Weichmacher wie BPA stehen schon lange in der Kritik – und können sogar heimlich dick machen. Welche Obesogene es sonst noch gibt und was ihr darüber wisst müsst, erfahrt ihr hier.
Adipositas ist eine der größten Gefahren für die körperliche und seelische Gesundheit der Menschen im 21. Jahrhundert. Die WHO sprach 2022 von einer Adipositas-Epidemie in Europa. Die Zahl der übergewichtigen Menschen auf der Welt ist inzwischen größer ist als die Zahl der unterernährten Menschen. Die Zunahme der Fettleibigkeit fällt damit zusammen – wie die Endocrine Society bereits 2009 erkannte –, dass Menschen unvermeidbar mit Industriechemikalien in Berührung kommen. Im Fokus stehen hier chemische Verbindungen, die die die Lipidhomöostase so verändern, dass sie die Adipogenese und Lipidakkumulation fördern. Diese Substanzen bezeichneten Felix Grün und Bruce Blumberg von der University of California 2006 als Obesogene. Die Stoffe verändern den Stoffwechsel, stören das Energiegleichgewicht und modifizieren die Appetit- und Sättigungsregulation.
Obesogene sind eine Untergruppe von Umweltchemikalien, die als endokrine Disruptoren (Endocrine Disrupting Chemicals, EDCs) wirken und die normale Hormonaktivität durcheinanderbringen können. Die Obesogen-Hypothese besagt, dass die Exposition gegenüber EDCs und anderen Chemikalien die Entwicklung und Funktion des Fettgewebes, der Leber, der Bauchspeicheldrüse, des Magendarmtrakts und des Gehirns verändern könne, wodurch sich der Sollwert für die Steuerung des Stoffwechsels verstelle. EDCs stehen weiterhin im Verdacht, an der Entstehung des metabolischen Syndroms beteiligt zu sein.
Zusammenhänge untersucht in dem 2019 gestarteten EU-Projekt „Metabolische Effekte von Endokrinen Disruptoren: Neue Test-Methoden und Adverse Outcome Pathways“ (EDCMET) das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gemeinsam mit elf Partnern aus acht Ländern. Die europäische Studie Obelix (OBesogenic Endocrine disrupting chemicals: LInking prenatal eXposure to the development of obesity later in life) überprüfte zwischen 2009 und 2013 die Hypothese, dass die pränatale Exposition gegenüber sechs Hauptklassen von EDCs (Dioxine, polychlorierte Biphenyle, bromierte Flammschutzmittel, Organochlorpestizide, Phthalate und perfluorierte Alkylsäuren, PFAA) in der Nahrung eine Rolle bei der Entwicklung von Fettleibigkeit spielt. Es bestätigte sich, dass eine frühe Belastung mit EDCs Stoffwechselwege verändern kann, die für die Gewichtsregulierung verantwortlich sind. Doch es besteht weiterer Forschungsbedarf.
Obesogene können mit Transkriptionsregulatoren interagieren, die die intrazelluläre Lipidhomöostase sowie die Proliferation und Differenzierung von Fettzellen steuern. Die wichtigste Gruppe dieser Regulatoren sind die Peroxisom-Proliferator-aktivierte Rezeptoren (PPARα, δ und γ). Sie nehmen Stoffwechsel-Liganden wie lipophile Hormone, Nahrungsfettsäuren und deren Metaboliten wahr und steuern in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Konzentrationen dieser Liganden die Transkription von Genen, die Veränderungen im Lipidhaushalt des Körpers ausgleichen. Um aktiv zu werden und als Stoffwechselsensoren und Transkriptionsregulatoren zu funktionieren, müssen die PPAR-Rezeptoren mit einem anderen Rezeptor, dem 9-cis-Retinsäure-Rezeptor (RXR), heterodimerisieren. Der RXR-Rezeptor ist neben den PPAR-Rezeptoren ein weiteres Ziel von Obesogenen. Substanzen, die auf den PPAR/RXR-Komplex abzielen und als Agonisten wirken, führen in der Regel zu einem Anstieg der Gesamtfettkonzentration im Serum.
Die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) ist an der Kontrolle des Appetits und der Energiehomöostase beteiligt, die durch eine Vielzahl monoaminoerger, peptiderger und endocannabinoider Signale aus dem Verdauungstrakt, dem Fettgewebe und dem Gehirn vermittelt wird. Hier finden sich weitere Ziele für potenziell adipositasfördernde Substanzen. Ebenfalls ein Angriffspunkt sind Östrogenrezeptoren. Hier sind Phytoöstrogene von Interesse. Wer sich vermeintlich gesünder und frei von tierischen Lebensmitteln ernähren möchte, verzehrt häufig vermehrt Sojaprodukte. Damit einher geht eine erhöhte Exposition gegenüber Phytoöstrogenen. Genistein aus Soja bindet an die Estrogenrezeptoren ERα und ERβ und wirkt ähnlich wie ein Östrogen. Es wurde eine hemmende Wirkung auf die Lipogenese festgestellt. In höheren Konzentrationen fördert Genistein zusätzlich die Lipogenese über den PPARγ-Signalweg.
Bisphenol A (BPA) ist eine Industriechemikalie, die seit den 1950er Jahren zur Herstellung bestimmter Kunststoffe wie Polycarbonatkunststoffen und Expoxidharze verwendet wird. Polycarbonatkunststoffe werden häufig in Behältern zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und Getränken verwendet, etwa in Wasserflaschen. Epoxidharze werden zur Innenbeschichtung von Metallprodukten wie Lebensmitteldosen, Flaschenverschlüssen und Wasserversorgungsleitungen eingesetzt. Einige Zahnversiegelungen und Komposite können ebenfalls BPA enthalten. Untersuchungen haben gezeigt, dass BPA aus Behältern in Lebensmittel oder Getränke übergehen kann. BPA besitzt eine Affinität zu Östrogenrezeptoren und kann die PPAR-Signalgebung hemmen. Die Exposition gegenüber BPA könnte sich auf das Gehirn und die Prostata von Föten, Säuglingen und Kindern auswirken und das Verhalten von Kindern beeinflussen. Weitere Forschungsergebnisse deuten auf metabolische Effekte und einen möglichen Zusammenhang zwischen BPA und erhöhtem Blutdruck, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hin.
Mediziner und Pharmazeuten wissen, dass einige Arzneistoffe zu einer Körpergewichtszunahme führen können. Besonders berüchtigt sind dafür atypische Neuroleptika wie Clozapin. Sie greifen genauso wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), trizyklische Antidepressiva und tetrazyklische Antidepressiva an Neurotransmitterrezeptoren an, die zentral an verhaltensregulierenden Vorgängen beteiligt sind. Eine mit den Substanzen verbundene Appetitanregung und Gewichtszunahme könnte zumindest teilweise durch die Aktivierung von hypothalamischer AMP-Kinase vermittelt werden. Die orexigene, also den Appetit steigernde Wirkung der einzelnen Arzneistoffe entspricht ihren Affinitäten für Histamin-H1-Rezeptor. Es resultiert eine erhöhte Lipidakkumulation, die zu Fettleibigkeit führen kann. H1-Antihistaminika können ebenfalls orexigen wirken. Da diese Medikamente typischerweise sporadisch und in wesentlich geringeren Dosen als atypische Antipsychotika eingesetzt werden, sind die Auswirkungen auf das Gewicht weniger stark ausgeprägt.
Die Bewertung von Medikamentenkandidaten hinsichtlich ihres Einflusses auf H1-Rezeptoren und die hypothalamische AMP-Kinase könnte einen einfachen Ansatz bieten, um Medikamente zu entwickeln, die sich weniger auf das Körpergewicht auswirken. Die Forschungen könnten zudem unser Verständnis verbessern, wie hypothalamisch die Nahrungsaufnahme reguliert wird.
Adipogene sind weit verbreitet und von Wasserflaschen bis zu Popcorn aus der Mikrowelle, in antihaftbeschichteten Pfannen oder Duschvorhängen enthalten. Ihnen aus dem Weg zu gehen, ist quasi unmöglich. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem Industriechemikalien oft so entwickelt wurden, dass sie eine lange Halbwertszeit haben. Für die industrielle Nutzung ist das von Vorteil, schadet aber Mensch und Tier. Schwerer abbaubare Stoffe können möglicherweise gar nicht verstoffwechselt werden oder werden in giftigere Verbindungen als das Ausgangsmolekül umgewandelt.
Es besteht noch immenser Forschungsbedarf. So existieren zwar Grenzwerte für die Exposition mit den einzelnen Industriechemikalien. Ob diese geeignet sind, um Menschen ausreichend vor adipogenen Effekten zu schützen, ist unklar. Ebenso weiß man nicht, wie sich die additive Belastung mit verschiedenen Chemikalien (Cocktail-Effekt) auf die menschliche Gesundheit auswirkt. Langzeituntersuchungen fehlen. Felix Grün und Bruce Blumberg wiesen bereits 2009 darauf hin, dass auch epigenetische Veränderungen in Betracht gezogen werden müssen. Solche Veränderungen durch Obesogene würden es ermöglichen, dass fehlregulierte Stoffwechselfunktionen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wenn das tatsächlich so ist, wird das Adipositas-Problem immer dicker.
Quellen:
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Grün & Blumberg: Minireview: The Case for Obesogens. Molecular Endocrinology, 2009. doi: 10.1210/me.2008-0485.
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EU-Forschungsprojekt: OBesogenic Endocrine disrupting chemicals: LInking prenatal eXposure to the development of obesity later in life (Obelix). https://cordis.europa.eu/project/id/227391/reporting/de.
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