Panisch werde ich ins Krankenzimmer gerufen: „Die Patientin krampft!“ Eine junge Frau liegt am Boden, zuckt unkontrollierbar, ist nicht ansprechbar. Ganz klar ein epileptischer Anfall, oder?
„Komm schnell zu Zimmer XY, die Patientin krampft!“ Diesen Satz hört man als Arzt vom Dienst in der Neurologie häufig. So auch in diesem Fall. Im Patientenzimmer der Notaufnahme lag die junge Frau auf dem Boden, sie war nicht ansprechbar und zeigte in kurzen Abständen immer wieder hochfrequente Zuckungen aller Extremitäten. Ihr gesamter Körper verbog sich dabei plötzlich nach hinten, dabei schlug der Kopf teilweise relativ heftig auf den Boden. Aufgrund des plötzlichen Bewusstseinsverlusts mit motorischen Entäußerungen wurde von der Pflege bereits Lorazepam aufgezogen und dies dem AvD angeboten mit der Erwartung, das Anfallsereignis medikamentös rasch zu unterbrechen. Die Sauerstoffsättigung war unauffällig, die Herzfrequenz mit 120/min leicht tachykard. Der Blutdruck war aufgrund der Entäußerungen erstmal nicht messbar.
Die grobe Untersuchung ergab eine tief bewusstlose Patientin, die auch auf Schmerzreiz nicht reagierte. Die Pupillen waren nur schwer untersuchbar, da die Patientin die Augen kräftig zusammenpresste, eine Lichtreaktion war bds. vorhanden. Phasen, in denen die Patientin ruhig dalag, wechselten mit den beschriebenen motorischen Phänomenen in unregelmäßigen Abständen.
An beiden Armen der Patientin fielen quer verlaufende Narben unterschiedlichen Alters auf. Die Patientin war wegen einer selbst zugefügten Schnittverletzung am Unterarm zur chirurgischen Wundversorgung in die Notaufnahme gekommen. Sie befand sich derzeit in einer psychosomatischen Klinik aufgrund einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und einer dissoziativen Störung in Behandlung.
Aufgrund der für einen dissoziativen Anfall typischen Befunde wurde auf eine intravenöse oder auch sonstige Medikamentengabe verzichtet. Die Patientin wurde ins Bett gelegt. Beim Hochheben der Patientin wurde diese wieder etwas reagibel, öffnete langsam die Augen und sagte auch einige undeutliche Worte. Eine erfahrene Psychiaterin war zufällig verfügbar und wurde dazu gerufen. Sie wendete mit der Patientin verschiedene Skills an, da diese eine starke Anspannung angab. Hierunter normalisierte sich auch der übrige neurologische Befund. Die Patientin zeigte sich vollständig vigilant und orientiert, so dass die Rückverlegung in die psychosomatische Klinik erfolgen konnte.
In dem geschilderten Fall gab es tatsächlich viele Hinweise dafür, dass das Anfallsereignis nicht epileptisch war. Oft ist die Unterscheidung zwischen epileptisch und nicht-epileptisch aber gar nicht so einfach. Da Anfallsereignisse oft maximal wenige Minuten dauern, kommt es auch bei in der Klinik tätigen Neurologen gar nicht so oft vor, dass man live dabei ist. Bis die klinische Erfahrung entstanden ist, um mit ausreichender Sicherheit Anfallsereignisse rasch voneinander unterscheiden zu können, kann also einige Zeit vergehen. Hinzu kommt, dass man oft auf die Fremdanamnese angewiesen ist, wenn die Anfälle außerhalb der Klinik stattgefunden haben.
Bei dissoziativen Anfällen (auch als psychogene, nicht-epileptische Anfälle bezeichnet), kommt es – wie auch bei epileptischen Anfällen – zu einer Vigilanzstörung mit unwillkürlichen Bewegungen. Hinweise für dissoziative Anfälle sind, wie im Fallbeispiel beschrieben, geschlossene und zusammengekniffene Augen sowie unrhythmische Bewegungen von wechselnder Intensität. Die Dauer ist häufig länger als bei epileptischen Anfällen, dafür geschieht die Reorientierung prompt. Eine postiktale Phase mit weiterbestehender Schläfrigkeit und Desorientiertheit, wie sie bei epileptischen Anfällen typisch ist, besteht meist nicht.
Dass dissoziative Anfälle häufig als epileptische Anfälle fehlgedeutet werden, belegt eine kürzlich erschienene Studie aus der Universitätsklinik Bochum. Es wurden 203 Fälle von insgesamt 156 Patienten (einige Patienten stellten sich im Studienzeitraum mehrfach vor) mit der finalen Entlassdiagnose „dissoziative Krampfanfälle“ eingeschlossen und untersucht. Bei den Patienten, die in Notarztbegleitung ins Krankenhaus gebracht wurden, lautete die notärztliche Verdachtsdiagnose in 84 % „epileptische Anfälle“. Auch die Arbeitsdiagnose nach Abschluss der Akutbehandlung in der Notaufnahme war nur in 64 % der Fälle die am Ende richtige Diagnose „dissoziativer Anfall“, in 35 % wurden weiter fälschlicherweise epileptische Anfälle vermutet.
In 40 % der Fälle wurden Benzodiazepine gegeben. Wenn das Anfallsereignis bei Eintreffen des Rettungsdienstes und/oder Notarztes weiter anhielt, sogar in 67 %. Die vor dem Eintreffen ins Krankenhaus gegebenen Benzodiazepin-Dosen waren alles andere als gering, im Durchschnitt waren es 25 mg Diazepam-Äquivalent. Hohe Benzodiazepin-Dosen können unter anderem eine schwere Atemdepression verursachen. Und so wurden auch insgesamt 9 % der Patienten, die Benzodiazepine erhielten, im Verlauf endotracheal intubiert.
Die Behandlung mit Benzodiazepinen ist bei (anhaltenden oder rezidivierenden) epileptischen Anfällen Mittel der ersten Wahl, aber auch bei dissoziativen Anfällen ist ihre Anwendung nicht unbedingt falsch. Kontrollierte Therapiestudien hierzu gibt es leider nicht. Benzodiazepine sind jedoch in der Therapie von verschiedenen psychiatrischen Notfällen gut wirksam und auch dissoziative Anfälle sind durch einen psychischen Ausnahmezustand verursacht. Auch bei diesen Anfällen kann also ein Therapieeffekt von Benzodiazepinen erwartet werden. Andererseits können Benzodiazepine auch negative psychische Auswirkungen haben, ein dissoziativer Zustand kann unter Umständen durch die sedierende und enthemmende Wirkung sogar verstärkt werden. Die Anwendung in Dosierungen, die eine Atemdepression und damit weitere Komplikationen erwartbar machen, ist in jedem Fall zu vermeiden.
Die Autoren schließen aus der geringen diagnostischen Sicherheit vor allem im notärztlichen Bereich, aber auch in der Notaufnahme, dass das ärztliche Personal besser geschult werden sollte, um nicht-epileptische von epileptischen Anfällen zu unterscheiden. Verschiedene Studien haben auch schon gezeigt, dass mittels kurzer Video-Trainings die diagnostische Sicherheit signifikant erhöht werden kann.
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