Herr Bohr stapft wütend ins Sprechzimmer. Eine Frechheit, dass er so lange warten musste. Alle anderen wären vor ihm dran gewesen – nächstes Mal gehe er lieber gleich in die Notaufnahme! Ich frage mich: Warum diskutiere ich eigentlich noch?
An einem klassischen Vormittag in der Praxis, der von einer langen Schlange vor dem Anmeldetresen, hustenden Patienten (zu der Zeit noch mit Maske aufgrund der Coronapandemie) und nasskaltem Winterwetter geprägt war, kam ein Mann in mein Sprechzimmer. Er war Anfang 50, trug Anzug und Hemd und seine frisierten Haare sowie der Aktenkoffer implizierten, dass er eigentlich noch zur Arbeit gehen wollte. Nun war es bereits 10:30 Uhr und er hatte laut meiner Patientenliste über eine Stunde warten müssen.
Seine Miene war muffig, als er das Zimmer betrat – was zu sehen war, weil er die Maske unter dem Kinn trug. Der Gang war beinahe aggressiv und die Stimmung suboptimal, um es nett auszudrücken. Den Hinweis, seine Maske angesichts der Infektionsgefahr bitte richtig über Mund und Nase zu ziehen, schob ich gedanklich etwas weiter nach hinten, da die negativen Schwingungen zu deutlich waren und ich das Gefühl hatte, in der Situation erst einmal deeskalieren zu müssen.
Da legte er auch schon los mit seiner Schimpftirade: „Wieso muss man eigentlich so lange warten, wenn man zu euch Ärzten will?! Seit anderthalb Stunden sitze ich da draußen und alle sind vor mir dran. ALLE! Ich habe das beobachtet, die sind alle nach mir gekommen!! Ich muss heute irgendwann mal noch ins Büro!“
„Herr Bohr“, sage ich beschwichtigend, doch da fällt er mir gleich wieder ins Wort. „ICH HAB ES DOCH GESEHEN!“
„Zum einen, Herr Bohr, kann es durchaus sein, dass es in der Praxis mal Notfälle oder auch sehr kranke Menschen gibt, die werden natürlich vorgezogen. Das würden Sie sich sicher auch wünschen, wenn Sie sich kaum auf den Beinen halten könnten. Und leider gibt es aktuell viele sehr kranke Menschen mit echter Grippe, die können keine Stunde warten.“ Er brummelt vor sich hin und zieht seine Maske hoch. Corona hat ihn offenbar nicht beeindruckt, aber eine echte Grippe scheint er nicht bekommen zu wollen.
„Zum anderen“, führe ich fort, „haben wir ja nicht nur Patienten für die Sprechstunde hier. Es gibt Menschen, die ins Labor gehen, manche haben Anwendungen oder Infusionen und wieder andere haben einen festen Termin bei den Kollegen. Die Menschen werden dann auch mal vor Ihnen aufgerufen. Wenn Sie in die Akutsprechstunde kommen, müssen Sie Zeit mitbringen. Dafür können Sie jeden Tag einen Arzt oder eine Ärztin sehen und ihre Probleme werden am gleichen Tag behandelt.“ „Aber das muss doch trotzdem schneller gehen!“ Er kann sich noch nicht beruhigen. „Sonst gehe ich eben in die Notaufnahme!“
Die Notaufnahme als Allerweltsretter. Die Zeiten sind leider auch schon länger vorbei. „Da warten Sie noch länger, glauben Sie mir. Die Notaufnahme ist für Notfälle gedacht, nicht für Menschen, die nicht warten wollen.“ „Aber ich bin ein Notfall!“, interveniert er. Damit kommen wir endlich mal zum Punkt, warum er da ist. In der Zeit, in der wir diskutiert haben, hätte ich wahrscheinlich schon den nächsten Patienten rufen können. „Ich habe Rückenschmerzen seit gestern! Aber wie. Ich kann kaum laufen!“
Als er wütend ins Sprechzimmer gestürmt kam, sah sein Gang recht mobil aus, aber wahrscheinlich hat die Wut ihn beflügelt. Ein Notfall ist er jedenfalls nicht, denn mit einem Bandscheibenvorfall oder ernsten Gründen für seine Schmerzen hätte er ein anderes Gangbild gehabt. Aber selbstverständlich untersuche ich ihn und bitte ihn, sich freizumachen und vor mich hinzustellen. Er hat Muskelverhärtungen, keinen Klopfschmerz über der Wirbelsäule und den Nierenlagern, ist gut beweglich. Kein Fieber, kein Kribbeln in den Beinen oder Lähmungserscheinungen. Die Red Flags, die es nicht zu übersehen gilt, sind unauffällig und ich kann ihn beruhigen.
„Herr Bohr, es spricht zum jetzigen Zeitpunkt nichts für einen Bandscheibenschaden oder ein ernstes Problem. Rückenschmerzen sind meist unspezifisch, das heißt, dass sie keine schwerwiegende Ursache haben und mit Bewegung und Schmerztherapie innerhalb weniger Wochen verschwinden. Sie sind meist durch Verspannungen und auch durch Stress verursacht.“ „WOCHEN?! Aber ich habe Schmerzen!“ Er schaut mich genervt an. „Sie bekommen nun ein Rezept für ein Schmerzmedikament und einmal sechs Einheiten Krankengymnastik. Bewegen Sie sich zuhause ausreichend, stehen Sie auch mal vom Schreibtisch auf, wenn Sie arbeiten. Bauen Sie immer wieder Bewegung in den Alltag ein, auch eine Wärmflasche am Abend kann helfen. Außerdem kann ich Ihnen nur empfehlen, die Rückenmuskulatur aufzubauen.“
„Aber ich brauche eine Spritze! Oder eine Infusion!“
„Die berühmten Spritzen mit Kortison und Schmerzmedikamenten sind in den Leitlinien nicht mehr empfohlen und können mehr Probleme machen als sie nutzen. Muskelabszesse oder Nekrosen, Nervenverletzungen. Das macht man einfach nicht mehr. Und für eine Infusion ist es noch zu früh, wir müssen ja erstmal schauen, ob sich Ihre Schmerzen nicht mit den bewährten Methoden beheben lassen.“ „Und dafür zahle ich jeden Monat so viel Geld an die Krankenkasse? ICH zahle EUCH Ärzten so viel Geld!“
Atmen. Ich atme tief ein und aus. „Nein, Herr Bohr. Eine Arztpraxis bekommt für einen Kassenpatienten pro Quartal etwa 45 Euro, dafür kann er so oft kommen, wie er möchte und es notwendig ist. Nur bei speziellen Umständen gibt es Sonderbezahlungen für uns von den Kassen.“
„Und wo geht mein ganzes Geld dann hin?!“
„An die Krankenkassen. Wir haben ein System, bei dem alle gesetzlich Versicherten einzahlen und das Geld wird zur Behandlung aller Versicherten eingesetzt, nicht nur für Sie.“
„Ich will aber nicht für alle zahlen!“
„Aber alle anderen zahlen auch für Sie.“
So funktioniert unser System, man nennt es Solidaritätsprinzip. Ich als Gesunder zahle genauso in die Kasse ein wie ein Kranker. Solange ich gesund bin, habe ich nicht viel davon – außer vielleicht mal eine Krankmeldung bei Erkältung oder ein Rezept für ein Antibiotikum bei Angina. Sollte ich aber schwer krank werden, werden aus dem Topf die Operation, die Intensivstation oder die Reha bezahlt.
Ich muss langsam mit der Sprechstunde weitermachen und ärgere mich, dass ich mich auf diese Diskussion eingelassen habe. Aber ich kann auch nicht auf mir sitzen lassen, wenn jemand denkt, die monatlichen Zahlungen an die Versicherungen würden 1:1 an uns als Praxis weitergegeben, damit wir uns die Taschen vollstopfen. Ein gigantisches Konstrukt namens Gesundheitssystem muss damit finanziert werden. Man könnte es die Titanic nennen, die aktuell auf den Eisberg zurast.
Ich stehe auf und beende damit das Gespräch. Er versteht den Hinweis. „Wenn Ihre Behandlung nicht hilft, gehe ich in die Notaufnahme!“ Ich nicke, als ich die Tür öffne und zum Drucker gehe, um sein Rezept zu unterschreiben. „Sie können jederzeit wiederkommen, wenn es nicht besser wird.“ Das ist nämlich im Preis inkludiert: Sie gehen mit dem berühmten Krankenkassenkärtchen in Ihre Praxis, lassen es einmal durchziehen und dürfen dann so oft kommen, wie sie wollen und es brauchen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney