Egal ob Maßnahmen zur Bekämpfung von Ebola oder Eckpunkte zum Kochsalzkonsum, die Weltgesundheitsorganisation WHO mischt sich ein. Forscher haben jetzt einige Empfehlungen der Gesundheitswächter kritisch beleuchtet – und finden Schwachstellen im System.
Wieder einmal schlägt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Alarm. Experten schätzen, in den nächsten Monaten könnten mehr als 20.000 Menschen an Ebola erkranken. Das geht aus einem kürzlich veröffentlichten Notfallplan hervor. Ebola-Entdecker Peter Piot stellt der Behörde trotzdem keine guten Noten aus. Bereits im März sei gewarnt worden, dass sich seit Dezember 2013 eine Epidemie entwickele, sagte der belgische Forscher. „Ungeachtet aller Anforderungen durch MSF (Ärzte ohne Grenzen) ist die WHO nicht vor Juli aufgewacht.“ Inzwischen habe sie zwar die Führung übernommen, aber das käme spät. Piots Haltung ist kein Einzelfall. Weltweit zweifeln Experten immer häufiger an Maßnahmen oder Veröffentlichungen der Behörde.
Bei der Pandemie H1N1 2009/10, besser bekannt als „Schweinegrippe“, war aus wissenschaftlicher Sicht äußerst fragwürdig, ob Patienten von Impfungen tatsächlich profitieren. Deutschland folgte dem Rat trotz aller Zweifel und bunkerte 34 Millionen Impfdosen. Experten stritten sich auch über den Sinn von Oseltamivir (Tamiflu®) – hier empfahlen WHO-Vertreter allen Ländern, Notvorräte anzulegen. Anfang 2014 hat die Cochrane Collaboration endlich alle Daten zum Neuraminidase-Hemmer ausgewertet. Ihr Fazit: Erwachsene leiden 6,3 Tage, sollten sie entsprechende Präparate schlucken – ohne Pharmakotherapie sind es sieben. Demgegenüber stehen mögliche Nebenwirkungen, allen voran psychiatrische Ereignisse. Grund genug für europäische Politiker, harsche Kritik am Vorgehen der WHO zu äußern. Sie spekulierten, pharmazeutische Hersteller hätten Entscheidungen der obersten Gesundheitswächter zu ihren eigenen Gunsten beeinflusst. Keiji Fukuda, der als WHO-Berater entsprechende Strategien begleitet hat, wies die Kritik zurück.
Dennoch musste er zugeben, „einzelne Personen“ hätten Interessenkonflikte nicht angegeben. Luc Hessel von der Vereinigung Europäischer Impfstoffhersteller (EVM; heute Vaccines Europe), dementiert: „Die EVM weist diese Vorwürfe zurück, besonders jene der unverhältnismäßigen Reaktion von Impfstoffherstellern auf die H1N1-Grippe. Die Impfstoffindustrie hat lediglich auf die Nachfrage reagiert. Ihre Aufgabe ist es, rechtzeitig sichere Impfstoffe herzustellen und die Nachfrage von Seiten der Regierung zu befriedigen.“ Ein gewisser Nachgeschmack bleibt: Bereits vor Ausrufung der Pandemie gab es Verträge zwischen einzelnen Regierungen und Pharmaunternehmen für den Aufkauf von Impfstoffen. Deborah Cohen und Philip Carter, zwei Journalisten, werden in „The BMJ“ (British Medical Journal) noch deutlicher: „Führende Wissenschaftler, welche die WHO bei Planungen zur Influenza-Pandemie beraten, hatten bezahlte Jobs bei pharmazeutischen Herstellern.“ Entsprechende Konzerne profitierten von der Beratung. Diese Interessenkonflikte seien nie öffentlich gemacht worden, vielmehr war von „Verschwörungstheorien“ die Rede.
Nicht jede Empfehlung der WHO schürt derartige Verdachtsmomente – oft zweifeln Wissenschaftler schlichtweg an der Interpretation von Studien. Ein Beispiel: Um die Zahl an Herzinfarkten beziehungsweise Schlaganfällen zu verringern, raten WHO-Forscher zu maximal fünf Gramm Natriumchlorid. Allerdings lieferte die PURE-Studie (Prospective Urban Rural Epidemiology) Hinweise, dass sehr hohe, aber auch sehr geringe Mengen an Kochsalz zu einem größeren Risiko führen, an kardiovaskulären Ereignissen zu versterben. Besonders niedrig ist die Gefahr für Menschen mit einem Konsum von 7,5 bis 15 Gramm Kochsalz. Andere Richtlinien sind ebenfalls nicht über Zweifel erhaben. So heißt es im „World Cancer Report 2014“, Alkohol sei bereits in geringer Menge schädlich. Forscher der Boston University School of Medicine entgegnen, Studien zum protektiven Effekt geringer Ethanolmengen seien ignoriert worden. Sie erwarten bei weniger als 20 (Männer) beziehungsweise zehn Gramm (Frauen) Alkohol keine nachteiligen Effekte.
Viele Anhaltspunkte, die eine systematische Aufarbeitung notwendig machen. Paul E. Alexander von der McMaster University im kanadischen Hamilton untersuchte 36 Leitlinien und 436 WHO-Empfehlungen, die mit dem Grade-System arbeiten. In zwei von drei Fällen handelte es sich um starke Empfehlungen – aber nur jeder zweite Rat stützte sich auf solide Daten. Schlechte Bewertungen bekamen Pläne der WHO gegen die Influenza-A-(H1N1)-Pandemie sowie Vorgaben zur gesunden Ernährung. Darüber hinaus fordern die Autoren mehr Transparenz – gerade bei Fragen zur Einflussnahme von Konzernen. WHO-Vertreter reagierten, indem sie ein „Guidelines Review Committee“ aus der Taufe hoben. Ob ihre Aktion sonderlich erfolgreich war, lässt sich bezweifeln. So spricht David Sinclair (WHO, Liverpool) zwar von systematischeren und transparenteren Prozessen. Entsprechende Vorgaben seien aber noch nicht in allen Abteilungen der Organisation angekommen.