Die Wunschvorstellungen vom Sterben sind so individuell wie die Patienten selbst. Doch was macht gutes Sterben aus – und wie können Ärzte dazu beitragen? Wir haben dazu mit einem Palliativ-Neurologen gesprochen.
DocCheck: Herr Dr. Kowski, Sie sind eigentlich Neurologe – wie kommt ein Neurologe zur Palliativmedizin?
Dr. Alexander Kowski: Ich finde das äußerst naheliegend, wenn wir über die vielen neurologischen Erkrankungen nachdenken, die leider nicht heilbar sind. Innerhalb dieses Spektrums gibt es sowohl nicht lebensbedrohliche chronische Erkrankungen, als auch solche, die sich teilweise rapide verschlechtern und schließlich zum Tod führen können. Für die betroffenen Patienten resultiert dies häufig in einer komplexen Symptomlast, deren effektive Kontrolle im Fokus unserer Bemühungen als Neurologen steht. Und wenn wir bei Symptomkontrolle sind, sind wir schnell im Bereich der Palliativmedizin.
DocCheck: Das klingt tatsächlich sehr naheliegend. Und zu diesem Thema hielten Sie auch beim diesjährigen DGN-Kongress einen Vortag mit dem Titel „Wie geht gutes Sterben?“. Ein wichtiges Thema, denn es wird uns alle mal betreffen. Was verstehen Sie denn ganz persönlich unter „gutem Sterben“?
Kowski: In Bezug auf meine Arbeit ist es nur teilweise relevant, was ich persönlich unter einem guten Sterben verstehe. Viel wichtiger ist, was unsere Patienten darunter verstehen. Meine eigenen Vorstellungen von einem (oder meinem) guten Sterben lassen sich nicht zwangsläufig auf die der Patienten übertragen. Ich bin der festen Überzeugung, dass nahezu alle Menschen, mich eingeschlossen, am Ende ihres Lebens sich vor allem effektive Symptomkontrolle wünschen. Man möchte möglichst frei von Schmerzen und anderen belastenden Symptome wie Luftnot, Übelkeit oder Erbrechen sein.
DocCheck: Symptomkontrolle ist also ein wichtiger Aspekt. Und wie sieht es mit dem Sterbeort aus? Viele Patienten wünschen sich ja, zu Hause zu sterben.
Kowski: Das ist richtig. Für viele Menschen ist es von großer Bedeutung, dass sie in ihrer vertrauten Umgebung zu Hause sterben können. Je nach Umfrage wünschen sich das 50–80 % der Befragten. Es gibt aber auch Patienten, denen der Sterbeort nicht mehr sehr wichtig ist. Stattdessen rücken die familiären, aber auch professionellen Unterstützungsnetzwerke in den Vordergrund.
DocCheck: Vielleicht ist zu Hause bei vielen Menschen auch nicht unbedingt mit einem Ort, sondern viel mehr mit den Menschen verbunden, die sie mit diesem Gefühl assoziieren.
Kowski: Das denke ich auch. Es erinnert mich ein wenig an die Frage: Was bedeutet eigentlich Heimat? Ist es wirklich nur der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, oder sind es die Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle?
DocCheck: Also zusammengefasst sind Symptomkontrolle und nicht alleine zu sein wichtig für die meisten Patienten. Wie wichtig ist denn gerade am Lebensende die Lebensqualität – was auch immer das für den individuellen Patienten sein mag?
Kowski: Eine erfolgreiche Symptomkontrolle und das Eingebunden sein in ein soziales Netz können schon einen erheblichen positiven Einfluss auf die Lebensqualität haben. Die Lebensqualität – aber auch die Sterbequalität – kann mithilfe von Fragebögen gemessen werden und deren Verwendung kann unter Umständen hilfreich sein. Allerdings gibt es auch Einflussfaktoren, die sich im Wesentlichen aus den Biografien der Patienten ableiten lassen. Die Gespräche mit den Patienten über ihre Lebenswege sowie über ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste halte ich für unersetzlich.
DocCheck: Und wie kann man den Patienten dabei helfen, diese Lebensqualität auch am Lebensende zu empfinden?
Kowski: Fragen stellen und aktiv zuhören, um herauszufinden was den Patienten wichtig ist, sowie die Möglichkeit für An- und Zugehörigen, die Sterbenden begleiten können, sind von entscheidender Bedeutung. Wenn Patienten am Lebensende aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen werden, muss berücksichtigt werden, dass die pflegerischen Maßnahmen und die Symptomkontrolle auch ambulant fortgeführt werden können. Idealerweise sollte der Übergang zwischen der stationären und ambulanten Versorgung sorgfältig vorbereitet und nicht als abrupter Wechsel gestaltet sein. Leider gibt es im Alltag aber oft diese Brüche in der Behandlung und Betreuung, nicht nur zwischen dem ambulanten und stationären Sektor, sondern auch zwischen einer auf Heilung ausgerichteten Medizin und der Palliativmedizin.
DocCheck: Was meinen Sie mit diesem Bruch, der da stattfindet?
Kowski: Die Palliativmedizin wird leider immer noch erst sehr spät im Krankheitsverlauf hinzugezogen. Dies ist wahrscheinlich hauptsächlich auf das weit verbreitete Vorurteil zurückzuführen, dass Palliativmedizin nur Sterbebegleitung am Lebensende ist.
Es ist von großer Bedeutung, die Palliativmediziner häufiger und rechtzeitig im Krankheitsprozess als Experten für Symptomkontrolle und Lebensqualität in die Behandlung einzubeziehen. Nicht selten wird man von Kollegen erst dann dazu geholt, nachdem den Patienten vermittelt wurde, dass man „nichts mehr für sie tun könne“ – wobei damit eigentlich immer entweder kurative oder lebenszeitverlängernde Behandlungsoptionen gemeint sind.
In solchen Momenten ist, nachdem man sich als Palliativmediziner vorgestellt hat, die Reaktion vieler Patienten oft die Frage: „Muss ich jetzt bald sterben?“ Wenn Palliativmedizin jedoch selbstverständlich in die Betreuung von Menschen mit schweren Erkrankungen integriert ist und Teil des Behandlungsteams ist, entstehen keine Brüche, sondern bestenfalls sanfte Übergänge.
DocCheck: Was würden Sie sich denn wünschen, damit diese Zusammenarbeit zwischen den Fachgebieten besser wird?
Kowski: Die Palliativbasisversorgung ist eigentlich eine Aufgabe aller Ärzte, unabhängig von ihren Fachrichtungen. Fortbildungen zu Palliativthemen und das Verständnis für die Palliative Care zu vertiefen wären hilfreich. Ich denke aber auch, dass viele Kollegen eine Palliativversorgung bieten, ohne dass sie es immer explizit als solche bezeichnen.
DocCheck: Sie erwähnten eben den Begriff „Palliative Care“ – was ist das genau?
Kowski: In der Regel benutze ich den Begriff „Palliative Care“ oder „Palliativversorgung“. Die Begleitung und Behandlung schwerkranker Menschen erfolgt durch ein interprofessionelles Team, bestehend aus verschiedenen Berufsgruppen wie Pflege, Sozialarbeit, Physiotherapie, Logopädie und vielen anderen. Die ärztliche Palliativ-Medizin ist da „nur“ ein Bestandteil – daher finde ich „Palliative Care“ inklusiver.
Ein wichtiger Bestandteil der Palliative Care, den ich noch hervorheben möchte, ist die gesundheitliche Vorsorgeplanung bzw. Patientenverfügung. Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenige Patienten mit schweren und teilweise weit fortgeschrittenen Erkrankung keine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht haben. In herkömmlichen Patientenverfügungen werden Wünsche hinsichtlich lebenszeitverlängernder Maßnahmen oft auf wenige Anwendungsfälle beschränkt. Bei der Vorsorgeplanung werden in der Regel zunächst die Vorlieben und Wünschen erfasst, die Werte der Betroffenen ermittelt und anschließend die Patientenverfügung erstellt.
DocCheck: Warum ist das so wichtig?
Kowski: Auf diese Weise können sowohl Angehörige oder Vorsorgebevollmächtigte als auch Behandler die Entscheidungen in der Patientenverfügung besser nachvollziehen. Ausserdem helfen diese Hintergrundinformationen insbesondere bei Situationen, die in der Patientenverfügung nicht ausdrücklich erwähnt sind, denn alle Eventualitäten lassen sich in einer Patientenverfügung nicht erfassen. Auch wichtig: eine Patientenverfügung sollte ein lebendes Dokument sein und regelmäßig upgedated werden.
DocCheck: Wie gehen Sie denn mit Patientenverfügungen um, mit denen die Angehörigen nicht einverstanden sind? Das stelle ich mir schwierig vor.
Kowski: Ja, das kann schon mal zu schwierigen Situationen führen. Grundsätzlich ist eine Patientenverfügung aber bindend, wenn sie unterschrieben und nicht widerrufen wurde – auch dann, wenn sie zehn Jahre alt ist. Die Pflicht von vorsorgebevollmächtigten Angehörigen oder gesetzlichen Betreuern besteht darin, die Wünsche und Ziele des Betroffenen umzusetzen. Sollte diese darlegen, dass sich die Einstellungen des Betroffenen geändert haben, ohne dass dies in der Patientenverfügung geändert oder diese widerrufen wurde, würde ich die Darstellung zumindest auf Plausibilität überprüfen. Dabei kann ein Wertebogen, der idealerweise der Patientenverfügung beiliegt, hilfreich sein. Dies unterstreicht erneut die Bedeutung der Vorsorgeplanung als ein lebendiges Dokument, das gelegentlich mit Familie oder Freunden besprochen werden sollte.
DocCheck: Sie sind ja Neurologe – welche besonderen Herausforderungen gibt es in der neurologischen Palliativmedizin verglichen mit anderen Fachgebieten?
Kowski: Bei neurologischen Erkrankungen kann aufgrund von Immobilität der Pflege- und Unterstützungsaufwand sehr hoch werden. Auch das Auftreten einer Schluckstörung ist bei neurologischen Erkrankungen nicht ungewöhnlich und stellt eine erhebliche Belastung für die Betroffenen sowie ihre Angehörigen dar. Zusätzlich können Einschränkungen der kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten sehr herausfordernd sein. In der Neurologie nimmt daher die rechtzeitige Vorsorgeplanung eine besondere Stellung ein.
DocCheck: Apropos Perspektive: Wenn wir in die nahe Vergangenheit blicken, war das Abschiednehmen wegen der Corona-Pandemie oft sehr schwer. Wie könnte man solche Situationen in Zukunft besser handhaben?
Kowski: Rückblickend betrachtet, habe ich den Eindruck, dass der Zeitraum in dem Angehörige ihre Lieben nicht begleiten und keinen Abschied nehmen konnten, zu lange anhielt. Eine der größten Sorgen vieler Menschen ist es, alleine zu sterben zu müssen – und viele sind alleine und einsam gestorben. Ich hoffe, dass wir in zukünftigen Pandemien gesundheitspolitisch differenzierter mit solchen Situationen umgehen werden.
Gleichzeitig muss ich gestehen, dass ich die Politiker für die schwierigen Entscheidungen, die sie insbesondere in der kritischen Anfangsphase der Pandemie treffen mussten, nicht beneide.
DocCheck: Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit man mehr Menschen ihr Wunschsterben erfüllen kann?
Kowski: Da viele Menschen den Wunsch haben, zu Hause zu sterben, ist es notwendig, das Thema ambulante Palliativarbeit attraktiver zu gestalten. Da geht es natürlich nicht nur um Ärzte, sondern auch um Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Logopäden und viele mehr. Es ist wichtig, junge Menschen für diese Berufe zu begeistern. Darüber hinaus muss die Vergütung für Hausbesuche in allen Berufsgruppen spürbar angehoben werden. Hierbei geht es nicht darum, reich zu werden, sondern darum, die Kosten zu decken.
DocCheck: Und Zeit ist natürlich auch ein wichtiger Faktor. Viele Ärzte haben wahrscheinlich gar nicht die Zeit, sich so eingehend mit ihren Patienten zu beschäftigen und ihre Wertvorstellungen und Wünsche kennenzulernen, oder?
Kowski: Das DRG-System in den Krankenhäusern schafft, unter anderem aufgrund des Ziels kurzer Verweildauern, mitunter anspruchsvolle Rahmenbedingungen für schwer kranke Patienten. Natürlich möchte niemand die Zeiten mit wochenlangen Krankenhausaufenthalten zurückhaben. Dennoch gibt es einige Patienten, bei denen ein um wenige Tage verlängerter Aufenthalt hilfreich wäre, um ihre Ziele und Bedürfnisse besser zu verstehen und die ambulante Weiterbetreuung zu optimieren. Zudem fällt mir auf, dass patientenferne Tätigkeiten wie die Dokumentation zunehmend mehr Zeit in Anspruch nehmen – hier muss man über alle Berufsgruppen hinweg andere Wege gehen.
DocCheck: Was würden Sie Ihren hausärztlichen Kollegen, die ihre Patienten ja viel besser kennen, gerne zum Thema Palliativarbeit mit auf den Weg geben?
Kowski: Ich finde, die hausärztliche Versorgung ist eine der tragenden Säulen unseres Gesundheitssystems, auch in Bezug auf die Palliativversorgung. In dieser Hinsicht sollten, und das wäre eher eine politische Forderung, die Rahmenbedingungen für Hausärzte deutlich verbessert werden, wenn sie die allgemeine ambulante Palliativversorgung gewährleisten sollen.
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