforschen wollen. Originalpublikation: Channelrhodopsin-2-XXL, a powerful optogenetic tool for low-light applications Alexej Dawydow et al.; PNAS; doi: 10.1073/pnas.1408269111; 2014