Jede Krankheit ist heilbar – so lautet zumindest das Versprechen dubioser Anbieter im Internet. So lasse sich etwa Krebs durch Aprikosenkern-Extrakt heilen. Schuld daran, dass die angepriesenen Therapien nicht längst bei allen Patienten eingesetzt werden, sei die Pharmaindustrie.
Besonders Krebspatienten sind empfänglich für alternativmedizinische oder komplementäre Verfahren. Befragungen in Deutschland ergaben, dass 21 bis 78 Prozent der Krebspatienten – je nachdem, in welchem Krankheitsstadium sie befragt wurden, die konventionelle Behandlung mit komplementären Methoden ergänzen. Bei manchen Tumorerkrankungen, wie beispielsweise dem Mammakarzinom, steigt der Anteil sogar auf 90 Prozent an. Grund hierfür ist häufig der Wunsch der Patienten, aktiv etwas gegen die Erkrankung zu tun und alle möglichen Therapieoptionen auszunutzen. Die Begriffe „Komplementärmedizin“ und „Alternativmedizin“ werden häufig synonym verwendet. Dies ist jedoch nicht ganz richtig. Die American Cancer Society versteht unter „Komplementärmedizin“ alle Maßnahmen, die ergänzend zur Standardtherapie durchgeführt werden. Sie sollen die Lebensqualität verbessern oder Nebenwirkungen reduzieren. Alternativmedizinische Verfahren dagegen ersetzen die konventionelle Behandlung.
Alternativmedizinische Maßnahmen reichen von Nahrungsergänzungsmitteln über Hyperthermie bis hin zu Geistheilungen. Viele der Maßnahmen bauen auf Theorien auf, die schon im 19. Jahrhundert oder Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Besonders beliebt ist in diesem Bereich der deutschamerikanische Arzt Max Gerson (1881–1959). Dieser hatte behauptet, dass Krebs „keine lokale, sondern eine allgemeine Krankheit [ist], deren Ursache vor allem Nahrungsmittel sind, die durch moderne Anbaumethoden und die Nahrungsmittelindustrie vergiftet wurden“. Und die Alternativ-Mediziner können auch beweisen, dass die Gerson-Therapie wahr ist: So gab es im Jahr 1900 weder künstliche Düngemittel noch industrielle Landwirtschaft. Zu dieser Zeit starb nur ein Prozent der Menschen an Krebs. Mittlerweile sind es jedoch über 35 Prozent. Dank Dr. Gerson ist also ein Heilmittel gegen Krebs schon seit langer Zeit bekannt, wird jedoch bis heute von der Pharmaindustrie und der Schulmedizin vehement unterdrückt, so die Verfechter der Theorie.
Es mag wohl stimmen, dass heutzutage deutlich mehr Menschen an Krebs erkranken und daran sterben als noch vor 120 Jahren. Doch dies liegt wohl weniger an den Lebensmitteln, sondern vielmehr an der gestiegenen Lebenserwartung. Während 1870 eines von drei neugeborenen Babys noch vor seinem ersten Geburtstag starb und jedes zehnte Kind seinen fünften Geburtstag nicht erlebte, ist der Tod vor dem 60. Lebensjahr in Deutschland mittlerweile selten geworden – dank des Fortschritts der Medizin. Auch Infektionskrankheiten als Todesursache sind deutlich seltener geworden. An Tuberkulose beispielsweise starben Ende des 19. Jahrhunderts jedes Jahr etwa 160.000 Menschen. Immer mehr Menschen werden daher so alt, dass sie ihre Krebserkrankung noch erleben.
Um die Wirksamkeit ihrer Wundermittel zu untermauern, picken sich die Anbieter eine Theorie bzw. eine Publikation aus der Vielzahl der Veröffentlichungen heraus, die in ihr Konzept passt. Andere Studien werden ignoriert. Häufig werden auch die unterschiedlichsten Verschwörungstheorien rund um die Pharmaindustrie aufgestellt. Ein Beispiel: Amygdalin, oder Vitamin B17, wie es in alternativmedizinischen Kreisen genannt wird, ist ein cyanogenes Glykosid, das unter anderem in Aprikosenkernen vorkommt. Nehmen Menschen mit Krebs diesen Stoff zu sich, gelangt er über die Blutbahn auch zum Tumor. In den Krebszellen, so die Theorie, spaltet das Enzym beta-Glucosidase die tödliche Blausäure ab. In der Folge sterben die Krebszellen. Entdeckt wurde Amygdalin in den 20er Jahren von Ernst Krebs. In Tierversuchen konnte der Substanz eine antitumorale Eigenschaft nachgewiesen werden. Immer wieder erscheinen zudem Publikationen, die der Substanz in vitro eine gewisse Wirksamkeit gegen Krebs nachweisen [1, 2]. Da Amygdalin nicht patentierbar ist, so die Argumentation eines Anbieters, sei keine Pharmafirma bereit, die Forschung zu finanzieren. Ein weiterer Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln, darunter auch Amygdalin, schreibt, dass von der Lobby der Pharmafirmen haarsträubende Gesetzesvorlagen durchgesetzt wurden. Dass mehrere Studien keine Antitumorwirkung bei Krebspatienten finden konnten [z. B. 1, 2], wird von den Anbietern verschwiegen. Zudem wurde 1982 Amygdalin in einer Phase-II-Studie an 178 Menschen mit Tumorerkrankungen getestet. Die Substanz war damals den Menschen über 21 Tage intravenös verabreicht worden. Das Ergebnis: Amygdalin konnte weder die Lebenszeit verlängern, die Beschwerden verbessern oder das Krebszellenwachstum in Schach halten. Dafür besteht – vor allem bei oraler Einnahme – die Gefahr einer Cyanid-Vergiftung.
Einige Alternativmediziner versuchen mit der Kraft des reinen Bewusstseins, der sogenannten Quantenheilung, Krebs und andere Erkrankungen zu heilen. Andere schwören auf eine ganzheitliche Therapie auf körperlicher Ebene – also Entgiftungsmaßnahmen und spezielle Ernährung – sowie auf geistiger und seelischer Ebene durch mentale Arbeit. Wieder andere sehen eine Krebserkrankung als den Fluchtweg einer gepeinigten Seele an und setzen daher auf Hypnosetherapien, Heilmagnetismus und Schamanismus. Eine weitere große Gruppe besteht aus den sogenannten Geistheilern. Dies sind Menschen mit vermeintlich übernatürlichen Kräften, die sich als „Kanal“ für Energie oder Kraft verstehen. Diese Energie oder Kraft geben sie an ihre Patienten weiter. Zusätzlich hierzu wenden die Heiler auch Entspannungsübungen, Meditation, suggestive Techniken oder ähnliches an. Auch Fernbehandlungen sind möglich. Erkrankungen wie Krebs werden häufig als eine Botschaft Gottes verstanden. Der Heilerfolg hängt demnach auch vom Bewusstseinszustand, dem Glauben und dem Willen des Patienten ab.
Ob die Anbieter selber an ihre alternativmedizinischen Verfahre glauben oder ob sie nur aus Profitgier handeln, ist schwer bis kaum zu beurteilen. Dass alternativmedizinische Verfahren jedoch nicht das halten, was Anbieter versprechen, zeigt folgende Untersuchung: Für ihre Studie haben Skyler Johnson und Kollegen von der Yale School of Medicine etwa 280 Menschen mit nicht-metastasierten Krebserkrankungen (betroffen waren Brust, Prostata, Lungen und Darm) analysiert, die versuchten, ihren Tumor mit alternativen Methoden zu behandeln. Welche alternativmedizinischen Verfahren die Betroffenen angewendet haben, wurde allerdings nicht untersucht. Als Vergleich dienten den amerikanischen Wissenschaftler 560 konventionell behandelte Patienten mit merkmalsgleicher Erkrankung. Fünf Jahre nach der Erkrankung lebten noch 55 Prozent der alternativmedizinisch behandelten Patienten und 80 Prozent der konventionell Behandelten. Nach Abgleich klinischer und soziodemografischer Einflussfaktoren war die Wahrscheinlichkeit innerhalb der fünf Jahre zu versterben für alternativmedizinisch behandelte Brustkrebspatienten fünfmal, für Patienten mit Darmkrebs viermal und für Menschen mit Lungenkrebs doppelt so hoch im Vergleich zu konventionell behandelten Tumorpatienten. Allein bei Prostatakrebs wirkte sich die Form der Behandlung, also Alternativmedizin oder konventionelle Behandlung, nicht auf die Mortalität aus (86 % vs. 92 %). Verwunderlich sei dies jedoch nicht, so die Autoren, da dieser Tumor nur langsam wachse und das Follow-up von median 66 Monate im Vergleich dazu zu kurz war. „Alles in allem haben wir herausgefunden, dass für Krebspatienten, die sich für eine alternativmedizinische Behandlung ohne konventionelle Therapie entschieden haben, die Wahrscheinlichkeit höher war, früher zu sterben,“ so die Schlussfolgerung der Mediziner der Yale School of Medicine.