Im November vor einigen Jahren verlor ich einen meiner besten Freunde – an eine fiese, fette Depression. Wir stellen uns das Helfen immer so einfach vor, doch das ist es nicht. Und sein Abschiedsbrief lehrte mich etwas Wichtiges.
Jetzt, wo die dunkle Jahreszeit naht und das Wetter wieder grau wird, muss ich öfter an einen November vor einigen Jahren zurückdenken. Genauer gesagt an den 25. November 2008. Mein Posteingang blinkte. Nachdem ich auf „Öffnen“ geklickt hatte, froren mir die Gesichtszüge ein.
Der Absender hatte die Mail verzögert abgesendet und so über asiatische Proxys verlenkt, dass sie für niemanden zurückverfolgbar war. Ihr Urheber blieb seitdem verschwunden. Das war Martin, im Netz Cybo genannt. Und er war nicht nur mein Kumpel. Er war einer meiner besten Freunde mit einer fetten Depression, von der ich trotz meiner medizinischen Ausbildung rein gar nichts bemerkt hatte. Bis zu jenem denkwürdigen Tag hatten wir eine Menge gemeinsam unternommen, die Matrix gehackt mit unseren 2.400-Baud-Zyxelmodems, zusammen Musik komponiert, jahrelang das gleiche Gymnasium besucht und die gleichen Lehrer gehasst.
Die Polizei war längst am Damm. Die kleine SOKO stand im Nebel – wie erwartet, irgendwie. Drei Typen und eine Frau durchsuchten Cybos Wohnung und nahmen zwar den Computer mit, aber die Cops hatten 2009 von IT-Forensik und Festplattenverschlüsselung so viel Ahnung wie ein Esel vom Schachspielen. Cybo blieb fort, und wir waren zur Höchststrafe verurteilt, nämlich: Ihr dürft nicht wissen, was mit ihm passiert ist. Auch nicht, dass das Boot den Hafen längst verlassen hatte.
Mitte 2009. ICQ mit einer Nachricht von Cybos chinesischer Freundin, die er während seines Studienaufenthaltes in der Hauptstadt Chinas kennengelernt hatte: „Hi Chris. I’m Mathilda, Martin’s girlfriend. Martin’s body was found.“
Ich saß noch lange vor meinem Monitor und starrte hinein. Der Abschied ist ein scharfes Schwert und bis heute bleibt ein komisches Gefühl im Bauch, wenn ich an die vielen Begegnungen mit dem 1,90 großen, geheimratbeeckten Typen zurückdenke. Lange Zeit nach Cybos Tod habe ich mich noch immer gefragt, ob ich das Unglück hätte verhindern können, wenn ich etwas schärfer hingesehen hätte, wenn ich mehr nachgefragt, mehr nachgedacht hätte. Aber ich war gefangen in einem Mikrokosmos, dessen winziger Umfang meine Wahrnehmung und meine Sicht eingeengt hat.
Auch heute noch denke ich, mit mehr Wissen, mehr Weitblick und einer guten Portion Lebens- und Berufserfahrung an die Begegnungen mit meinem Freund, aber ich hätte das Unglück nicht verhindern können. Das Einzige, das er manchmal sagte, war: „Ich habe schon wieder so Kopfschmerzen.“ Aber gemeint hatte er damit nichts Körperliches, sondern den Schmerz eines endlosen schwarzen Abgrunds, der all das verschlang, was ihm Freude bereitete.
Was neben den Gedanken an einen besonderen Menschen und die Zeit damals bleibt, ist die Tatsache, dass Cybo mit dem vorletzten Absatz in seiner Mail an mich recht hat. Er schrieb, weder Erfolg sei wichtig, noch Geld, noch Liebe, sondern ausschließlich Gesundheit. Ob er je darüber nachdachte, an jenem 11. November 2008, dass die Lebenszeit unsere einzige Zeit ist, die uns zur Verfügung steht? Ich weiß es nicht, aber was spielt das schon für eine Rolle, wenn man sich ohnehin nicht auf das Schöne im Leben konzentrieren kann?
Mir bleibt nur die Erkenntnis, dass wir keine Macht gegenüber suizidalen Menschen besitzen. Man stellt es sich so einfach vor: Eine kluge Frage hier, ein Blick dort und schon haben wir die Suizidalität unseres Gegenübers aufgedeckt. Wir können demjenigen dann helfen und bald wird alles gut – wenn wir überhaupt merken, was los ist. Aber weit gefehlt.
Den Tag damals habe ich noch so in Erinnerung, als wäre es erst gestern gewesen. Dieser Tag im Februar war ein grauer Sonntag knapp über Null, an dem es nur schneite. Es war ein schrecklicher Tag. Es war der Tag, an dem Cybo starb.
Bildquelle: Atle Mo, Unsplash