Bei der Organspende nicht mehr auf die Gewebeverträglichkeit zu achten und Immunsuppressiva abzusetzen, war bisher mehr Wunsch als Wirklichkeit. Mit neuen Strategien zur Toleranzinduktion könnte die langwierige Suche nach einem passenden Spender ein Ende haben.
Es sind starke Mittel, die es ermöglicht haben, eine Niere, ein Herz oder eine Leber von einem Menschen dauerhaft in einen anderen zu verpflanzen und damit das Leben des Empfängers zu retten. Wirkstoffe wie beispielsweise Ciclosporin unterdrücken das Immunsystem und hindern es daran, seiner Pflicht nachzugehen und alles Fremde aus dem Körper herauszubefördern oder zu zerstören. Seit einiger Zeit möchte man auf die Wirkstoffe nach Möglichkeit ganz oder teilweise verzichten. Lässt sich also das Immunsystem davon überzeugen, ein fremdes Organ als Freund und nicht als unerwünschten Eindringling zu betrachten? Auch wenn sich die bisherigen klinischen Studien auf kleine Patientenzahlen stützen, scheint es, als ließe sich der Körper zur Toleranz gegen fremde Organe erziehen.
Schon seit rund 60 Jahren machen Immunologen die Erfahrung, dass sich bei Mäusen und Ratten eine solche Toleranz leichter erzielen lässt als bei größeren Tieren wie etwa Affen oder gar beim Menschen. Neugeborene Nager besitzen noch kein ausgereiftes Immunsystem und akzeptieren daher Haut oder ein Organtransplantat viel eher. Beim Menschen heißt das Zauberwort „Chimärismus“, das schließlich sogar Organtransplantationen ermöglichen soll, wenn sich die MHC-Allele von Donor und Empfänger deutlich unterscheiden. Um ein solches „gemischtes Immunsystem“ zu generieren, erhält der Empfänger nicht nur das benötigte Organ, sondern auch Knochenmark mit hämatopoetischen Stammzellen vom Spender. Bereits Mitte der neunziger Jahre gelangen die ersten Nierentransplantationen mit vorausgehender allogener Knochenmarktransplantation. In vielen Fällen funktionierten dabei die Nieren einwandfrei ohne Zeichen einer Abstoßungsreaktion, obwohl die Patienten die Immunsuppressiva abgesetzt hatten. Die Inaktivierung des eigenen Immunsystems als Voraussetzung für die Knochenmarktransplantation ist freilich mit starken toxischen Reaktionen verbunden – ein Argument, das gegen den routinemäßigen Einsatz dieser Technik spricht.
Kombinierte Nieren- und Knochenmarktransplantationen führte 1998 Thomas Spitzer vom Massachusetts General Hospital in Boston zwischen Geschwistern durch. Eine Patientin, bei der die Nieren wegen eines Multiplen Myeloms versagten, lebte auch 2011 noch gesund mit dem transplantierten Organ und ohne erneuten Ausbruch des Tumors. 2002 gingen die Ärzte aus Boston noch einen Schritt weiter: Sie transplantierten fünf Nieren bei HLA-divergierenden Spender-Empfänger-Kombinationen. In vier Fällen war die Organverpflanzung erfolgreich und die neue Niere wurde nicht abgestoßen – ohne Immunsuppression. Zumindest bei einem Patienten hält dieser Zustand jetzt schon mehr als zehn Jahre an.
Vor etwa 30 Jahren waren die Transplantation von Knochenmark und Niere oder Leber noch Ereignisse, die unabhängig voneinander stattfanden. Das gespendete Knochenmark half, eine hämatologische Störung zu therapieren. Erst nachdem Jahre später die Niere versagte, kam es zu einer zweiten Transplantation – vom gleichen Spender. Nachdem schon beim Transfer der hämatologischen Stammzellen eine „myeloablative Konditionierung“ mit starker Bestrahlung und Cyclophosphamid für eine Toleranz gegenüber dem Spender gesorgt hatte, funktionierte die darauf folgende Transplantation der Niere in der Regel ohne Komplikationen – und ohne Immunsuppression. Immer öfter sind Wissenschaftler und Ärzte jedoch in jüngerer Zeit mit einer „non-myeloablativen Behandlung“ erfolgreich. Wesentlich geringere Strahlendosen und eine schwächere Inaktivierung der ursprünglichen hämatopoetischen Stammzellen mit Zytostatika lassen das ursprüngliche Knochenmark überleben und wieder nachwachsen. Wenige Wochen nach der Transplantation entsteht dabei ein chimäres Blut-Produktionszentrum. Nicht selten kommt es dabei zu einer Graft-versus-Host Reaktion (GvHR), die meist jedoch sehr viel schwächer ausfällt als bei früheren Transplantationsstudien mit kompletter T-Zell-Depletion. Die Gruppe in Boston inaktiviert dabei T-Zellen mit einem anti-CD2 Antikörper, Cyclophosphamid und einer Bestrahlung des Thymus. Rituximab gegen B-Zellen soll schließlich noch eine Antikörper-vermittelte Reaktion gegen das neue Organ verhindern.
Vor zwei Jahren veröffentlichte schließlich eine Gruppe um Suzanne Ildstad von der University of Louisville in Kentucky in Science Translational Medicine eine Studie mit acht Nierenempfängern. Alle Donor-Empfänger-Paare unterschieden sich deutlich in den Transplantationsantigenen. Eine Ganzkörperbestrahlung mit 200 Centigray in Kombination mit Fludarabin und Cyclphosphamid sorgten dafür, dass sich ein biotechnologisch aufbereitetes Stammzell-Konzentrat zusammen mit einer gemischten Population von „Graft-facilitating Cells“ beim Empfänger einnisten konnte. Zusammen mit den Stammzellen transplantierten die Ärzte auch jeweils die Niere des Spenders. Ein anhaltender Chimärismus sorgte in fünf der acht Fälle dafür, dass die anfängliche Immunsuppression abgesetzt werden konnte und das Organ seinen Dienst im neuen Körper dauerhaft verrichtet hat. Die Strategien der Gruppen aus Louisville und Boston führten bei den Organempfängern zu unterschiedlichen „Blutbildern“: Die Behandlung nur mit Zytostatika und anti-CD2 (Boston) erzeugt einen transienten Chimärismus, in dem das eigene Immunsystem mit der Zeit wieder die Oberhand gewinnt. Dadurch ist die Gefahr einer GvH-Reaktion deutlich geringer, allerdings könnten etwa Infektionen oder Entzündungen anderer Art zu einer Abstoßungsreaktion auch Jahre nach der Transplantation führen. Ein stabiler „vollständiger“ Chimärismus (Louisville) bedeutet wohl weniger Gefahr für das Transplantat, jedoch mehr Risiko einer GvH-Krankheit, die bis jetzt jedoch nicht zu beobachten war. Welche Strategie die bessere ist, untersuchen derzeit mehrere Forschergruppen sowohl in Europa als auch in den USA. Noch immer ist die „Präkonditionierung“ des Knochenmarks und die darauf folgende Stammzelltransplantation mit beträchtlichen Risiken sowie einer erhöhten Mortalität verbunden und im Tausch gegen den Verzicht auf Immunsuppressiva oft nicht zu rechtfertigen. Wenn es nicht um Nieren, sondern um Herz oder Leber geht, spricht auch der Allgemeinzustand des Patienten gegen eine solche Belastung.
Vor einigen Wochen veröffentlichte eine Forschergruppe aus München, Hannover und Barcelona Ergebnisse von Lebertransplantationen bei Patienten mit latenter Hepatitis-C-Virus (HCV)-Infektion. Trotz aktivem Immunsystem ist etwa die Hälfte der Patienten nicht auf die Gabe von Immunsuppressiva angewiesen. Anscheinend, so spekulieren die Forscher, induzieren die Viren eine Toleranz, die nicht nur sie selber, sondern auch das verpflanzte Organ schützt. In den Genen dieser toleranten Patienten fanden Ulrike Protzer von der TU-München und ihre Kollegen eine rege Aktivität im Typ-I Interferon-System, zuständig für Regulation von antiviralen Antworten. Protzer spekuliert daher: „Wenn das Interferon-System wie in einigen chronisch-infizierten Patienten ständig aktiviert wird, reguliert es andere Immunreaktionen nach unten, um den Körper zu schützen. Dieser Zustand könnte wie ein natürliches Immunsuppressivum wirken und die Abstoßung des Organs verringern.“
Eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung alloreaktiver Antworten könnten dabei regulatorische T-Zellen spielen. In der ONE-Studie haben sich 13 Partner aus vier europäischen Saaten und der USA zusammengeschlossen, um die Wirkung solcher regulatorischer Zellen der T-Zellline (Treg), aber auch bei Makrophagen (Mreg) und dendritischen Zellen zu studieren. Bisherige Pilotversuche weisen darauf hin, dass solche regulatorischen Zellen – insbesondere Mreg – eine Immuntoleranz gegenüber transplantierten Nieren induzieren können.
Noch viel zu wenig ist über Marker und Indikatoren bekannt, die auf eine Toleranz oder aber auch eine Unzufriedenheit des Körpers mit dem neuen Organ hinweisen. So bleibt die Absetzung von Immunsuppressiva auch im Rahmen von klinischen Studien immer noch ein Vabanquespiel. Auch wenn viele Organe inzwischen zehn oder mehr Jahre ohne Probleme funktionieren, ist das noch keine Garantie gegen eine mögliche Abstoßung. Angefangen mit der kombinierten Transplantation von Knochenmark und Niere oder Leber könnte sich daraus ein schonenderer Weg zum stabilen Organersatz ohne ständige Besänftigung der Abwehr entwickeln.