Ein Patient kommt in die Praxis und weiß bereits vor der Diagnose ganz genau, was er hat. Das kommt immer häufiger vor. Doch wann werden diese Selbstdiagnosen gefährlich?
„Wenn du diese 5 Dinge tust, hast du ADHS!“ Immer mehr solcher Artikel und Videos kursieren im Netz. Einerseits ist es gut, dass öffentlich über psychische Erkrankungen gesprochen wird, aber es gibt auch eine Schattenseite dieser Entwicklung. Denn mit steigender Akzeptanz mentaler Krankheiten und ihrem Eintritt in den allgemeinen Diskurs steigt auch die Anzahl der Selbstdiagnosen. Wie kommt es dazu, dass immer mehr Menschen glauben, sie hätten eine psychische Krankheit – und wie sollten Ärzte sich hier verhalten? Ein Gespräch mit dem Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Dr. Ahmed El-Kordi.
DocCheck: In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen verfünffacht. Einerseits wissen Menschen natürlich besser Bescheid, das Stigma rund um mentale Krankheiten sinkt. Aber steht diese massive Zunahme im Verhältnis dazu?
El-Kordi: Eindeutig ja, das erlebe ich auch im Alltag. Ich glaube, das hat einerseits damit zu tun, dass die Formulierung dieser Diagnose bzw. die Spezifikation, dass es auch im Erwachsenenalter feststellbar ist, jetzt langsam auch in den Köpfen der Kollegen, die primär Erwachsene behandeln, angekommen ist. Autismus war bisher primär eine Störung mit Erstmanifestation im Kindes- und Jugendalter. Und zum anderen ist einfach mehr Aufklärungsarbeit geleistet worden und wir haben zudem bessere Diagnosemethoden.
DocCheck: Und wie spielt die Entstigmatisierung gewisser Diagnosen da mit rein?
El-Kordi: Die Entstigmatisierung hat noch einen weiteren Aspekt: Es geht nicht ausschließlich um „krank oder gesund“. Für einige Personen ist man mit einer „Diagnose“ besonders. Einige Personen sehen das als eine Art Lifestyle-Diagnose und bedenken dabei nicht, dass es sich um was Pathologisches handelt und durchaus einschränkend ist. Es gibt sogar einige Eltern, die darauf bestehen, dass ihr Kind genau diese Diagnose bekommt – und keine andere.
DocCheck: Woher kommt dieses Bedürfnis bei den Eltern, dass es ebendiese Diagnose sein soll? Hat das auch mit der (Ent-)Stigmatisierung rund um die Diagnose zu tun – oder vielleicht auch mit dem Lifestyle, der damit einhergeht?
El-Kordi: Ich glaube, da gibt es eine heterogene Motivationslage. Einerseits haben viele Leute eine falsche Vorstellung, was eine Autismus-Spektrum-Störung ist. Die denken dann an Rain Man oder das Mercury Puzzle. Diese Vorstellung von Genies – das ist für einige sehr attraktiv. Das ist natürlich eine falsche Vorstellung. Es gibt nur einen sehr kleinen Anteil an Autisten, die diese Kriterien von einem erhöhten Leistungsniveau erfüllen, Autisten mit Inselbegabungen – die sogenannten Savants. Die andere Seite ist, und das ist nicht zu vernachlässigen, durch sozialrechtliche Optionen gibt es auch einfach mehr Möglichkeiten, wenn jemand eine Autismus-Spektrum-Störung hat. Da ist natürlich die Voraussetzung, dass eine fundierte Diagnostik gelaufen ist – und damit meine ich jetzt nicht einfach nur eine Verdachtsdiagnose, sondern wirklich eine festgestellte Diagnose in einem spezialisierten Zentrum.
DocCheck: Festgestellte Diagnosen sind ein gutes Stichwort. Denn neben diesen häufen sich auch immer mehr Selbstdiagnosen, besonders vertreten auf Social Media. Wie sehen Sie das – sind Sie damit in ihrem Praxisalltag konfrontiert?
El-Kordi: Wenn man mit Jugendlichen arbeitet, dann ist das immer ein Thema. Social Media ist ja schon fast die Graue Eminenz, die im Hintergrund das Sagen hat. In der sprechenden Medizin kommt es mir vor – noch mehr als bei organischer Medizin – dass jeder den Eindruck hat, er kann selbst eine Diagnose stellen und die ist gültig und jeder weiß auch, wie was zu behandeln ist. Und die Menschen lassen sich dann von den Influencern beeinflussen. Gerade Jugendliche nehmen das auch schon mal sehr ernst. Die sagen dann beispielsweise: „Ja, also ich habe da schon auch eine Psychotherapie gemacht.“ Wenn man dann fragt, wo und welche Therapie gemacht wurde, hört man dann: „Auf dem YouTube-Kanal gibt‘s halt so einen Typen und der macht Psychotherapie und Coaching. Das hat mir schon sehr geholfen.“ Wenn ich dann weiter nachfrage, denke ich mir schon manchmal: Um Gottes Willen, was hast du denn da gemacht?
DocCheck: Also wird auch eine falsche Vorstellung von Therapie vermittelt?
El-Kordi: Eine völlig falsche Vorstellung. Ist ja auch klar, das sind in den allermeisten Fällen keine Experten. Die haben nicht studiert. Die haben vielleicht ein paar Bücher gelesen. Vielleicht sind sie auch selber betroffen. Das sind zum einen oft selbsternannte Experten, die sich sagen: „Ich habe mir das Programmieren beigebracht, da kann ich mir auch die Diagnose psychischer Störungen beibringen!“ Und die anderen sind solche, die selbst psychisch belastet sind, also entweder eine professionelle Diagnose haben oder sich selbst eine Diagnose vergeben haben. Die wollen dann anderen Betroffenen helfen.
DocCheck: Sind diese selbst diagnostizierten Krankheitsbilder vielleicht auch ein Ausdruck, Antworten haben zu wollen? Man denkt sich: „Mit mir stimmt was nicht. Mir geht es nicht gut“– und dann ist da jemand, der benennt genau die Gefühlslage, in der ich mich befinde. Deswegen muss es das sein?
El-Kordi: Genau, das haben Sie gut erkannt, das ist oft so. Das ist eine Art Versuch, kognitive Dissonanz zu reduzieren. Die Patienten merken, dass irgendwas mit ihnen nicht stimmt und das passt nicht zu ihrem Selbstbild. Was macht man mit dieser Erkenntnis? Tja, da gibt es zwei Optionen: Entweder man ändert sein Selbstbild, oder man ändert seine Wahrnehmung. So kommt‘s dann zu Aussagen wie: „Ich habe Autismus und Autismus ist was Tolles!“
Was wir oft auch erleben – und das Thema bringt dann immer wieder Streit – ist Rapid Onset Gender Dysphoria. Innerhalb weniger Tage sagen dabei meist junge Menschen, dass sie sich im falschen Körper befinden. Meist ist das zugrundeliegende Problem eine depressive Erkrankung und/oder eine soziale Angststörung. Da hat ein junger Mensch ein Problem mit seinem Selbstbild und stellt fest, er ist eigentlich ein Mädchen, kein Junge. Und dann erklärt sich auf einmal alles. Ein Junge, der zum Beispiel nicht gerne Fußball spielt oder nicht der stereotypischen Vorstellung vom „Männlich-Sein“ entspricht, hat plötzlich eine Erklärung für all seine Probleme.
Wir suchen immer nach einer Lösung, nach einer Erklärung, wenn wir irgendwelche Symptome bei uns feststellen – das ist völlig normal. Wir wollen wissen, woher kommt es, wie kann man es beheben und wie kann man es einordnen? Und wenn man dann an die falschen Social-Media-Kanäle gerät, ist man leicht beeinflussbar.
DocCheck: Neben Rapid Onset Gender Dysphoria und Autismus werden besonders ADHS und Depression an sich selbst diagnostiziert. Wieso diese Krankheitsbilder?
El-Kordi: Weil diese Diagnosen sehr allgemein formuliert sind. Bei Psychosen zum Beispiel, das ist so ein bizarres Erleben, viele verstehen gar nicht, was das ist. Das ist einfach nicht so zugänglich. Wir reden hier von der sogenannten Augenschein-Validität. Bei Depression und ADHS ist es sehr augenscheinlich, was da sich dahinter verbirgt. Da besteht dann die Gefahr, dass auch schnell an sich selbst zu diagnostizieren, wenn man mal traurig ist.
DocCheck: Quasi traurig sein und Depression zu verwechseln?
El-Kordi: Genau, das ist die Gefahr. Wenn man eine gedrückte Stimmung hat, dann sagt man schnell, man ist depressiv – was ja nicht stimmt! Ähnliches gibt es auch bei Traumata. Wenn man irgendwas Blödes erlebt hat am Tag und dann sagt, die Busfahrt hätte einen traumatisiert. Was dabei oft vergessen wird: Ich kann hyperaktiv und hibbelig sein, ohne ADHS zu haben. Ich kann melancholisch und traurig sein, ohne eine Depression zu haben. Und ich kann psychisch belastet sein durch biografische Ereignisse, ohne traumatisiert zu sein. Aber diese Unterscheidungen sind fachspezifisch, dafür braucht es Fachwissen. Es werden also häufig psychische Zustände für Situationen und Gefühlslagen verwendet, die absolut alltäglich sind. Das ist das Problem.
DocCheck: Da fehlt also eindeutig die Expertise?
El-Kordi: Auf jeden Fall. Viele glauben, Psychologie/Psychiatrie kann sich jeder beibringen. Leute, die sich für das Thema interessieren. Leute, die darüber berichten, weil sie es einfach spannend finden. Aber die haben keinerlei Qualifikationen – die machen das, weil es spannend ist und einfach jeder bei psychischen Themen mitreden kann. Wenn Sie beispielsweise die True-Crime-Podcast-Landschaft durchforsten, fallen sehr schnell Begriffe wie narzisstisch und psychopathisch. Da bekommt man den Eindruck, jeder Zweite ist ein Psychopath – was ja völliger Quatsch ist.
DocCheck: Was macht das mit den Patienten – haben solche Darstellungen Einfluss auf die Wahrnehmung psychischer Krankheiten?
El-Kordi: Bei vielen Patienten führt es zu Angst. Ich habe viele junge Patienten, vor allem junge Männer, 18–25 Jahre alt, die Angst vor Ansteckung mit psychischen Krankheiten haben. Die denken, wenn sie mit jemand zusammen sind, der depressiv ist, dann werden sie selbst auch depressiv. Diese Vorstellungen, die sind sehr neu, die kannte ich so bisher nicht.
DocCheck: Wenn wir zurückkommen auf das, was Sie vorhin gesagt haben: Viele Menschen, die Mental-Health-Content auf Social Media machen, haben keine Expertise. Da werden dann häufig Behauptungen in den Raum gestellt, wie „Hier sind 5 Anzeichen dafür, dass du depressiv bist.“ Welchen Einfluss hat das auf Selbstdiagnosen?
El-Kordi: Einen katastrophalen Einfluss. Das ist ja so ein bisschen wie Kaffeesatzlesen oder Horoskope. Ich mache mir da auch mal einen Spaß draus, klick mich durch ein paar Artikel und denke mir, welche Störung habe ich denn heute? Das kann man unter Freunden machen, Spaß damit haben und darüber lachen. Das ist natürlich keine Diagnose, aber es ist sehr schwer, das aus den Köpfen der Patienten wieder rauszubekommen. Manche Patienten machen solche Tests und kommen dann mit einer Diagnose in die Praxis – und sind fest von dieser Diagnose überzeugt.
Es gibt natürlich auch differenzierte Patienten. Die gehen da mit einer gewissen Skepsis ran. Die sagen dann zum Beispiel: „Kennen Sie diesen Test? Bestimmt heißt das Ergebnis jetzt nichts, aber ich mache mir schon Sorgen.“
DocCheck: Erleben Sie solche Fälle auch in der Praxis?
El-Kordi: Ja, klar. Die bekommen aber auch gar keinen Termin bei mir.
DocCheck: Woher wissen Sie denn, dass es sich um einen solchen Patienten handelt.
El-Kordi: Sowas merkt man recht schnell, wenn man fragt, warum sie den Termin brauchen, wie lange die Symptome bestehen oder wer den Anstoß für den Termin gegeben hat. Problematisch sind auch Patienten, die bereits eine valide Diagnose haben und dann anfangen, zu googeln und auf solchen Content stoßen. Solche Patienten sind dann oft mit der Behandlung unzufrieden, weil sie die Vorstellung haben, man könne solche Thematiken sehr schnell behandeln. Man kann dann durch Gespräche aufklären, aber es wird viel zu wenig präventiv gemacht, damit die Leute gar nicht erst krank werden.
DocCheck: Wie gehen Sie mit solchen Patienten um, die mit einer voreingenommenen Selbstdiagnose zu Ihnen kommen?
El-Kordi: Ich sage diesen Patienten, dass nicht sie die Diagnose stellen, sondern ich. Und zwar vom Anfang bis zum Ende. Wenn sie das nicht annehmen können, müssen sie sich jemand anderen suchen, der die gewünschte Behandlung anbietet – ohne fundierte Diagnose.
DocCheck: Was würden Sie einem Kollegen raten, wenn ein Patient vor ihm steht und sagt: „Ich habe ADHS, ganz bestimmt!“
El-Kordi: Ich glaube, alte Hasen kennen das Problem und haben schon ihre eigene Art gefunden, damit umzugehen. Ich glaube aber, junge Kolleginnen und Kollegen kann das sehr verunsichern. Das Beste wäre, sich diese Patienten anzuhören und ihnen zu erklären, wo die Unterschiede zwischen diesen Selbstdiagnosen und wissenschaftlichen Diagnosen liegen. Ihnen zu sagen, was normal ist und was klinisch relevant ist. Aber es ist prinzipiell gut, sie zu validieren, Verständnis für die Patienten zu zeigen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Das finde ich immer sehr wichtig.
DocCheck: Aber verstärkt man mit der Validierung nicht das eigentliche Problem?
El-Kordi: Vielleicht versetzt man sich auch mal in die Lage des Patienten: Wenn ich Schmerzen habe, die ich nicht zuordnen kann, dann will ich auch wissen, was los ist und recherchiere erst mal auf eigene Faust. Es ist also wichtig, diesen Wunsch nach Klärung zu validieren – aber auch ganz klar zu kommunizieren, was in einer Therapie gemacht werden kann und was nicht. Wenn die Patienten dann immer noch lieber einer esoterischen Methode nachgehen oder sich von Online-Therapeuten beeinflussen lassen wollen, ist das meiner Meinung nach nicht mit einer Psychotherapie vereinbar. Hauptsache ist, man klärt die Personen auf und erklärt, was der fachlich-fundierte Weg besagt. Wie gesagt, das oben genannte Verhalten ist durchaus nachvollziehbar.
Bildquelle: Jon Tyson, unsplash