Endlich ist die neue deutsche Parkinson-Leitlinie da – und mit 570 Seiten ein echter Wälzer. Wir haben sie uns angeschaut und die wichtigsten Neuerungen bei Diagnostik und Therapie für euch zusammengefasst.
Die lange überfällige Neufassung der deutschen Parkinson-S2k-Leitlinie wurde von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) koordiniert. Beteiligt waren 19 Fachgesellschaften, Berufsverbände und Organisationen, darunter auch der Deutsche Pflegerat sowie Dachverbände von Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Das Ergebnis ist ein Roman: 570 Seiten umfasst die Leitlinie jetzt. Auch wer Literaturverzeichnis und Intro nicht mitzählt, kommt noch auf über 500 Seiten.
Das Zweite, was bei der Leitlinie neben deren Umfang sofort ins Auge springt, ist ihr Titel: „Parkinson-Krankheit“ steht da. Das ist ein Begriff, der umgangssprachlich schon bisher nicht unüblich war, den es offiziell aber nicht gab. Er solle jetzt generell verwendet werden, so die Leitlinienautoren. Das „idiopathische Parkinson-Syndrom“ (IPS) ist damit Medizingeschichte. Grund ist, dass viele vermeintlich idiopathische Parkinson-Erkrankungen – beispielsweise die erblichen Formen – nicht wirklich idiopathisch sind.
Zum Inhalt: Was ist neu? Eine ganze Menge. Bei der Diagnostik wird jetzt klar empfohlen, die internationalen MDS-Diagnosekriterien für die Diagnose einer Parkinson-Krankheit anzuwenden. In Deutschland werden immer noch häufig die UK Brain Bank Kriterien genutzt, aber die sind veraltet. Die MDS-Kriterien seien sowohl sensitiver als auch spezifischer, so die Leitlinie. Klar empfohlen wird auch eine regelmäßige Re-Evaluation der Diagnose und zwar nicht nur in den ersten Jahren, sondern auch im Langzeitverlauf. Insbesondere durch motorische Fluktuationen und Dyskinesien erhöhe sich die Diagnosesicherheit deutlich.
In einer vermuteten Prodromalphase wird empfohlen, die Verwendung definierter Prodromalkriterien zu erwägen, um die Verdachtsdiagnose zu untermauern. Dazu zählen unter anderem die Geruchstestung sowie die Polysomnographie im Hinblick auf eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung. Liegt eins von beiden oder beides vor, wird die Diagnose Parkinson-Krankheit deutlich wahrscheinlicher. Negativbefunde schließen die Parkinson-Krankheit allerdings nicht aus. In Sachen Bildgebung ist die kraniale MRT die Methode der Wahl, eine kraniale CT ist nicht indiziert. Die MRT-Untersuchung sollte frühzeitig erfolgen, weniger um die Diagnose zu untermauern, als um Differenzialdiagnosen auszuschließen. Die Messung des Biomarkers Neurofilament (NFL) ist nicht Gegenstand der Routinediagnostik, sie ist speziellen Fragestellungen vorbehalten.
Was die genetische Diagnostik angeht, ist die Leitlinie zurückhaltend. Bei den eher seltenen, frühen Parkinson-Krankheiten vor dem 50. Lebensjahr empfiehlt die Leitlinie die Untersuchung der Gene PRKN, PINK1, DJ1, LRRK2, SNCA und VPS35, allerdings nur auf Patientenwunsch. Jenseits der 50 sollte dann untersucht werden, wenn der Patient das wünscht und mindestens zwei Verwandte ersten Grades oder je ein Verwandter ersten und zweiten Grades betroffen sind. In diesem Fall stehen die Gene LRRK2, SNCA und VPS35 im Vordergrund. Polygenetische Risiken sollten nicht routinemäßig erfasst werden. Die Gendiagnostik ist in erster Linie für die Angehörigenkommunikation relevant. Therapeutische Konsequenzen hat das Ergebnis bisher nicht.
Die Empfehlungen zur Therapie sind extrem umfangreich und können hier nur angerissen werden. Mit 100 % Konsens wir die initiale Monotherapie empfohlen. Es wird darauf hingewiesen, dass motorische Fluktuationen und Dyskinesien bei initialer L-Dopa-Therapie früher auftreten als bei Initialtherapie mit MAO-B-Hemmern oder Dopaminagonisten. Insbesondere bei biologisch jüngeren Patienten sollten letztere daher bevorzugt werden. Definitiv out sind aber die ergolinen Dopaminagonisten Bromocriptin, Cabergolin und Pergolid, sie sollen nicht mehr verwendet werden. Für L-Dopa in der Primärtherapie sprechen sehr schwere Symptome und Multimorbidität. Auch wenn ein besonders schneller Therapieeffekt nötig ist, ist L-Dopa von Vorteil.
Kombinationstherapien kommen ins Spiel, wenn die Monotherapie nicht mehr ausreicht. Dabei sollte der Dopaminagonist nicht bis ins Letzte ausgereizt werden. Wenn bei mittlerer Erhaltungsdosis die Wirkung auf Dopa-sensible Symptome unzureichend ist, sollte mit der kombinierten Therapie begonnen werden. Mit weiter fortschreitender Erkrankung wird die Therapie zunehmend von speziellen therapeutischen Situationen bestimmt, die dann individuell zu adressieren sind. Neben motorischen Herausforderungen wie Fluktuationen, Dyskinesien und Tremor werden in der Leitlinie auch typische Begleitprobleme wie orthostatische Hypotonie, Obstipation, Schlafstörungen, Blasenfunktionsstörungen und Schmerzen thematisiert, außerdem affektive und kognitive Störungen.
Bei Fluktuationen kann eine Fraktionierung der L-Dopa-Gaben helfen, alternativ und abhängig von der Ausgangstherapie die zusätzliche Gabe von L-Dopa mit modifizierter Galenik, von Dopaminagonisten, von MAO-B-Hemmern oder COMT-Hemmern. Bei L-Dopa-assoziierten Dyskinesien erhält Amantadin eine Sollte-Empfehlung und Safinamid eine Kann-Empfehlung. Die tiefe Hirnstimulation des Nukleus subthalamicus (STN-THS) erhält eine Soll-Empfehlung mit hohem Konsens bei jenen Patienten, bei denen sich Fluktuationen mit und ohne Dyskinesien medikamentös nicht ausreichend behandeln lassen.
Beim Tremor empfiehlt die Leitlinie primär Dosiserhöhungen der medikamentösen Therapie, wobei hier die Tremor-Probleme und das erhöhte Risiko motorischer Komplikationen abzuwägen sind. Klare Worte gibt es zu Anticholinergika: Sie sollten bei der Parkinson-Krankheit nur noch „in absoluten Ausnahmefällen“ bei anderweitig nicht behandelbarem Tremor erwogen werden. Die STN-THS dagegen erhält auch beim nicht behandelbaren Tremor eine klare Soll-Empfehlung. Hier wird die bilaterale Stimulation empfohlen.
Ein neues Verfahren der Tremorkontrolle ist der MRT-gesteuerte, fokussierte Ultraschall, kurz MRgFUS. Dabei werden mit gebündelten, hochintensiven Ultraschallwellen unterschiedliche Kerngebiete abladiert oder „läsioniert“. Beim Tremor ist das die untere Thalamusgrenze. Die Ultraschallablation in diesem Areal – eine Intervention, die drei bis vier Stunden dauert – unterbricht schwingende neuronale Tremor-Netzwerke und kann den Tremor um etwa 80 % reduzieren. Vorteil der MRgFUS im Vergleich zur THS ist in erster Linie, dass keine Operation nötig ist. Blutungen, Infektionen oder auch Implantat-Fehlfunktionen und Batteriewechsel sind kein Thema. Mit der THS kann demgegenüber besser auf individuelle Veränderungen reagiert werden.
Die neue S2k-Leitlinie hält sich bei der MRgFUS und anderen ablativen Verfahren noch zurück. Eine Zulassung der MRgFUS in Europa bestehe zwar, allerdings sollte das Verfahren derzeit nur im Rahmen von Studien oder Registern angewandt werden. Bisher gibt es im Wesentlichen prospektive Open-Label-Daten, die Anfang 2023 publiziert wurden und einen Zeitraum von bis zu drei Jahren überblicken. Von radiochirurgischen Verfahren und auch von Radiofrequenzablationen wird abgeraten.
Aktualisiert wurden auch die Empfehlungen zur Fahreignung bei Parkinson-Krankheit. Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 sollen generell nicht gefahren werden. Bei Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 – also privaten PKW, Motorrädern und landwirtschaftlichen Maschinen – kann eine Fahrerlaubnis nach individueller Abwägung gegeben sein. Fahreignungsuntersuchungen sollten nicht nur die motorische, sondern auch neuropsychologische Funktion testen. Keine Fahrerlaubnis erteilt werden sollte in den ersten drei Monaten nach THS.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney