Ärzte und Politik sind sich einig: Die Prävention von Herzerkrankungen muss besser werden. Hierfür gibt es auch schon eine Strategie aus Berlin. Doch Mediziner kritisieren diesen Plan harsch – und kontern jetzt mit eigenen Ideen.
Jeder dritte Todesfall in Deutschland ging 2021 auf eine Herzerkrankung zurück. Als Ursache für die hohe Sterblichkeitsrate nennt der Deutsche Herzbericht insbesondere die koronare Herzkrankheit (7,3 %). Erst auf Platz 4 liegt der Herzinfarkt (4,4 %). Die häufigsten Krankenhausaufenthalte gehen auf Herzrhythmusstörungen zurück – 450.000 Patienten, 28.000 von ihnen starben daran. Parallel dazu konstatiert das Länderprofil Gesundheit der EU für Deutschland das teuerste Gesundheitssysteme bei gleichzeitig niedriger Lebenserwartung im Vergleich.
Es fällt auf: Potenzial zur Effizienzsteigerung und für niedrigere Mortalitätsraten ist vorhanden; insbesondere vor dem Hintergrund, dass rund 70 % der Erkrankungen auf „modifizierbare Lebensstilfaktoren“ zurückgehen. Um das Problem bei der Wurzel zu packen, stellte das BMG Anfang Oktober in einem Impulspapier seinen Plan einer umfassenderen Präventionsarbeit vor – in Form gegossen mit einem eigenen Institut – dem designierten Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM), das 2025 seine Arbeit aufnehmen soll.
Die konkreten Maßnahmen, die durch das BIPAM mit Forschung, Evaluation und Steuerung begleitet werden sollen, sind derweil bereits formuliert. In erster Linie soll es um:
gehen. Zu allen Punkten hat das Ministerium zudem bereits weiterführende und konkrete Ideen in der Umsetzung gemacht. So sollen beispielsweise alle Kinder im Alter von fünf Jahren im Rahmen der U9-Untersuchung auf erhöhte Blutfettwerte (Cholesterin) untersucht werden – was auf mögliche familiäre Hypercholesterinämie hindeuten könnte. Für Erwachsene wird der bereits verfügbare Check-up ausgeweitet. Zuletzt sollen Menschen, die an einem Raucher-Entwöhnungsprogramm teilnehmen, finanziell belohnt werden.
Neu hingegen ist nicht nur die Menge an geplanten Maßnahmen, sondern auch die Zuständigkeiten, die im Zuge dessen erweitert werden. Neben Kinderärzten, deren Standarduntersuchungen sich erweitern, werden so auch Apotheken und Kassen mit ins Boot geholt. Während Letzteren ein „Einladungsmanagement“ zugedacht wird, in dem sie ihre Versicherten durch Voucher per Telefon oder Online-Vermittlung auf Präventionsangebote hinweisen, sind Apotheken noch enger in Vorfelduntersuchungen und Check-ups eingebunden. Hier sieht das BMG Möglichkeiten zur niedrigschwellige Beratung.
Eine erste Einordnung zum Impulspapier gab die Nationale Herzallianz, die den Lauterbachschen Plan als Erfolg feiert: „Wir freuen uns natürlich, dass die Aktivitäten der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und auch die der Nationalen Herz-Allianz zunehmend Früchte tragen. Die DGK unterstützt das BMG inhaltlich und fachlich, wenn es zum Beispiel um Fragen der Primär- oder Sekundärprävention sowie um Initiativen zum Rauchstopp geht“, erklärt Prof. Holger Thiele, Präsident der DGK. Und weiter: „Konkret sehen wir, dass die von uns im Rahmen der NHA vorgeschlagenen Maßnahmen, wie die Einführung eines Lipid-Screenings bei der U9-Untersuchung und nach Alter gestufte Screenings für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sich in den Überlegungen des BMGs für eine Gesetzesinitiative zur Verbesserung von Früherkennung und Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wiederfinden.“
Die nun in spe stärker eingebundenen Apotheker äußerten sich über ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening zurückhaltender – wissend, dass das Konzept auch Kritiker hat: „Präventive Leistungen [will die Apothekerschaft] nur im Schulterschluss mit Ärztinnen und Ärzte zum Wohle der Menschen anbieten.“ Dennoch seien Apotheken „[…] für viele Menschen die niedrigschwellige Pforte ins Gesundheitssystem. Die pharmazeutische Expertise der Apothekerinnen und Apotheker kann und sollte stärker genutzt werden, um die Gesundheit der Menschen zu verbessern. Apothekerinnen und Apotheker sind Heilberufler, die den Patientinnen und Patienten bei Gesundheitsfragen flächendeckend – auch nachts und am Wochenende – wohnortnah zur Verfügung stehen.“
Und auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) pflichtet zumindest der Notwendigkeit neuer Strukturen und einer intensiveren Hinwendung zu Prävention bei: „Das deutsche Gesundheitssystem besitzt eine vergleichsweise schlechte Effizienz und daher ist der politische Ansatz, Maßnahmen gegen die niedrige Lebenserwartung und die kardiovaskuläre Mortalität zu ergreifen, richtig.“
Doch in Sachen Übereinstimmung und Unterstützung geht es nicht über den Eingangssatz hinaus. Vielmehr ist das nun veröffentlichte Positionspapier der DEGAM eine Abrechnung mit den Plänen des Ministeriums auf allen Ebenen. So seien die Überlegungen aus Berlin nicht nur unzureichend, sondern teilweise kontraproduktiv und insgesamt der falsche Ansatz. Im Kern geht es den Medizinern darum, dass die Pläne
DEGAM-Präsident Martin Scherer erklärt: „Wir haben bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt effektive Hebel. Hierzu zählen beispielsweise ein Werbeverbot für Tabakprodukte und ungesunde Lebensmittel oder die Zuckersteuer.“ So könne eine Lebensstilmodifikation viel bewirken. Daneben ist auch zu bedenken, dass viele der vorgeschlagenen Maßnahmen nicht evidenzbasiert sind. Ohne erkennbaren Nutzen besteht jedoch die Gefahr, dass Über- und Fehlversorgung eher verstärkt, statt abgebaut werden.
Die Mediziner nehmen auch den Plan eines systematischen Screenings auf familiäre Hypercholesterinämie unter Beschuss. Hier sei im US-amerikanischen Raum beobachtet worden, dass sie ungenügende Evidenz aufweise – auch im europäischen Ausland setze man eher auf ein reines Kaskaden-Screening. Eine Kombination aus beidem führe gar das Kaskaden-Screening ad absurdum. Auch die Überlegung, Personen mit Prädiabetes, Hyperlipidämie oder Hypertonie in die DMPs mit einzuschließen, sei bisher nicht mit einem Nutzen für Patienten verbunden. Ebenso führe ein verstärkter Einschluss gesünderer Personen in die DMP-Ergebnisse zwar zu besseren Daten, doch verbessere sich dadurch die Gesundheit nicht.
Aus ebendiesen Fehlanreizen und potenziellen Über- und Fehldiagnosen ergebe sich eine vermeidbare bürokratische Mehrbelastung, wie auch erweiterte ärztliche Früherkennungs- und Präventionsangebote zu einer Überspannung der ärztlichen Ressourcen führen könnten.
Dass die organisierten Allgemeinmediziner es nicht bei schonungsloser Kritik belassen, zeigt der zweite Part ihres Protest-Papieres, das konkrete Gegen- bzw. Ergänzungsvorschläge macht. In ihrem Positionspapier formulieren die Mediziner: „Statt den Medizinsektor noch weiter aufzublähen, sollten primärpräventive Interventionen im Sinn einer Verhältnisprävention konsequent eingesetzt und niedrigschwellige unterstützende Angebote zur Lebensstilmodifikation ausgebaut werden.“
Nahezu versöhnlich klingt die Einsicht, dass das BIPAM in seiner Form einen Nutzen haben könne, indem es die Primärprävention vorantreibt und beispielsweise ein „unverzügliches komplettes Werbeverbot für alle Tabak- sowie nikotinhaltige Produkte sowie ungesunde Lebensmittel, mehr Schulsport und Schwimmbäder, Förderung der Gesundheitskompetenz vom Kindergarten bis ins Seniorenalter, Besteuerung der Nahrungsmittel zwischen 0 und 19 % nach gesundheitlichen und ökologischen Aspekten, zusätzliche Zuckersteuer und verminderte Verfügbarkeit von höherprozentigen alkoholhaltigen Produkten“ umsetzt.
Da bis zum ausgemachten Arbeitsbeginn im BIPAM noch einige Zeit ist, hofft auch Scherer nun, dass das Positionspapier im Ministerium zum Nachdenken anregt: „Es ist wichtig, dass die wissenschaftliche Allgemeinmedizin in die Überlegungen frühzeitig mit einbezogen wird. Wir erwarten nun, dass sich das BMG im weiteren Prozess mit unseren Vorschlägen intensiv auseinandersetzt.“
Bildquelle: erstellt mit Midjourney