Jeder Mensch macht Fehler – auch Ärzte. Warum daran unser innerer Autopilot schuld ist und was wir tun können, um den Fehlerteufel zu bannen, lest ihr hier.
Medizinische Behandlungsfehler kommen immer wieder vor, der medizinische Dienst der Krankenkassen veröffentlicht dazu jedes Jahr eine Statistik. Im Jahr 2022 entstanden laut dem aktuellsten Bericht fast 2.700 Folgeschäden durch Behandlungsfehler. Dabei handelt es sich aber nur um die Fälle, die auch gemeldet wurden und bei denen tatsächlich ein kausaler Zusammenhang nachgewiesen wurde. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher geschätzt.
Ein häufiger Grund für medizinische Fehler sind ärztliche Fehlentscheidungen: eine wichtige Differentialdiagnose wird vergessen, eine eigentlich wichtige Untersuchung wird nicht angeordnet, die falsche Therapie wird gewählt. Die Beschäftigung mit solchen Fehlern ist unangenehm, das Zugeben wird oft als Scheitern erlebt und so werden Fehler häufig nicht beachtet. Die Gründe für solche Fehlentscheidungen liegen aber oft in der Art und Weise, wie wir Menschen denken und daran, dass wir keineswegs so rationale Wesen sind, wie wir vielleicht denken. Das Wissen um solche menschlichen Irrationalitäten in allen möglichen Denk- und Entscheidungsprozessen kann die Entstehung von Fehlern vermeiden und dazu führen, dass wir aus ihnen lernen.
Unsere Entscheidungsprozesse sind keineswegs so rational, wie man annehmen könnte. Unser Denken und damit unsere Entscheidungen unterliegen verschiedenen kognitiven Verzerrungen (im Englischen „cognitive bias“), die in unterschiedlichen Bereichen immer wieder beobachtet werden können. Um solche kognitiven Verzerrungen zu verstehen, wurde von den Psychologen und Kognitionswissenschaftlern Kahneman und Tversky das Denken als ein Zusammenspiel von zwei Systemen beschrieben: Danach gibt es ein schnelles System und ein langsames System (diese Einteilung ist auch namensgebend für den Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman).
Das schnelle System, auch System 1 genannt, ist dabei intuitiv, unbewusst und schnell. Das langsame System oder System 2 ist analytisch, bewusst und langsam. Wenn wir selbst beschreiben sollen, wie wir unsere Entscheidungen treffen, was wir denken und was wir tun, identifizieren wir uns überwiegend mit System 2. Wir schätzen uns selbst als rational ein, sind der Meinung, dass wir ein Problem Schritt für Schritt angehen und so zu einer Entscheidung kommen, nach der wir dann handeln. Dabei sind wir im Gegenteil standardmäßig darauf eingestellt, mit dem schnellen System 1 zu denken, welches anders funktioniert und fehleranfälliger ist. Das Denken mit System 1 ist aber eben nicht bewusst, sondern geschieht intuitiv, scheinbar ohne Anstrengung und wird deswegen von uns weniger als Denken wahrgenommen.
Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Systemen ist dabei hocheffizient. Alle Routineaufgaben werden erstmal von System 1 bearbeitet, die Denkarbeit läuft dabei automatisch und wie nebenher. Ein Beispiel ist das Autofahren auf einer Straße mit wenig Verkehr. Dabei hat System 1 die Kontrolle. Wir müssen uns nicht groß konzentrieren, können uns nebenher unterhalten oder der Radiosendung lauschen. Fahren wir jetzt aber zu einer unbekannten Kreuzung, auf der wir bei viel Gegenverkehr links abbiegen müssen, ist System 1 überfordert. In diesem Moment übernimmt System 2 – wir sind konzentriert und legen fest, zwischen welchen entgegenkommenden Autos genug Zeit ist, um abzubiegen. Dieses Denken mit System 2 nimmt unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, wir blenden das Gespräch oder das Radio aus.
Das Denken mit 2 Systemen funktioniert also so: Routine-Aufgaben werden von System 1 bearbeitet, System 2 bleibt im Standby-Modus und kontrolliert System 1. Bei komplexen Aufgaben, die System 1 überfordern, übernimmt dann System 2. In manchen Situationen ist die Kontrollfunktion von System 2 aber eingeschränkt. Dann kann es passieren, dass System 1 einfach weitermacht und es zu Denkfehlern und Fehlentscheidungen kommt.
Auch bei der täglichen Arbeit mit Patienten sind beide Systeme am Werk. Während zu Beginn des Berufslebens System 2 noch sehr aktiv ist (vielleicht erinnern wir uns, wie anstrengend die ersten Arbeitswochen waren und wie angestrengt wir über jeden Patienten nachgedacht haben), werden mit zunehmender Routine immer mehr Aufgaben von System 1 übernommen. Die Anamneseerhebung, klinische Untersuchung und die Entscheidung, welche Diagnostik nötig ist oder welche Behandlung empfohlen wird, laufen dann automatisch ab. Arztbriefe werden heruntergeschrieben, Medikamente angeordnet und Angehörige informiert, ohne dass wir bewusst und angestrengt nachdenken müssen. Dies führt dazu, dass wir deutlich schneller und effizienter arbeiten. Auch wenn System 1 die meiste Arbeit macht, bleibt System 2 im Hintergrund verfügbar – es ist sozusagen im Standby-Modus. Treffen wir zum Bespiel auf einen Patienten mit einer ungewöhnlichen Symptomkonstellation, wird System 2 aktiv. Wir müssen uns anstrengen, die Symptome unter einen Hut zu bekommen und denken intensiv über die nötigen nächsten Schritte in der Diagnostik und Therapie nach. Insgesamt also ein ziemlich gut abgestimmtes Spiel zwischen den beiden Systemen. Perfekt ist es aber nicht.
Kritisch sind vor allem Situationen, in denen System 2 eigentlich gebraucht wird, dies aber nicht merkt und System 1 stattdessen einfach weitermacht, obwohl es eigentlich nicht in der Lage ist, das vorliegende Problem adäquat zu bearbeiten. Dies kann beispielsweise passieren, wenn ein Warnsymptom sehr subtil ist und alles andere auf einen harmlosen „Standard“-Fall hindeutet. Stellen wir uns einen Patienten mit Leitsymptom Kopfschmerzen vor, dieser wird überwiegend von System 1 „bearbeitet“, was normalerweise auch wunderbar funktioniert. Der Patient wird anamnestiziert und untersucht, es wird eine Migräne-Attacke vermutet, körperliche Ruhe und ein Schmerzmittel empfohlen, der Patient ist beruhigt und nach Hause entlassen.
Dabei wird übersehen, dass der Patient ein untypisches Alter für eine Migräne-Attacke hatte und zudem von den Angehörigen als verändert beschrieben wurde, auch wenn er im Gespräch unauffällig erschien. Am Ende war die Ursache keine harmlose Migräne-Attacke, sondern eine Meningoenzephalitis. Bei diesem umrissenen Beispielfall hätte eigentlich System 2 aktiv werden müssen, da es dezente Hinweise gab, dass es sich eben nicht um einen „Standard-Fall“ handelte.
Wie kann man sicherstellen, dass System 2 aufmerksam bleibt und eingreift, wenn System 1 überfordert ist? Voraussetzung dafür ist ein grundlegendes Verständnis, wie wir Menschen denken und zu Entscheidungen gelangen und das Wissen, dass unser Denken und Entscheiden fehleranfällig ist. Auch gibt es bestimmte Umstände, die System 2 eher blockieren und so die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöhen. Schlafmangel schwächt zum Beispiel tendenziell die Kontrollfunktion von System 2 und führt zu einem ungehemmten System 1 – ein Argument für ausreichend Ruhephasen und möglichst geregelte Arbeitszeiten. Auch kann die regelhafte Anwendung von Checklisten, auf denen zum Beispiel Red-Flag-Symptome einzeln durchgegangen und abgehakt werden, zu einer Stärkung der Kontrollfunktion von System 2 führen.
System 1 macht übrigens immer die gleichen Fehler, die zu medizinischen Fehlentscheidungen führen können. Welche das sind und wie du sie vermeiden kannst, um bessere Entscheidungen zu treffen, erfährst du im nächsten Artikel dieser Serie.
Bildquelle: Pawel Janiak, Unsplash