Was passiert eigentlich bei Nahtoderfahrungen – spielt uns das Gehirn unter Hypoxie einen Streich oder steckt doch mehr dahinter? Neurologen, Psychotherapeuten und Hirnforscher liefern mögliche Erklärungsansätze.
Was passiert, wenn wir sterben? Es ist eine Frage, die die Menschheit schon lange beschäftigt. Neben alten religiösen Lehren und philosophischen Theorien möchte auch die Wissenschaft Antworten liefern. Dank moderner Diagnostik und Bildgebung wird das immer besser möglich, aber es bleibt auch einiges ungeklärt. Denn Fakt ist: Menschen, die versterben, kann man nicht mehr zu ihren Eindrücken befragen und bei denjenigen, die nach einem Herzstillstand wieder zu Bewusstsein kommen, könnte das noch aktive Gehirn Halluzinationen oder Traumbilder erzeugt haben, an die sich die Person später erinnert. Und Gedanken oder Träume lassen sich (noch) nicht wirklich darstellen.
Der Allgemeinmediziner Dr. Wolfgang Knüll ist der Überzeugung (zum Interview kommt ihr hier), dass es sich bei Nahtoderfahrungen um ein Phänomen handelt, das nicht allein durch das Messen von elektromagnetischen Wellen im Gehirn erklärbar ist: „Eine Nahtoderfahrung ist immer subjektiv und subjektive Dinge können Sie nicht objektiv prüfen.“ Ein Erlebnis mit einem Patienten brachte Knüll vor 45 Jahren zum Nachdenken. Er holte einen älteren Herrn mit Herzstilstand erfolgreich ins Leben zurück. „Wir waren alle unheimlich glücklich und begeistert. Doch der alte Herr war mürrisch – es gefiel ihm gar nicht und er sagte zu mir: ‚Oh, das war so schön, das Licht‘. Er hatte auch einen Verwandten gesehen, Bruder oder Schwager.“ Dabei sei der Mann minutenlang komplett bewusstlos gewesen. „Ich schätze, wir haben ihn vier, fünf Minuten bearbeitet. Und dann habe ich gedacht: Wie kann das sein? Der kann sich doch gar nicht erinnern.“
Knüll beschäftigt sich seither mit dem Thema und ließ sich in seiner Zeit als praktizierender Allgemeinmediziner noch weitere Eindrücke von Patienten schildern, las viele Veröffentlichungen zu dem Thema – die bekannteste ist wohl die 2001 im Lancet erschienene Studie von Pirn van Lommel – und nahm mit Autoren und Forschern Kontakt auf. Er vertritt die These, dass unser Bewusstsein nicht (nur) an das Gehirn gebunden ist.
Aber welche Fakten liefert die Wissenschaft nun zu Nahtoderlebnissen? Werden sie vom sterbenden Gehirn produziert, oder handelt es sich um ein Ereignis, das wir uns mit aktuellem Wissensstand wirklich noch nicht erklären können?
Setzen Herz und Atmung aus, sinkt nach wenigen Sekunden die Sauerstoffkonzentration im Gehirn. Der Mensch verliert das Bewusstsein, weil die Neuronen in eine Art Sparmodus schalten, sie hyperpolarisieren. Nach 30 bis 40 Sekunden erlischt die gesamte Aktivität des Gehirns – so der bisherige Stand der Forschung. Aber die Nervenzellen sind dann noch nicht unwiederbringlich geschädigt. „Zuerst kommt eine Phase ohne Aktivität, in der die Neurone lediglich gehemmt, aber noch lebendig sind. Sobald die Durchblutung erneut einsetzt, arbeiten sie wieder normal“ erklärt Neurologe Jens Dreier den Vorgang. Dreier ist Professor am Zentrum für Schlaganfallforschung Berlin (CSB) und Oberarzt der Neurologischen Klinik der Charité. Er erforscht Gehirnschäden bei Schlaganfällen und sogenannte Spreading Depolarizations, also große Aktivitätswellen, die bei verschiedenen Hirnerkrankungen – aber eben auch beim Sterben – entstehen können.
Was passiert, wenn die Durchblutung des Hirns erstmal unterbleibt, erklärt er so: Um die Hyperpolarisation aufrechtzuerhalten, braucht die Zelle Energie. „Der Körper produziert diese normalerweise aus Glukose und Sauerstoff. Gibt es nicht mehr genug davon, können die Membranpumpen, die das Spannungsgefälle erzeugen, nicht mehr arbeiten. Nach ein paar Minuten entsteht eine riesige Depolarisationswelle, auch terminale Spreading Depolarization genannt, bei der sich die Nervenzellen ähnlich wie bei einem Kurzschluss nacheinander entladen. Wir haben sie 2018 erstmals beim Menschen nachgewiesen.“ Die bei Nahtoderlebnissen beschriebenen Lichterscheinungen könnten seiner Meinung nach auf diesen Prozess zurückzuführen sein.
Während dieser Welle steige z. B. die Kalziumkonzentration um das Tausendfache an. Erstaunlicherweise könnten die Zellen diesen Zustand aber für einige Zeit überleben. Wie lange dieses Zeitfenster dauere, hänge von Faktoren wie der Außentemperatur und dem Lebensalter des Menschen ab. Depolarisationswellen treten also Dreier zufolge bei Schlaganfällen lokal, beim Sterben aber im gesamten Gehirn auf. Und noch etwas fanden er und sein Team heraus: Auch bei der Migräneaura konnte eine globale Depolarisationswelle, ähnlich der beim sterbenden Gehirn, gezeigt werden. „Sie ist viel größer als jeder epileptische Anfall – sowohl bei der Migräneaura als auch kurz vor dem Tod! Bei Ersterer hinterlässt sie aber fast nie Folgeschäden“, erklärt der Neurologe. Einer Kopenhagener Umfrage zufolge gäbe es tatsächlich eine Assoziation mit Migräneauren und der Häufigkeit von Nahtoderfahrungen von Menschen. „Allerdings sind das lediglich vage Hinweise.“ Weitere Studien hierzu liefen momentan aber.
Zur Funktionalität unseres Gehirns nach Herz-Kreislaufstillstand gibt es stetig neue Erkenntnisse. US-Forscher veröffentlichten vor Kurzem ein Paper, in dem sie vier sterbende Menschen vor und nach dem Abstellen lebenserhaltender Maßnahmen an ein EEG angeschlossen haben. Bei zwei von ihnen konnten sie einen sprunghaften Anstieg der Gammawellenaktivität in einem Bereich des Gehirns messen, der für Bewusstsein, Träume und Halluzinationen verantwortlich ist – dieser Vorgang schien durch globale Hypoxie stimuliert zu werden. In einer älteren Studie der Gruppe konnten sie Ähnliches schon bei sterbenden Ratten feststellen und diesen Vorgang nun ebenfalls beim Menschen nachweisen.
In einer weiteren aktuellen Veröffentlichung von Forschern aus New York wurden Patienten mit Herzstillstand während ihrer Reanimation u. a. mittels EEG und Sauerstoffmessung untersucht. Von 567 eingeschlossenen Teilnehmern überlebten 53 Patienten (9,3 %) und 28 von ihnen – also etwa die Hälfte – wurden von den Forschern anschließend zu ihren Erinnerungen befragt. Von diesen 28 hatten 11 (39 %) Erinnerungen an die Wiederbelebungsmaßnahmen und 6 (21 %) berichteten von transzendenten Erlebnissen.
Das Erstaunliche: Trotz teilweise ausgeprägter zerebraler Ischämie (mittlere zerebrale Sauerstoffsättigung rSO2 von 43 %) zeigte sich bei manchen Probanden (nur bei n = 53 waren EEG-Ergebnisse auswertbar) teilweise noch 35–60 Minuten nach Beginn der Herz-Lungen-Wiederbelebung EEG-Aktivität (Delta-, Theta- und Alpha-Wellen), die, laut der Autoren, mit vorhandenem Bewusstsein und „einer möglichen Wiederaufnahme eines Netzwerks kognitiver und neuronaler Aktivitäten vereinbar sind“. Es handle sich dabei um den ersten Nachweis dieser Art, schreiben sie.
Knüll kann sich nicht vorstellen, wie man während einer Reanimation ein EEG ableiten will, das völliger Ruhe bedarf. „Es gab jeweils nur eine minimale Sekundenpause, wo man schaute, ob Puls oder Herzaktivität da war, dann ging die Reanimation weiter. Reicht das für muskuläre Ruhe und EEG?“ Mit seiner Bewertung schließ er sich der Kritik von van Lommel und Kollegen an. Auch betont er immer wieder: „Was misst man? Immer nur elektromagnetische Wellen, die keinesfalls das erweiterte Bewusstsein einer Nahtoderfahrung abbilden, mit einem Lebenspanorama, das Jahrzehnte in voller Länge zeigt, während die Erfahrung nur ein paar Minuten dauert. […] Viel Unsicherheit also, aber auf jeden Fall interessant und des Forschens wert.“
Aber was ist mit den anderen Bestandteilen von Nahtoderlebnissen? Neben der Tunnel- oder Lichterfahrung zählen hierzu die außerkörperliche Erfahrung (Out-of-body-Erfahrung, OBE), das Lebenspanorama, Begegnungen mit Verstorbenen, die Expansion des Bewusstseins, die Erfahrung anderer Welten, oder das Wahrnehmen einer Grenze. Immer wieder scheinen sich diese Komponenten zu wiederholen – unabhängig von Alter, Religion und Region.
„Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist es wichtig, zu zeigen, dass all diese Phänomene in Zusammenhang mit Hirnprozessen (zu Lebzeiten) auftreten; niemand ist hier tot, auch nicht vorübergehend“, sagt der Bonner Neuropsychologe und Hirnforscher Dr. Christian Hoppe auf Nachfrage von DocCheck. Neurowissenschaftler wie Hoppe und Dreier haben Erklärungen, wo andere Fragen stellen. Denn es gibt Substanzen, die die beschriebenen Erfahrungen auslösen können. „Die beiden wichtigsten sind Ketamin und Dimethyltryptamin (kurz: DMT)“, erklärt Dreier im Zusammenhang mit der Forschung an Depolarisationswellen. „Das Interessante […] ist, dass sie [diese Wellen] hemmen.“
Seine Theorie: „Möglicherweise setzt der Körper in Notsituationen ähnliche Stoffe frei, um die Spreading Depolarization zu verhindern oder hinauszuzögern. Die Nahtoderlebnisse könnten also auf die Wirkung dieser ‚inneren Drogen‘ zurückgehen und nicht auf die Welle selbst. Erst das helle Licht wäre ein Hinweis darauf, dass bereits Teile des Gehirns von der Welle betroffen sind. Aber das ist natürlich reine Spekulation.“ Auch Hoppe findet die Theorie einleuchtend: „Berichte über entsprechende Rauscherlebnisse sind für Außenstehende von Berichten über ‚echte NTE‘ nicht sicher zu unterscheiden.“
Bei der OBE spiele beispielsweise die Integrität der temporoparietal junction – in der Sinneseindrücke vom Sehen, Körperempfindung und Gleichgewicht koordiniert werden – eine wichtige Rolle, so Hoppe. „Während einer außerkörperlichen Erfahrung ‚fehlt‘ der Körper in gewisser Weise infolge einer Störung in dieser Hirnregion. Es kommt dann einerseits zum Gefühl des ‚floating‘ – man schwebt leicht und frei. Andererseits hat das visuelle System im Körper keinen perspektivischen Anker mehr, sodass es ein visuelles Weltmodell aus einer objektiven Perspektive eines Dritten erzeugt. Letzteres ist uns von Erinnerungen wohlbekannt, im Zusammenhang mit unmittelbarer Wahrnehmung jedoch hocherstaunlich (aber nicht unerklärlich). […] Am ehesten handelt es sich bei diesen Erfahrungen um eine sehr realitätsnahe Simulation (klinisch: Halluzination) aus der Perspektive einer dritten Person.“
Auch Dr. Ahmed El-Kordi, psychologischer Psychotherapeut, ist Verfechter der neurowissenschaftlichen Hypothesen: „Man kann diese Erlebnisse und wo sie entstehen mittlerweile sehr gut im Hirn kartieren“, erklärt er auf Nachfrage von DocCheck. Außerkörpererfahrungen könne man auch experimentell hervorrufen, wenn man die entsprechenden Bereiche im Gehirn stimuliert oder diese auch durch Drogen induziert. „Aus der Psychoseforschung wissen wir, dass der glutamaterge NMDA-Rezeptor bei der Generierung bzw. Entstehung von akustischen Halluzinationen mitbeteiligt ist. Das zeigen Forschungsergebnisse, bei denen der Rezeptor durch den NMDA-Antagonisten Ketamin blockiert wurde. Die Zusammenhänge sind aber – wie bei den meisten neurobiologisch-psychologischen Fragestellungen – komplex und nicht linear.“
Die Blockade vom NMDA-Rezeptor könne sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten haben. Menschen, die z. B. pflanzliche halluzinogene wie Ayahuasca konsumieren, würden ebenfalls von Licht- oder Tunnelerlebnissen und außerkörperlichen Erfahrungen berichten. Sehr verbreitet sei die stimmungsaufhellende Wirkung und visuelle/akustische Halluzinationen. „Natürlich ist das Phänomen, was bei Nahtoderfahrungen beschrieben wird, nicht nur auf Halluzinationen reduzierbar. Es geht hier um mechanistische Erklärungsmodelle, die naturgemäß vereinfachend sind und nur einige Aspekte des Phänomens beleuchten können.“
Aus persönlichkeitspsychologischer Sicht gebe es außerdem Menschen, die nicht gut zwischen Realität, Traum und Halluzination unterscheiden können und auch Menschen mit eingeschränkter Realitätskontrolle. Manche Personen hätten eine starke Dissoziationsneigung oder seien beispielsweise leichter hypnotisierbar als andere. „Auch schizotype Persönlichkeitsmerkmale lassen einen Menschen leichter zugänglich für ungewöhnliche Denkinhalte sein. Diese Personen können zu ‚magischem Denken‘ neigen und haben oft außergewöhnliche Erfahrungen.“ Sie würden häufiger von Nahtoderfahrungen oder auch außerkörperlichen Erlebnissen berichten. Wie wir die Welt sehen und interpretieren, hänge von unserem jeweiligen kognitiven Stil ab. Er beeinflusse die verbale und emotionale Darstellung von dem, was wir erleben.
Auch für das Sehen verstorbener Angehöriger hat El-Kordi eine Erklärung: „Was man wahrnimmt oder woran man sich erinnert, hängt vom Aktivierungsmuster im Gehirn ab. Eine erhöhte Aktivität im Okzipitallappen kann dann dazu führen, dass man den Eindruck hat, dass man etwas sieht. Unter Stress – und das ist ja der Fall bei einem Herzinfarkt, Unfall, etc. – können die Zeitwahrnehmung und andere Wahrnehmungsbestandteile verändert sein. Dabei kann auch ein Teil des biographischen Gedächtnisses aktiviert werden.“ Unser Gehirn arbeite außerdem sehr kontextbasiert. „Wenn man traurig ist, erinnert man sich eher an traurige Dinge, wenn man glücklich ist, an erfreuliche Dinge – ein Phänomen aus der Gedächtnispsychologie, was wir stimmungskongruente Erinnerung nennen. Rein theoretisch: Wenn man sich für tot hält, dann erinnert man sich an Menschen, die man mit dem Tod oder mit der Verlusterfahrung assoziiert.“ Genauso beschreibt er kulturelle Prägungen und gesellschaftliche Einflussfaktoren bei Nahtoderlebnissen: „Wir sehen das, woran wir glauben – und das ist von gesellschaftlich-kulturellen und religiösen Aspekten geprägt.“
Knüll ist da anderer Meinung: „Zeugen bestätigen das, was die Nahtoderfahrenden in tiefer Bewusstlosigkeit gesehen haben. Und diese Zeugen sind Ärzte, Professoren, Krankenhauspersonal, Angehörige.“ Er hat in seinem Buch Berichte von Menschen mit Nahtoderfahrungen gesammelt, die veröffentlicht wurden. Sie sollen ihre eigene Reanimation detailliert wiedergegeben haben, den Inhalt verstaubter Etiketten auf Schränken und andere Details aus dem OP rezitiert haben, oder die Gedanken des anwesenden Personals im Nachhinein genau beschrieben haben. Wissenschaftlich sind diese anekdotischen Berichte gewiss nicht, aber eindrücklich sind sie allemal.
Hirnforscher Hoppe sieht eine klare Trennung zwischen der subjektiven Erfahrung Betroffener – die durchaus beeindruckend und lebensverändernd sein kann – und der wissenschaftlichen Betrachtung. „Die anekdotischen Berichte sind […] teils sehr geschickt angelegt und für Laien nicht zu durchschauen. Die Berichte entwickeln sich per stiller Post regelrecht zu Legenden des Dualismus/Idealismus.“ Auch für ihn scheint beispielsweise das Sehen von verstorbenen Angehörigen mit einer Aktivierung von Langzeitgedächtnisinhalten zusammenzuhängen. „Im Einzelnen [ist das] nicht erklärt. So wenig wie jede andere Erinnerung im Einzelnen erklärt ist.“
Jeder könne sich seine eigene Vorstellung davon machen, was nach unserem Ableben passiere. Wo Knüll von einem gehirnunabhängigen Bewusstsein spricht, möchte Hoppe aber eine eindeutige Grenze ziehen: „Es muss […] klar sein, dass es hierzu wissenschaftliche Forschung mit einem Ergebnis gibt, das manchen einfach nicht gefällt: Psychische Fähigkeiten und Phänomene hängen am seidenen Faden intakter Hirnfunktion – und sie enden mit diesen.“
Bildquelle: xandtor, Unsplash