„Immer kommt ihr, wenn es Essen gibt!“, schimpft Herr Stöcker, als ich ihn gegen Grippe impfen will. Er hat schon irgendwie Recht – sonst kaum Ansprache und dann beim Mittag gestört werden. Mein Impf-Tag im Altenheim.
Altenheim – darf man das überhaupt sagen? Oder lieber Seniorenheim? Betreuungsheim? Seniorendependance? Manchmal habe ich den Eindruck, man darf das Wort „alt“ nicht sagen, als sei es etwas Abwertendes. Dabei ist es doch nur eine Zustandsbeschreibung. Es gibt junge, mittelalte und alte Menschen und wer ein gewisses Lebensalter erreicht hat, ist nun mal älter oder alt. Es ist nicht genau definiert, ab welchem Alter man Senior ist. In einer Definition heißt es: „Senior ist ein älterer Mensch.“ In einer anderen „ab 50 Jahren“. Das würde jedenfalls meine präsenile Bettflucht erklären, wenn ich in meinem zarten Alter von 42 Jahren mal wieder um 6 Uhr morgens wach bin. Im Allgemeinen wird jedoch ab einem Alter von 65 Jahren, also mit Eintritt ins Rentenalter, ein Mensch als Senior bezeichnet.
Glücklicherweise sind heutzutage die meisten Menschen dieser Altersgruppe noch rüstig und mobil. Wer aber alleine nicht mehr zurechtkommt, der geht in ein Betreuungsheim – manchmal freiwillig, manchmal nicht. Es geht mir ans Herz, wenn ich mitbekomme, dass einige alte Menschen durch Tricks der Kinder oder Enkelkinder ihre Häuser oder ihre Selbständigkeit verlieren und im wahrsten Sinne des Wortes ins Heim abgeschoben werden.
Die Senioren unterschreiben eine Betreuungsverfügung, um im Krankheitsfall Unterstützung zu kriegen, und – zack – wird das Haus verkauft und ein Zimmer im Heim reserviert. Natürlich ist das etwas überspitzt dargestellt und man hört selten beide Seiten der Geschichte. Manchmal aber sind die Bewohner der Heime nicht ohne deutliche Überredungskünste in die Betreuung gegangen. Verständlich, schließlich gibt man seine Selbständigkeit auf, verlässt sein Zuhause und muss sich auf kleinem Raum neu einrichten – mit dem Wissen, dass diese Einrichtung das letzte Zuhause sein wird.
Auf der anderen Seite gibt es Angehörige, die sich die Entscheidung nicht leicht machen und monatelang überlegten, ob sie damit leben können, ihre Lieben in betreuende Hände zu geben, weil sie die Pflege einfach nicht mehr schaffen. Schließlich müssen viele selbst noch arbeiten, haben vielleicht Enkelkinder oder sind nicht bei guter Gesundheit. Wie oft habe ich Gespräche mit verzweifelten Angehörigen geführt, die von ihrem Gewissen zerfressen werden, weil sie ihre Mutter, den Vater oder beide Eltern nicht mehr versorgen können. Dann ist eine professionelle Betreuung Gold wert.
Als Ärztin mache ich die Besuche im Heim gerne. Nicht nur, weil es eine Abwechslung vom Sprechstundenalltag ist, sondern auch, weil ich die Gespräche meist als sehr freundlich und herzlich empfinde. Die meisten Bewohner sind offenherzig, lieb und freuen sich, wenn man bei ihnen vorbeischaut. Selten sind es wirklich ausgeprägte medizinische Beratungen, sondern eher das Abhören der Lunge und Blutdruckmessen, das Aktualisieren der Medikamente oder die Organisation des Schwartenmagens zum Abendessen mit den Angehörigen.
Vor einigen Wochen war ich angesichts der Grippesaison auf Impftour im Seniorenheim, denn im gehobenen Alter ist die Influenza eine gefährliche Sache.
Wir – meine tolle MFA und ich – laufen also zur Mittagszeit durch die Flure und suchen eine Pflegefachkraft, um unsere Patienten ausfindig zu machen. Im Personalbüro werden wir fündig.
„Herr Brandt ist im Aufenthaltsraum, Frau Müller im zweiten Stock, Herr Stöcker ist im Zimmer und Frau Held im Speisesaal im Erdgeschoss“, erklärt uns die Mitarbeiterin. Wir begeben uns also auf die Suche nach unseren Impflingen. Als erstes treffen wir in einem kleinen Aufenthaltsraum Herrn Brandt beim Mittagessen an. Er ist beinahe fertig mit dem Essen und pickt mit der Gabel gerade das letzte Stück Fleisch auf. Wir begrüßen ihn.
„Herr Brandt, hallo! Wir kommen aus der Praxis und möchten Sie gerne impfen.“ Keine Reaktion. Herr Brandt schaut konzentriert auf seine Gabel und kämpft mit dem Fleisch.
„HERR BRANDT?“
„WAAAS?“, tönt es uns entgegen.
„Wir sind aus der Praxis. Wir möchten Sie impfen!“
„WAS MÖCHTEN SIE?!“ Er scheint ein wenig schwerhörig zu sein.
„IMPFEN!“ Wir reden lauter. Herr Brandt nickt und lacht freundlich.
„Ah ja.“ Er nickt wieder und wendet sich seinem Essen zu. Ich überlege, wie wir ihn vom Essen weg und zwecks Impfung in sein Zimmer lotsen können.
„Herr Brandt?“ Keine Reaktion.
„HERR BRANDT?“ Er schaut uns erstaunt an.
„DÜRFEN WIR SIE IMPFEN?“
„WAS WOLLEN SIE?“
„IMPFEN! GEGEN GRIPPE!“
„Ach ja …“
Er schiebt kurzerhand seinen Ärmel nach oben und die Überlegung, wo wir ihn impfen, hat sich erledigt. Wir können also zur Tat schreiten. Fünf Sekunden später ist die Impfung an Ort und Stelle, das Pflaster ebenso und wir verabschieden uns.
Wir gehen weiter und suchen Herrn Stöcker im gleichen Stockwerk, wir treffen ihn in seinem Zimmer an. Auch er sitzt natürlich beim Mittagessen, schließlich sind wir erst nach der Sprechstunde aufgebrochen.
„Hallo!“, flöten wir, als wir das Zimmer betreten. Der Herr schaut uns freundlich an, grüßt und isst weiter.
„Wir würden Sie gerne gegen Grippe impfen“, erklären wir und sein Blick trübt sich.
„Immer kommt ihr, wenn es Essen gibt!“ Er schimpft und wird kurz laut. „Ihr wisst doch, wann es Essen gibt!“ Ich kann den Ärger nachvollziehen. Den ganzen Tag hat man wenig Ansprache und dann wird man beim Mittagessen gestört.
Wir entschuldigen uns: „Das tut uns leid, aber wir haben ja auch gerade Mittagspause und müssen die Impfungen erledigen.“ Mürrisch krempelt er seinen Ärmel hoch und lässt es geschehen. Als ich fertig bin, hat er sich schon wieder beruhigt und ruft uns beim Verabschieden ein nettes „Auf Wiedersehen!“ hinterher.
Im Speisesaal treffen wir Frau Müller, sie unterhält sich gerade angeregt mit den anderen Damen am Tisch. Sie hat sich sehr schick gemacht, trägt einen tollen Anzug und Bluse. Wir begrüßen sie und erklären, dass wir ihr gerne eine Impfung geben möchten. Sie nickt, schaut dann auf ihr Essen, schließlich auf uns und wünscht: „Aber schnell, mein Essen wird ja kalt.“
„Können wir es denn hier machen?“ Das ist bestimmt nicht jedem recht, denke ich so bei mir, da hat sie sich aber schon des Blazers entledigt. „Es ist ja so kalt hier!“, sagt sie. Ich schwitze bei etwa 25 Grad im Saal in meinem dünnen Shirt. Sie schiebt sich die Bluse von oben über die Schulter.
„Das ist übrigens unsere neue Ärztin“, stellt meine MFA mich der Dame vor, weil sie mit meinem Namen natürlich noch nicht so viel anfangen kann. „Sie ist jung und dynamisch!“, ergänzt sie und grinst mich an. Ich muss lachen. Jung – im Gegensatz zum Altersdurchschnitt in dem Speisesaal kann man mich wahrscheinlich noch als jung bezeichnen. Frau Müller blickt nicht auf und grummelt mürrisch: „Jung und dynamisch? Na, das ist ja auch nicht immer das Beste!“ Ein herzlicher Empfang, wie ich es mag. Ich muss sehr schmunzeln über ihren trockenen Spruch.
Zu guter Letzt ist noch Frau Held an der Reihe, sie sitzt gerade beim Nachtisch und möchte die Impfung nicht unter den Blicken der anderen Gäste bekommen. Wir gehen in einen anderen Raum. „Seit 40 Jahren lasse ich mich immer gegen Grippe impfen!“, erklärt sie uns danach und geht rasch wieder in den Speisesaal zu ihrem Joghurt. Sie wirkt zufrieden und gelöst.
Man weiß selbst nie, wo es mit der eigenen Gesundheit hingeht, ob man das Rentenalter erreicht und wie man dann leben wird. Ich selbst habe seit 7 Jahren einen implantierten Defibrillator, der mein vorzeitiges Ableben durch Herzrhythmusstörungen verhindern soll. Aber meine Mutter starb viel zu früh an Krebs. Das macht einen nachdenklich. Sie sagte vor ihrer Krankheit immer, dass sie später mal ins Heim gehe, um uns nicht zu belasten. Das konnte ich mir nie vorstellen, aber am Ende hat sie das normale Rentenalter nicht mal ansatzweise erreicht.
Meine Großeltern lebten in einem betreuten Wohnen und diese Lösung finde ich sehr gut. Man ist selbständig und flexibel, aber hat etwas Hilfestellung – beispielsweise bei der Körperpflege – und im Notfall ist auch eine Fachkraft verfügbar. Oft habe ich auch schon von alten Menschen gehört, dass sie sich im Heim gut aufgehoben fühlen, weil sie sich einfach um vieles nicht mehr sorgen und kümmern müssen. Wir können nur hoffen, dass angesichts des Pflegenotstandes die Betreuung aufrechterhalten bleibt. Die Pfleger, die ich bisher so getroffen habe, machen ihren Job mit Herzblut und großer Kompetenz. An dieser Stelle sei gesagt: Hut ab und vielen Dank!
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