Weil ich bei einem Routineeinsatz keinen Notarzt angefordert habe, werde ich zu einer Anhörung der ärztlichen Rettungsdienstleiter berufen. Davon eingeschüchtert rufe ich beim nächsten Mal Hilfe dazu – und werde prompt zur Schnecke gemacht.
Der Paragraf 2a des Notfallsanitätergesetzes zur eigenverantwortlichen Ausübung der Heilkunde durch Notfallsanitäter ist in Bayern nach wie vor ein Minenfeld. Am eigenen Leib habe ich massivsten Druck und absurde Drohungen der bayerischen ÄLRD (ärztlicher Leiter Rettungsdienste) erlebt, obwohl ich einfach nur meinen Job gemacht und Menschen geholfen habe. Der Grund dafür: Ich habe entgegen den Wünschen der bayerischen ÄLRD keinen Notarzt an die Einsatzstelle nachgefordert, nachdem ich ein nicht delegiertes Medikament eigenverantwortlich verabreicht habe.
Wieso ich keinen Notarzt nachgefordert habe, liegt für mich auf der Hand: Ich darf diese Maßnahmen durchführen, solange ich mich an die oben genannten gesetzlichen Vorgaben halte. Eine Nachforderung machte in diesem Fall keinen Sinn und hätte niemandem genutzt, außer dem Geldbeutel des Notarztes. Auch die Verantwortung wird mir der Notarzt rückwirkend nicht abnehmen, da ich selbst diese Maßnahme ja schon durchgeführt habe. Dazu kommt, dass es mir als Notfallsanitäter obliegt, über die Notwendigkeit eines Notarztes an der Einsatzstelle zu entscheiden.
Vorher ein kurzer Rückblick auf besagten Einsatz. Die Patientin hatte sich durch einen Sturz verletzt und erwartete meinen Kollegen und mich mit stärksten Schmerzen und bewegungsunfähig im Bett liegend. Erst ein Analgetikum erlöste sie von ihrer Pein. Wir mobilisierten sie und brachten sie ohne weitere Komplikationen bei nun erträglichen Schmerzen zur Diagnose und Behandlung in die Klinik. Ein alltäglicher Standardeinsatz, wie er sich etliche Male pro Tag in deutschen Großstädten abspielt.
Einige Zeit später erreichte mich eine Stellungnahmeaufforderung. Ich sollte erklären, wieso ich ein nicht delegiertes Medikament gegeben, aber keinen Notarzt an die Einsatzstelle nachalarmiert habe. Meine schriftliche Reaktion hat nicht ausgereicht: Ich musste im Rettungszweckverband antanzen und persönlich vorsprechen. Was als sogenanntes „Augenhöhe-Gespräch“ angekündigt war, entpuppte sich als grotesker Versuch, mich totzufahren. Ich betrat den lieblosen Besprechungsraum des Zweckverbandes. Schön getrennt durch einen überdimensionalen Tisch saß ich für das anstehende Gespräch verschiedensten Führungspersonen gegenüber. Darunter befand sich auch ein Jurist. Und ich selbst war nicht amüsiert, denn man hatte mir die Teilnehmerliste verschwiegen – vermutlich, weil ich mir sonst einen Anwalt mitgenommen hätte.
Das große Problem dieser illustren Runde war nicht meine Medikamentengabe, sondern einzig und allein meine nicht durchgeführte Notarztnachforderung und meine „grundsätzliche Einstellung“ zu den bayerischen Spielregeln im Rettungsdienst. Man konstatierte, ich dürfe außerhalb eines delegierten Algorithmus generell gar keine Analgesie ohne Arzt durchführen, denn es läge schließlich keine Lebensgefahr vor. Ein aus meiner Sicht klassischer Subsumtionsirrtum, denn es reicht auch, dass dem Patienten ein bloßer Schaden droht, damit ich als Notfallsanitäter tätig werden kann und muss. Man teilte mir mehrfach mit, entziehe man mir die Delegation, verliere ich meine Arbeitsfähigkeit. Ich wäre dann als Notfallsanitäter nicht mehr einsetzbar und all das fiele auch auf meinen Arbeitgeber zurück.
Machtausübung in alle Richtungen durch Drohung mit Delegationsentzug einer Delegation, die ich für meine tägliche Arbeit 30 Jahre lang nicht benötigt habe und die ich auch zukünftig nicht brauchen werde. Ich geriet dennoch unter massiven emotionalen Druck, denn ein Aberkennen der Delegation bedeutet zum Beispiel massive Schwierigkeiten bei Bewerbungen für einen anderen Arbeitgeber oder eine Beschäftigung als Praxisanleiter. Das könnte man durchaus als existenzgefährdend ansehen. Man hatte mich erfolgreich überfahren und so beugte ich mich zunächst den Vorgaben, die aus meiner Sicht jeglicher Rechtsgrundlage entbehrten. Mein Eindruck an dieser Stelle war, ich sitze vor Gericht – nur, dass es ganz im Stile von Judge Dredd keine Trennung der drei Gewalten mehr gab. Man hatte ein System der Überwachung geschaffen, kontrollierte und verfolgte potenzielles Fehlverhalten und konnte mit dem Entzug der Delegation dann auch gleich noch aburteilen.
Im darauffolgenden Jahr zog ich mir immer mehr den Unmut der Notärzteschaft durch die grundlosen Nachforderungen zu. Einer meiner nächtlichen Einsätze eskalierte dann grandios. Der Notarzt war schon beim Betreten des RTW mir und meinem Team gegenüber außerordentlich feindselig. Er verwickelte mich in eine Diskussion über den Unsinn meiner Nachforderung und fragte mich in Anwesenheit des kranken Patienten noch fachlich aus, wie der Lehrer einen störenden Schüler („Kennst du überhaupt den Unterschied zwischen Ringer-Laktat und Ringer-Acetat?“). Im Anschluss an diesen Einsatz bat er mich noch um ein Vier-Augen-Gespräch, um mir abermals meine Unzulänglichkeiten als Notfallsanitäter vor Augen zu halten.
Der psychische Druck, der auf uns Notfallsanitätern lastet, ist enorm. Es ist egal, wie wir es in Bayern machen: Es wird immer eine Instanz geben, die unzufrieden mit unserem Verhalten sein wird. Fordern wir nur zur Einhaltung der Vorgaben nach, greift uns der Notarzt an. Fordern wir nicht nach, gibt es Post vom ÄLRD. Das so etwas nicht gut für die Birne sein kann, versteht sich von selbst: Ein derartig perfides Konstrukt hat Auswirkungen auf unsere Arbeitsleistung, auf unsere Einsatzfähigkeit und auf unsere Motivation und Einstellung zum Rettungsdienst.
Aber auch für Patienten hat diese fragwürdige Politik schwerwiegende Konsequenzen. Ich habe mich mit Notfallsanitätern aller Organisationen unterhalten, die der gleichen Problematik unterliegen. Dabei kamen überall Abläufe zum Vorschein, von denen einige patientengefährdend sind:
In folgendem nächtlichen Einsatz wird die Absurdität des bayerischen Rettungsdienstsystems besonders sichtbar: Ich führte eine Analgesie durch und habe nach meinem Ärger mit dem ÄLRD einen Notarzt angefordert. Anstatt einfach in das 8 Minuten entfernte Krankenhaus zu fahren (ich dachte bis zu diesem Zeitpunkt, in der Stadt müsste das Eintreffen etwas schneller gehen), wartete ich 20 Minuten auf ein Notarzteinsatzfahrzeug, das mit einem müden und verständnisfreien Arzt eintrudelte. Während dieser dann zehn Minuten lang das Protokoll niederschrieb (er begleitete den Transport mangels Notwendigkeit natürlich nicht und wollte in die entgegengesetzte Richtung zurückfahren), ließ die Wirkung des Mittels nach und wir lieferten den Patienten wieder mit knapp 30 Minuten Zeitverzögerung und Schmerzen in der Klinik ab.
Und zu guter Letzt sind auch die Vorgaben der ÄLRD Bayern nicht ohne weiteres umsetzbar. Eine Kardioversion zum Beispiel soll nach deren Ansicht mangels Kenntnis eines Notfallsanitäters hinsichtlich einer Analgosedierung/Kurznarkose nur am bewusstlosen Patienten durchgeführt und der Notarzt unverzüglich nachgefordert werden. Auch dazu fällt mir ein Einsatz ein, der das System deutlich über seine Grenzen hinausführte: Der Patient war auf seinem heimischen Sofa kollabiert. Hohe Herzfrequenz und Vorhofflimmern mit schneller Überleitung, Vigilanzminderung, Hypotonie. Die Ehefrau sagte, er habe kurz zuvor auch über Druck in der Brust geklagt. Der Patient erfüllte gleich mehrere Instabilitätskriterien und musste unverzüglich kardiovertiert werden. Wir legten ihn mit leicht erhöhtem Oberkörper auf den Boden. Ich etablierte einen venösen Zugang, der Kollege gab Sauerstoff.
Nach Ansicht der ÄLRD Bayern hätte ich in diesem Moment warten müssen, bis der Patient noch mehr in Lebensgefahr gerät, um überhaupt tätig werden und das hoch belastete Herz in einen normalen Herzrhythmus zurückführen zu dürfen. Dies war und ist mit meinem Berufsethos jedoch nicht zu vereinbaren. Also sofort eine Kurznarkose, die ich durch meine jahrelange Tätigkeit in der Anästhesie durchaus beherrsche, und dann die Kardioversion. Der Patient befand sich einige Minuten später wach und ansprechbar in bestem Zustand auf der Wohnzimmercouch und regte sich darüber auf, nun keinen schönen Abend mit seiner Frau verbringen zu können. Der Notarzt hingegen betrat 25 Minuten nach Alarmierung den Raum und sagte, er hätte uns im Übrigen gar nicht helfen können, da er noch nie kardiovertiert habe.
An den Kompetenzen der Notfallsanitäter gibt es seit Inkrafttreten des § 2a NotSanG und dem verwaltungsgerichtlichen Leitsatzerfolges Andreas Drobecks zusammen mit seinem Anwalt Prof. Fricke auf jeden Fall nichts mehr zu rütteln. Das System der ÄLRD ist gescheitert. Dystopische Szenen, wie sie oben beschrieben sind, müssen der Vergangenheit angehören. Es liegt nun an den Verantwortlichen in der Politik, hier für Klarheit zu sorgen und den Rettungsdienst bundesweit auf einheitlichen Standard zu bringen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney