Krankenkassen, die ihre Kompetenzen überschreiten – Unternehmen, die mit Unterlassungsklagen dagegenhalten. Dazwischen: Patienten und Ärzte, deren Behandlung und Verordnungen umgangen werden.
Seit 2020 können gesetzlich Versicherte digitale Gesundheitsanwendung nutzen. Das Ziel: Krankheiten erkennen, überwachen, behandeln und lindern. Grundsätzlich stehen dazu zwei Wege zur Verfügung: Entweder nach ärztlicher oder psychotherapeutischer Verordnung oder auf Antrag des Patienten direkt bei seiner Krankenkasse. Im Anschluss haben Ärzte die Möglichkeit zur Rezeptierung einer digitalen Gesundheitsanwendung aus einer BfArM-Übersicht. Derzeit umfasst sie 49 Apps und Anwendungen für verschiedene Krankheitsbilder. Entscheiden sich die Ärzte hierzu, werden die Kosten der Nutzung – zunächst der aufgerufene Herstellerpreis – letztlich von der Kasse übernommen.
Beim Weg, dass der Patient sich direkt an die Kasse wendet, stehen zwar auch die vom BfArM gelisteten Produkte zur Auswahl – daneben haben Kassen teilweise aber auch Selektivverträge mit Herstellern geschlossen und alternative DiGA. Deren Kosten liegen meist unter den Herstellerpreisen aus der BfArM-Liste. Auch diese Kosten erhält der Patient allerdings erst zurück, wenn eine ärztliche Diagnose besteht bzw. er einen Nachweis zur Notwendigkeit erbringen kann.
Die Position der Kassen bei diesem Status quo: Erstattungsträger für Apps auf Rezept vom Arzt oder Vermittler einer alternativen App, wenn der Patient proaktiv auf die Kasse zukommt. Erst dann ist es den Kassen gesetzlich erlaubt, Angebot (ihrer Selektivverträge) anzubieten bzw. generell ihrem Informations- und Beratungsanpruch nachzukommen.
Das aktuelle Problem: Einige Kassen scheinen es mit diesen Grenzen nicht so ganz genau genommen zu haben. Dazu kommt: Auch darüberhinausgehende proaktive Kontaktaufnahmen und klare Falschinformationen sind an Patienten geraten. Konkrete Vorwürfe, die im Raum stehen, sind dabei unter anderem, dass Patienten von bestimmten DiGA abgeraten wurde, dass ihnen mitgeteilt wurde, mehr als eine App sei pro Krankheitsbefund nicht vorgesehen oder dass Fristen für Folgeanträge nicht eingehalten würden.
Beispielhaft ist dafür die Erfahrung, die die Unternehmen zur Anwendung „PINK! Coach“ gemacht hat. Die Anwendung ist zur Therapie und Nachsorge von Frauen mit Brustkrebs vorgesehen. Voraussetzung für die Kundinnen: Sie müssen volljährig sein und Brustkrebs muss diagnostiziert sein. Mal wurden Kundinnen dennoch auf andere Produkte hingewiesen, mal sei eine Frist zum Verschreiben verstrichen. Ähnliche Erlebnisberichte gibt es auch von der DiGA „Vivira“, die für Patienten mit Rückenschmerzen vorgesehen ist. In diesem Fall weigerten sich Kassen trotz ärztlicher Verordnung, die App zu übernehmen. An anderer Stelle verlangten die Kassen von Ärzten eine Befund- und Verlaufskontrolle oder eine ausführliche medizinische Begründung – beides muss nicht erfolgen.
Aus solchen und weiteren Fällen ergeben sich vielschichtige Probleme: Zum einen greifen die Kassen damit in die ärztliche Therapiehoheit ein und überschreiten ihre Beratungskompetenzen. Zum anderen erhalten Patienten nicht die gewünschte und optimale Behandlung. Zudem geraten Gesundheitsunternehmen, die auf diesem Weg umgangen werden, in finanzielle Engpässe. Ebendiese wehrten sich und erhielten nun nach einem Rechtsstreit Recht. Zuletzt erwirkte das Unternehmen der Gesundheitsanwendung „aidhere“ zwei Unterlassungen gegenüber Krankenkassen. Darunter eine strafbewehrte Unterlassung gegen die IKK classic, da die Kasse keinen Bedarf zur Korrektur für das belegte Fehlverhalten einräumte.
Die Gründe für ein solches Verhalten der Kassen sind unklar – versprechen Kassen wie die AOK doch, dass sie zu ärztlichen Verordnungen in keinem Fall Alternativvorschläge machen würde. Gleiches versicherte auch der Dachverband der BKK gegenüber den DocCheck News. Da dies zudem ¾ aller DiGA-Rezepte ausmache und auch keine konkreten Beschwerden oder Verunsicherungen im Umgang mit DiGA bis zum Dachverband gelangen würden, könne man die Kritik so nicht nachvollziehen.
Ebenso klar vernimmt man jedoch auch nahezu seit Einführung der DiGA die Anstoßpunkte der Kassen, auf die sich bis heute bezogen wird – mangelnde Evidenz im Nutzen und zu hohe Preise. „Im ersten Jahr werden mitunter Herstellerpreise aufgerufen, die in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen. Es wäre zweckmäßig, sich am Preis der analogen Therapie zu orientieren. Es geht schließlich um Versichertengelder“, kritisierte Alexander Krauß, Leiter der TK-Landesvertretung Sachsen. Ähnlich positionierte sich auch Dr. Katrin Krämer, Abteilungsleiterin Versorgungsmanagement im AOK-Bundesverband: „[…] Mehr als ein Drittel der Befragten [einer AOK-Umfrage] wurden vom behandelnden Arzt oder Therapeuten nicht über die Funktionen der genutzten DiGA informiert. Außerdem gibt es unerwünschte Entwicklungen, etwa beim Markteintritt von DiGA. Aufgrund des beschleunigten Bewertungsverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zur Aufnahme von DiGA in die Leistungspflicht gesetzlichen Krankenkassen sind viele DiGA nur vorläufig gelistet. Das heißt, sie konnten noch keinen positiven Versorgungseffekt nachweisen.“
Dass die DiGA unabhängig von Beratung und Finanzierung stärker in die Versorgung eingebunden werden müssen, Transparenz und Klarheit bei Patienten wie auch Ärzten geschaffen werden muss, zeigen der letzte DiGA-Report sowie eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts. So könne eine stärkere Einbindung in die versorgungstechnische Praxis dabei helfen, verwaltungstechnische Fragen und Abläufe routinierter und sicherer zu machen. Für Kassen hätte das den Vorteil: Den Erklärungsansatz, dass mangelnde Kenntnis oder Unsicherheiten in der Handhabung dazu führten, dass die DiGA wenig genutzt werden, wäre dann ebenfalls nicht mehr stichhaltig.
Unterdessen bestätigt die Aufsichtsbehörde der gesetzlichen Krankenkassen, das Bundesamt für Soziale Sicherung, gegenüber den DocCheck News: „Vereinzelt gehen weiterhin neue Beschwerden von Unternehmen und Patienten ein; jeder dieser Beschwerden gegen die Krankenkasse wird seitens des BAS nachgegangen, sofern die Kasse unserer Aufsicht unterliegt.“
Bildquelle: Europeana, Unsplash