Pflanzen und Tiere sind oft die besten Vorbilder, wenn es um Wirkstoffe zur Pharmakotherapie geht. Wo Semaglutid, Enalapril und Tacrolimus ihren Ursprung haben, erfahrt ihr hier.
Forschende Pharmaunternehmen setzen bei der Entwicklung neuer Arzneistoffe unter anderem auf computerunterstützte Wirkstoffdesigns oder auf Screenings großer Substanzbibliotheken. Aus Assoziationsstudien wiederum kommen Hinweise auf neue Indikationen bekannter Moleküle. Doch einige Blockbuster haben ihren Ursprung weder am Computer noch im Reagenzglas.
Ungeahnte Möglichkeiten stecken im Gift der brasilianischen Jararaca-Lanzenotter (Bothrops jararaca). Ihr Biss kann zum rapiden Abfall des Blutdrucks führen. Ab den späten 1960er-Jahren untersuchten Forscher deshalb Inhaltsstoffe des Sekrets hinsichtlich antihypertensiver Eigenschaften. Sie fanden Inhibitoren des Angiotensin-Converting Enzyme (ACE): Die Geburtsstunde der ACE-Hemmer hatte geschlagen.
Doch biologisch aktive Peptide waren aufgrund ihres schnellen enzymatischen Abbaus zu instabil. Dies führte zur Entwicklung einer synthetischen Version in Form von Captopril. Der Wirkstoff wurde 1974 bei Squibb (heute Bristol-Myers Squibb) entwickelt und 1981 zugelassen. Obwohl Captopril heute an Bedeutung verloren hat, führten Erfahrungen mit dem Wirkstoff zur nächsten Generation von ACE-Hemmern wie Enalapril.
Streifen-Kegelschnecke. Credit: David Burdick/Wikimedia Commons, CC0
Auch die Gifte von Land- und Meerestieren gelten als vielversprechende Quelle für medizinische Wirkstoffe. Kegelschnecken (Conidae) sind dafür bekannt, dass sie eine Vielzahl von Giftpeptiden produzieren, mit denen sie nicht nur ihre Beute unbeweglich machen. Schätzungsweise 30 Menschen sollen bisher durch das Gift gestorben sein. Der harpunenartige Radularzahn von Kegelschnecken durchdringt sogar Neopren-Anzüge. Überlebende berichten, kaum Schmerzen verspürt zu haben: ein Hinweis auf die analgetische Wirkung.
Aus den Sekreten isolierten Forscher Conotoxine. Das sind kurze Peptide aus 10–30 Aminosäuren. Sie binden an Ionenkanäle zwischen Nervenzellen und unterbrechen die Reizweiterleitung. Etliche Conotoxine lassen sich im Labor herstellen. Eine synthetische Version wird in Ziconotid verwendet, einem zyklischen Peptid aus 25 Aminosäuren. Es wird als Analgetikum intrathekal appliziert.
Streptomyces sp. Credit: CDC/Wikimedia Commons, CC0
Auch die Calcineurin-Inhibitoren Pimecrolimus und Tacrolimus sind natürlichen Ursprungs. Sie gehören zu den Makroliden, sprich zu Molekülen, die im Stoffwechsel mancher Bakterien oder Pilze vorkommen. Tacrolimus stammt aus dem Bakterium Streptomyces tsukubaensis; Pimecrolimus wurde im Ferment von Schlauchpilzen (Ascomyceten) entdeckt.
Orales Tacrolimus wird als Immunsuppressivum bei Organtransplantation verwendet. Es eignet sich als Creme auch zur Therapie beim atopischen Ekzem. Pimecrolimus wird ebenfalls äußerlich beim atopischen Ekzem und bei ähnlichen Krankheitsbildern verordnet.
Aus Bakterien kommt ein weiteres, allseits bekanntes Molekül: das Botulinumtoxin. Es ist eines der stärksten natürlich vorkommenden Gifte. Der erste dokumentierte Fall ereignete sich 1793 in einem Dorf im heutigen Baden-Württemberg. Dreizehn Menschen erkrankten und sechs starben, nachdem sie mit Blutwurst gefüllten Schweinemagen gegessen hatten.
In den folgenden Jahrzehnten häuften sich Vergiftungen. Zwischen 1817 und 1822 veröffentlichte der Arzt Justinus Kerner die erste vollständige Beschreibung der Symptome von Botulismus („botulus“: „Wurst“). Er kam zu dem Schluss, dass sich unter anaeroben Bedingungen in verderbenden Fleischprodukten ein Toxin bildet. Bereits damals stellte Kerner die Hypothese auf, dieses „Wursttoxin“, wie er es nannte, könnte zur Behandlung einer Vielzahl von Krankheiten eingesetzt werden, die mit einem überaktiven Nervensystem in Verbindung stehen.
Doch das sollte dauern. Ab 1973 begannen klinische Studien. Die US-Arzneimittelbehörde (FDA) gab in 1989 grünes Licht für das erste Präparat zur Therapie von Nystagmus und Blepharospasmus. Bald darauf folgten Zulassungen für Spastiken der Gesichtsmuskulatur und der Beine, für Torticollis spasmodicus und für Sialorrhoe. In 1992 fanden Ärzte heraus, dass Botulinumtoxin A Hautfalten glättet; die Zulassung dafür folgte in 2002.
Gila-Krustenechse. Credit: Jeff Servoss/Wikimedia Commons, CC0
Auch der Blockbuster Semaglutid hat seinen Ursprung in der Natur. Und das kam so: Wissenschaftler fanden im Gift der Gila-Krustenechse (Heloderma suspectum) mehr als ein Dutzend Peptide und andere Substanzen, darunter Helodermin, Helospektin, Exendin-3 und Exendin-4.
Exendin-4 ähnelt dem Hormon GLP-1, das nach dem Essen freigesetzt wird und für die Kontrolle des Blutzuckerspiegels beim Menschen wichtig ist. Die Wirksamkeit beruht darauf, dass das Protein der Krustenechse zu 53 Prozent mit GLP-1 identisch ist. Aus der Forschung ging im Jahr 2005 der GLP-1-Agonist Exenatid zur Therapie von Typ-2-Diabetes hervor, gefolgt vom langwirksamen Derivat Semaglutid.
Weide. Credit: Willow/Wikimedia Commons, CC BY 2.5
Arzneimittel aus der Weidenrinde (Salix) und aus anderen Salicylat-reichen Pflanzen werden schon auf Tontafeln der Sumerer sowie auf dem Papyrus Ebers aus dem alten Ägypten erwähnt. Hippokrates empfahl um 400 v. Chr. einen Tee aus Weidenrinde zur Fiebersenkung. Mitte des 18. Jahrhunderts tauchten erstmals Extrakte dieser Pflanze auf. Doch gastrointestinale Nebenwirkungen waren das größte Problem.
Im Jahr 1897 begannen Wissenschaftler der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. mit der Herstellung von Salicylsäure-Derivaten als verträglicherem Ersatz für Salicylat-Standardmedikamente der damaligen Zeit. Reine Acetylsalicylsäure wurde von Felix Hoffmann in Zusammenarbeit mit Arthur Eichengrün hergestellt. Seit 1899 findet Aspirin® seinen Weg in Apotheken. Der Name leitet sich ab aus „A“ (Acetylgruppe), „spir“ (Spierstaude, also Mädesüß, eine Salicylsäure-haltige Pflanze bzw. Spirsäure als alter Begriff für Salicylsäure) und „in“ als damals häufige Endsilbe für Pharmaka. Neben ihren analgetischen, antiphlogistischen und antipyretischen Eigenschaften schätzten Ärzte die thrombozytenaggregationshemmenden Effekte.
Gelber Steinklee. Credit: Matt Lavin/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0
Neben Thrombozytenaggregationshemmern sind Vitamin-K-Antagonisten wichtige Arzneistoffe der Kardiologie. Die Geschichte von Warfarin reicht bis in die 1920er-Jahre zurück, als in den USA und in Kanada Rinder an einer mysteriösen Blutgerinnungsstörung gestorben sind, mit unklarem Auslöser. Schließlich identifizierten Chemiker Steinklee als Ursache. Sie isolierten Dicumarol, entstanden durch die Fermentierung von Steinklee. Das Molekül wurde ab 1938 zur Behandlung oder Vorbeugung von Thrombosen eingesetzt. Es war Grundlage der Entwicklung von Warfarin.
Weitere Inspirationen kamen vom Blutegel (Hirudo medicinalis). Er spritzt Verbindungen wie Hirudin und Calin in Wunden, um die Blutgerinnung seiner Opfer zu verhindern. Die Blutegeltherapie gehört mit zu den ältesten Heilmethoden; erste Überlieferungen kommen ca. 3.000 v. Chr. aus Mesopotamien. Auch Galenos von Pergamon und Gelehrte des Mittelalters erwähnen Blutegel, jedoch in Zusammenhang mit dem damals allgegenwärtigen Aderlass. 1955 isolierte Fritz Markwardt dann erstmals Hirudin aus Blutegelköpfen. Die gerinnungshemmenden Medikamente Bivalirudin und Desirudin leiten sich vom Hirudin ab. Sie werden zur Vorbeugung von Thrombosen während einer perkutanen Koronarintervention oder zur Prophylaxe tiefer Beinvenenthrombosen verordnet.
Bleibt als Fazit: Die biologische Vielfalt ist immens – und Forscher sind ständig auf der Suche nach neuen Wirkstoffen. So manches Molekül wartet noch darauf, entdeckt zu werden. Denn viele Organismen, etwa Korallen, Schwämme oder Mikroorganismen, enthalten immer noch einzigartige chemische Verbindungen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney