Wenn’s einem schlecht geht, muss man schlecht aussehen – und lachen darf man auch nicht mehr. Das scheinen zumindest die Menschen um mich herum zu erwarten. Warum ich meiner Krebsdiagnose lieber mit Selbstbewusstsein und Lippenstift begegne.
„So hätte ich Sie jetzt nicht erwartet“, das war der Begrüßungssatz einer Redakteurin, als wir uns für ein Interview über meine Stammzelltransplantation nach der Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom in einem Café trafen. Normalerweise würde ich so einer Begrüßung keine große Bedeutung beimessen, wenn dieser Satz nicht sozusagen symptomatisch für das stehen würde, was Menschen nach einer Krebsdiagnose öfter erleben.
Mit Krebs stehen wir alle unter Beobachtung, es wird viel von uns erwartet. Und trotzdem hast du, egal in welcher Phase du dich gerade befindest, das Gefühl, dass du dich nicht richtig, nicht angemessen verhältst. Manchmal nimmst du es nur aus dem Augenwinkel und von der gegenüberliegenden Straßenseite aus wahr, die vorher sogar gewechselt wurde, um bloß nicht in die Verlegenheit eines Gespräches zu kommen. An der Kasse im Supermarkt, an der die Nachbarin dich angeblich nicht gesehen hat oder wenn hinter dir gehend getuschelt wird: „Die hat aber abgenommen, schau mal, die Hose schlabbert nur noch.“ Oft aber auch ganz direkt mit Sprüchen, die du nicht brauchst.
Am Anfang meiner Therapiestunden bei der Psychoonkologin habe ich zunächst nicht verstanden, dass auf dem Erfassungsbogen für den aktuellen mentalen Ist-Zustand abgefragt wurde, ob ich mich beobachtet fühle und denke, dass die Menschen um mich herum über mich reden. Damals habe ich noch herzhaft darüber gelacht. Doch irgendwann verstand ich, was damit gemeint war – und dass es stimmt.
Wenn die Therapie dann vorbei ist, geht es in die nächste Runde. Dann soll es aber bitte auch vorbei sein, „das mit dem Krebs“, wie mir eine Ex-Freundin einmal deutlich sagte. Das hat viel mit den Erwartungen, dem Nicht-Aushalten-Können von „Störungen“ in der ach so heilen privaten Welt, aber auch mit Vorurteilen zu tun. Vielleicht auch ein wenig mit einer zaghaft und unsicher formulierten Hoffnung, im Sinne von „Jetzt ist doch alles wieder gut, oder?“ Am liebsten hätten die Fragenden dann folgende Antwort: „Ja, klar, alles wieder paletti, ich habe mein altes Leben zurück, jetzt geht’s nur noch eine Richtung und zwar nach vorne.“
Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. In diese Erwartungsfalle bin ich nach der Therapie auch getappt. Doch ich musste langsam erkennen: Danach ist einfach alles anders.
Ein anderer Aspekt ist die Erwartungshaltung von außen und damit diesmal meine Frage an die Gesunden: Wie haben Krebspatienten denn zu sein, wie sollen wir uns denn verhalten?
Das Knifflige an der Sache ist, dass du es als Krebspatient niemandem recht machen kannst. Bist du zu stark und selbstbewusst, schafft das Irritationen, damit können die nicht betroffenen Menschen genauso wenig umgehen wie mit deiner Schwäche und Empfindsamkeit.
Als ich eine Zweitmeinung bei einer Gynäkologin einholen wollte und nach einem telefonischen Vorgespräch zum vereinbarten Termin erschien, wurde ich von der Ärztin gescannt, wie ich es bisher nur von Partys kannte, wenn die weibliche Konkurrenz sich wertend beäugt. Ich fühlte mich gleich sehr unwohl. Erst später begriff ich, was da abgelaufen war. Ich war nicht das arme Opfer, sondern eine selbstbewusste Frau mit wilden Locken und Lippenstift. So sieht Frau nicht nach einer Krebstherapie aus.
Als ich meiner Tochter von dieser Begegnung berichte, kommentiert sie meine Begegnung so: „Mama, du entsprichst einfach nicht dem Bild, das man von einer Krebspatientin hat. Du überforderst die Leute.“ Ich fürchte, genau das ist es.
Die weit verbreitete Ansicht ist nämlich die, dass, wenn es dir schlecht geht, du bitte auch danach auszusehen hast, sonst glaubt es dir niemand. Aber auch nicht übertreiben. Nicht zu krank, nicht zu schwach. Das geht auch nicht. Wie oft habe ich das schon erlebt, dass gerade gutaussehenden Krebspatientinnen unterstellt wird, sie würden nur vortäuschen, dass sie eine schwere Diagnose haben. Ihnen ginge es doch gut und vor allem nicht so schlecht wie den Zweiflern selbst.
Das Gleiche gilt übrigens nicht nur fürs Optische, sondern auch für die Strategien, die andere für sich gefunden haben, um wieder fit zu werden. „Du kannst gar nicht so krank sein, wenn du drei Mal die Woche Walken gehen kannst, oder Krafttraining machst, oder Tanzen gehst.“ Diese Liste bitte beliebig ergänzen.
Wahrscheinlich stressen Menschen, die diese Strategien für sich gefunden haben, die anderen, die es nicht schaffen oder nicht versuchen möchten, neue Aktivitäten für sich zu finden, die auch nicht unbedingt sportlicher Natur sein müssen. Das ist nicht nur unangemessen, sondern gehört in die Abteilung Neid und das wiederum in die Rubrik „Vergleichen macht unglücklich“. Ich bin immer wieder voller Bewunderung, wenn ich sehe, wie toll es andere meistern. Das sind meine Vorbilder, die mir Mut machen, meinen Weg zu gehen. Sie geben mir Kraft.
Eine andere Situation war eine, die zeigt, dass immer auch viel Unsicherheit im nicht verbalisierten Kommunikationsspiel ist. Eine Biologin rief mich an, um ein Treffen im Labor für meinen Podcast zu vereinbaren. Wir sprechen über meine Krebsgeschichte und meine Erfahrungen und, man höre und staune, wir lachen dabei. „Wissen Sie, ich habe ja einiges erwartet, aber bestimmt nicht, dass wir so viel miteinander lachen. Das hat mir richtig Spaß gemacht, mit Ihnen zu sprechen. Danke, dass Sie mir meine Beklommenheit genommen haben. Ich hatte vorher etwas Angst vor diesem Telefonat“, sagte sie zu mir.
Und damit sind wir schon beim nächsten Thema: Krebs und Humor. Das geht nicht zusammen? Doch und zwar gut. Ich würde sogar so weit gehen, dass es überlebensnotwendig ist. Es heißt ja immer, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich möchte behaupten, der Humor ist es. Wenn ich nicht mehr lachen kann, dann ist es wirklich, wirklich ernst.
Oft genug habe ich mir für mein Lachen gerade von den Besuchern auf der Station strafende Blicke gefangen. Als wären wir bereits bei einer Beerdigung, so fühlte sich das manchmal an. „Das gehört sich doch nicht“, stand da auf der Stirn geschrieben, wenn ich mal wieder fröhlich telefonierend in einer abgeschiedenen Nische vor der Station saß. „Ist das Ihr Ernst?“, hätte ich gerne entgegnet. Ich soll mich also noch schlechter fühlen, weil ich krank bin, oder wie? Und keine Angst, ich weine auch manchmal, aber eben nicht durchgehend. Furchtbar.
Durch Zufall habe ich vor kurzem in einer Talkshow gehört, was Psychologe Leon Windscheid zum Verpacken negativer Botschaften gesagt hat (hier frei zitiert): Nur wenn wir dramatische Dinge leicht verpacken, werden sie angenommen und können besser verarbeitet werden.
Auch interessant: Bei manchen Journalistenanfragen – nicht bei allen – werde ich für den Artikel nach Bildern von mir mit Glatze gefragt. Ehrlicherweise gebe ich diese Fotos ungern heraus. Ich weiß, dass die Medien solche Bilder brauchen. Erstens für die Einordnung der Leser und dann auch für den offensichtlichen Vorher-Nachher-Vergleich. Aber das ist meines Erachtens allerdings genau das, was der oben beschriebenen Erwartungshaltung immer wieder zuarbeitet. Ich würde mir wünschen, dass das nicht wie ein optischer Musterverstärker eingesetzt wird und wir Patienten damit austauschbar einheitlich wirken. Als hätten wir eine neutralisierende Uniform an, ohne Persönlichkeit. Wir sind aber alles Individuen und damit auch im Umgang mit der Krebserkrankung ganz verschieden.
Broschüren und Webseiten, die sich aus medizinisch-pflegerischer Sicht mit der Diagnose Krebs beschäftigen, arbeiten ähnlich generisch. Immer wieder tauchen sie auf, die Glatzenmenschen, gerne auch im höheren Alter, als wäre Krebs nur eine Altersdiagnose, was es wiederum jüngeren Patienten schwer macht, ernst genommen oder gesehen zu werden. Zeitschriften mit Menschen „oben ohne“ auf dem Titelbild werden von mir sehr ungern oder erst gar nicht in die Hand genommen. Das alles trägt zu dem Bild von Krebspatienten bei, dass ich so nicht stehen lassen kann.
Natürlich gibt es ein Kapitel in der Krebsgeschichte, in der die meisten Patienten ihre Haare verlieren und natürlich ist das ein großes Thema. Darüber habe ich schon ganz früh einen Beitrag geschrieben. Das ist allerdings nur ein Therapieabschnitt und meist der kürzeste. Wenn die Haare wiederkommen, sind wir trotzdem noch Menschen mit einer Krebserfahrung, wie es neuerdings heißt. Ich sage gerne: „Die Glatze ist nur eine Phase, Hase.“
Diese Zeit danach ist die hoffentlich sehr viel längere. Wenn die Haare wiederkommen, ist das alles nicht vorbei und schon gar nicht vergessen. In meinem Blog Zellenkarussell gibt es genau aus diesem Grund kein einziges Bild von mir mit kahlem Kopf, auch keine Infusionsständer oder Krankenzimmermotive und trotzdem berichte ich über meine Erfahrungen nach der Erkrankung und erreiche jeden Monat Tausende mit meinen Beiträgen.
Ich möchte zeigen, dass es ein lebenswertes Leben nach der Diagnose gibt. Mit viel Lachen und auch wieder mit Haaren. Der erste Friseurbesuch war für mich einer der feierlichsten und berührendsten Momente. Ich spürte, ich hatte mein Leben wieder zurück. Nicht das alte, ein neues. Mit der Redakteurin, von der ich eingangs berichtet habe, hatte ich nach einer kurzen Fremdelphase ein sehr langes und gutes Gespräch. Auch ihr sind, denke ich, ein paar Gedankenlampen angegangen. Unsere Verabschiedung war am Ende eine herzliche.
Der Artikel, der dann veröffentlicht wurde, wurde dazu noch mit einem aktuellen Foto von mir, auf einer Parkbank sitzend, bebildert. Mit Locken und Lippenstift. Genauso möchte ich es weiter leben, mein neues Leben. Wild und mit Farbe.
Mehr von der Autorin gibt es hier: Das Zellenkarussell.
Bildquelle: Ivana Cajina, unsplash