Chronische Nierenerkrankungen werden bei Patienten oft viel zu spät erkannt. Wie die Diagnose rechtzeitig gelingt und worauf ihr bei der Therapie achten solltet, lest ihr hier.
„Die Frage ist, müssen Sie sich als niedergelassener Hausarzt oder auch Augenarzt mit CKD auskennen? Und ich würde sagen: Definitiv!“ So beginnt Nephrologe Prof. Jörg Latus den ersten Teil „Diagnose und Therapie “ der Reihe der DocCheck CME-Veranstaltung „CKD-Update: Auf Herz und Nieren geprüft“ und nennt gleich sein Ziel für den Abend: „Wir wollen vermitteln, dass die Nephrologie das spannendste Fach ist“ – und warum es auch für andere Fachärzte relevant ist.
Eine chronische Nierenerkrankung (CKD, chronic kidney disease) ist eine schwerwiegende Erkrankung, die den Betroffenen sowohl Lebensqualität als auch Lebensjahre raubt. Die durchschnittliche Überlebensrate für CKD-Patienten im fortgeschrittenen Stadium in fünf Jahren liegt bei 55 % – zum Vergleich, bei nicht-metastierendem Krebs liegt sie bei 77 % und bei metastierendem Krebs bei 34 %. Latus sagt dazu: „Die CKDs sortieren sich zwischen Krebs ein und das hat eine Relevanz für unsere Patienten: Wir reden hier vom Sterben.“ Es wird sogar prognostiziert, dass CKD als Todesursache zukünftig weiter zunehmen wird. Deshalb mahnt Latus: „Egal was Sie tun, egal wo sie arbeiten, Sie werden mit Patienten konfrontiert, die CKDs haben.“
Besonders Patienten mit Diabetes sind häufig von CKD betroffen. Und während die Prävalenzen vieler Erkrankungen, die oft mit Diabetes einhergehen, seit den 1990ern gesunken sind, gab es bemerkenswerterweise bei den CKD nur wenig Veränderung. Der Anteil der Diabetes-Patienten, deren CKD so weit fortschreitet, dass sie eine Dialyse benötigen, ist nahezu unverändert. Das liegt laut Latus maßgeblich an zwei Faktoren: Die CKD-Diagnose erfolgt oft zu spät und es gibt nicht genügend Behandlungsmöglichkeiten.
Wie gut – oder schlecht – die Nierenfunktion eines Patienten ist, kann man mit Hilfe von zwei Werten bestimmen. Der erste Wert ist die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR, estimated glomerular filtration rate), den man im Rahmen einer normalen Blutuntersuchung bestimmen kann. Dabei gilt, je niedriger der eGFR-Wert ist, desto höher ist das Risiko für eine CKD und deren Fortschreiten. Die Werte werden in sechs Kategorien (G1–G5) eingeteilt, die unten in der Tabelle dargestellt sind. Vereinfacht gesagt, so Latus, gibt der eGFR an, wie weit ein Patient von einer terminalen Niereninsuffizienz (ESDR, end-stage renal disease) und somit der Dialyse entfernt ist. Ab einem eGFR-Wert von 15 (Kategore G4 und G5) ist das Risiko sehr hoch. Diese Patienten sehen Nephrologen am häufigsten, so Latus.
Wenn man sich allerdings nur den eGFR-Wert anschaut, übersieht man viele CKD-Patienten, warnt Latus. Deshalb sei es wichtig, dass zusätzlich auf Albumin im Urin (UACR, urine albumin cretanin ratio) getestet wird. „Die Albuminurie ist extrem einfach zu bestimmen“, betont er. „Sie brauchen nur eine Urinprobe, schicken die ein und dann müssen Sie den Wert nur noch eintragen.“ Man könne den UARC-Wert allerdings nicht zuverlässig mit einem Dip-Stick bestimmen, deshalb sollte der Urin unbedingt an ein Labor geschickt werden. Anders als bei dem eGFR-Wert gilt bei dem UACR-Wert, dass ein höherer Wert ein höheres CKD-Risiko bedeutet. Zudem würde ein hoher UACR-Wert darauf hindeuten, dass die CKD schneller voranschreite, so Latus. „Albuminurie ist der Treiber der CKD, sie führt dazu, dass die Nierenschädigung vorangeht.“
Hat man beide Werte, kann man in der unten gezeigten Tabelle nachschauen, wie hoch das Risiko für eine CKD-Progression ist. „Dann haben Sie eine CKD perfekt diagnostiziert, Sie haben sie kodiert und vor allem können Sie sie dann auch behandeln“, fasst Latus zusammen.KDIGO2020 Clinical Practice Guideline For Diabetes Management In Chronic Kidney Disease
Latus bemängelt, dass „in den meisten Hausarztpraxen keine angemessene CKD-Labordiagnistik durchgeführt wird, denn die Ärzte haben sie nicht auf dem Schirm.“ Und das führt dazu, dass die Patienten erst zu einem Nephrologen gehen, wenn die CKD schon weit fortgeschritten ist. Eine frühzeitige Diagnose würde aber einen massiven Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Denn je früher man mit einer Behandlung beginnt, desto länger kann man die Progression hin zu einer ESCD hinauszögern. Zudem steigen mit einer fortschreitenden CKD auch die Inzidenzen von weiteren Co-Morbitäten wie Herzinsuffizienzen oder Harnwegsinfektionen. „Deshalb nochmal meine Bitte an die Hausärzte“, appelliert Latus. „Messen Sie die Albuminurie, Sie tun Ihren Patienten damit was Gutes.“ Denn so könnte eine CKD viel früher erkannt werden.
Er erzählt, dass viele Mediziner unterschätzen würde, wie viele Patienten an einer CKD leiden und auf eine ESCD zugehen. „Hausärzte sagen oft: ‚So viele Dialyse-Patienten habe ich noch gar nicht gesehen‘. Und das liegt daran, dass sie oft vorher versterben.“ Deshalb sei es jetzt wichtig, dass Mediziner öfter über den Tellerrand ihres Fachgebiets hinwegschauen und mehr zusammenarbeiten: „Ich denke, die Zeit ist reif, dass wir uns auch intersektional noch mehr vernetzten.“
Bei der Behandlung einer CKD ist das große Problem, dass Nierenkörperchen, die einmal kaputt gegangen sind, für immer verloren sind. Deshalb kann man eine CKD nicht heilen, sondern nur managen. „Was man sich und den Patienten klar machen muss, ist, dass eine CKD nie besser wird“, sagt Latus, „Man kann nur dafür sorgen, dass sie langsamer schlechter wird.“ Denn wenn ein Nierenkörperchen kaputt geht, arbeiten die benachbarten Körperchen umso härter, um den Verlust auszugleichen. „Aber die können auch nicht für immer“, betont Latus. „Die gehen auch irgendwann kaputt. Und das ist das Problem.“ Deshalb zielt die Behandlung darauf ab, die verbleibenden Nierenkörperchen am Leben zu erhalten. Dafür muss der Druck, der durch das einströmende Blut in ihnen erzeugt wird, verringert werden.
Dafür gibt es zwei mögliche Ansatzpunkte: Den Vas afferens, die zuführende Arteriole des Nierenkörperchen, und den Vas efferens, die abführende Arteriole. Die klassische Behandlung besteht aus blutdrucksenkenden Medikamenten und RAASi, Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Diese sorgen für eine Weitung des Vas efferens, wodurch das Blut leichter aus den Nierenkörperchen abfließen kann und der Druck somit sinkt.
Doch dann wurde vor wenigen Jahren beobachtet, dass ein Medikament zur Behandlung von Diabetes-Typ-2 auch bei CKD sehr wirksam ist: SGLT-2-Inhibitoren. Sie verhindern, dass Glukose in der Niere rückabsorbiert wird, wodurch vermehrt Glukose durch den Urin ausgeschieden wird. Die Niere steuert dagegen, indem sie den Vas afferens verengt. Der Blutstrom in das Nierenkörperchen wird also verringert – und mit ihm der Druck. Es ist das erste CKD-Medikament, das am Vas afferens ansetzt. Latus sagt dazu: „Die CKD-Behandlung hat nun einen ganz neuen Ansatz.“
Nach der Entdeckung dieser weiteren Einsatzmöglichkeit der SGLT-2-Inhibitoren titelte das Nature Magazin: „The surprise blockbuster“. Zurecht, sagt Latus, denn „niemand hätte gedacht, dass es so einschlägt. SGLT-2-Inhibitoren scheinen der Niere immer zu helfen – egal, warum es ihr schlecht geht.“ Auch wenn man die CKD-Patienten in verschiedene Subgruppen aufschlüsselt, zeigt das Medikament immer einen positiven Effekt. Es ist für jede Altersklasse, jeden eGFR- und UACR-Wert und jedes CKD-Stadium geeignet. „Ich glaube, dass es da draußen keinen CKD-Patienten gibt, der keine SGLT-2-Therapie haben sollte“, fasst Latus zusammen.
Ärzte sollten sich aber bewusst sein, dass durch den Druckabfall in den Nierenkörperchen der eGPR-Wert nach Beginn der SGLT-2-Therapie auch oft sinkt. Das sei aber zu erwarten und kein Grund zur Sorge. Langfristige Studien haben gezeigt, dass SGLT-2-Inhibitoren die durchschnittliche Dauer bis zur ESDR verlängert „und das ist, was wir wollen“, so Latus. „Also ganz ruhig bleiben und das Medikament weitergeben“, rät er. Ganz wichtig sei dabei aber zu verstehen, dass es sich bei SGLT-2-Inhibitoren um ein „Add-on“ und nicht um einen Ersatz für RAASi handelt. Deshalb appelliert er an die Ärzte: „Bitte hören Sie nicht auf, RAASi zu geben. Die gehören immer dazu. Aber wir haben jetzt etwas zusätzliches.“ Ob man SGLT-2-Inhibitoren auch weitergeben sollte, wenn der Patient schon dialysepflichtig ist, sei aber noch nicht klar. „Die Daten gibt es einfach noch nicht“, sagt Latus. Sie seien aber in naher Zukunft zu erwarten.
SGLT-2-Inhibitoren können das Risiko für eine ESDR zwar reduzieren, aber nichtsdestotrotz gibt es noch Patienten mit einem Risiko. Deshalb geht die Suche nach Add-on-Medikamenten weiter. Und es gibt auch schon einen Kandidaten, der ebenfalls aus der Diabetes-Typ-2-Therapie kommt: Finerenon, ein nicht-steroidaler Aldosteronantagonist. Finerenon ist allerdings zurzeit für eine CKD-Behandlung nur für Patienten mit Diabetes-Typ-2 zugelassen. Aber für diese Patienten „haben wir mit Finerenon jetzt die Chance, die Behandlung nochmal zu verbessern.“
Latus hoffte, dass zukünftig noch mehr Medikamente entwickelt werden – oder umgewidmet, wie im Fall von SGLT-2-Inhibitoren und Finerenon – um die Zeit bis zu einer ESDR und einer Dialysepflicht so lange wie möglich hinauszuzögern. Im besten Fall so lange, dass es niemals zu einer Dialyse kommt. Er erwähnt zuletzt noch die GLP-1-Inhibitoren, die ganz neu als mögliche Add-ons diskutiert werden. Er resümiert: „Da geht noch viel, viel mehr.“
Bildquelle: DocCheck