Ein neues automatisiertes System erfasst die Narkosetiefe in Echtzeit und passt die Dosis des Narkosemittels an. Haben menschliche Anästhesisten damit ausgedient?
Bei einer Vollnarkose während einer Operation oder intensivmedizinischen Behandlung verabreicht der Anästhesist ein oder mehrere Narkosemittel, um den Patienten in eine Art Schlafzustand zu versetzen. Dabei werden die bewusste Wahrnehmung, das Schmerzempfinden und die Bewegungsfähigkeit vorübergehend ausgeschaltet. Um sicherzustellen, dass die Narkose ausreichend tief ist, geben Anästhesisten teilweise mehr Narkosemittel als notwendig wäre, um eine ausreichende Narkosetiefe ohne bewusste Wahrnehmung aufrecht zu erhalten. Das erhöht jedoch das Risiko für postoperative kognitive Störungen, die insbesondere bei älteren Menschen auftreten können.
Ein automatisiertes Regelkreis-Narkosesystem (englisch: closed-loop anesthesia delivery system, CLAD), das für die Dauer der Operation einen konstanten, präzisen Grad an Bewusstlosigkeit aufrecht erhält, könnte dazu beitragen, eine zu hohe Dosierung an Narkosemitteln und dadurch unerwünschte kognitive Nachwirkungen zu vermeiden. „Wegen der vielfältigen Aufgaben im Operationssaal bleibt Anästhesisten zudem häufig keine Zeit, die Dosierung der Narkose kontinuierlich anzupassen“, sagt Prof. Emery N. Brown. Er ist Professor für Medizintechnik und computerbasierte Neurowissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. „Der Vorteil eines automatisierten Narkose-Systems könnte sein, Anästhesisten zu entlasten, Fehler zu reduzieren und so die Versorgungsqualität zu verbessern.“
Ein solches System könnte auf der Echtzeit-Auswertung der Gehirnaktivität basieren. Es würde ähnlich funktionieren wie ein Thermostat, das eine Heizung oder Klimaanlage automatisch so reguliert, dass eine konstante Temperatur aufrecht erhalten wird. In den USA ist von der FDA bisher kein solches Narkosesystem zugelassen. Ein Grund dafür ist, dass Closed-Loop-Systeme bisher nicht in Tierstudien überprüft wurden, die klinisch, physiologisch und anatomisch für den Menschen relevant sind.
Nun hat ein Forscherteam um Brown vom MIT und MGH ein Regelkreis-Narkosesystem entwickelt, das die Tiefe der Bewusstlosigkeit automatisiert und präzise in Echtzeit steuert. Dabei wird die Narkosetiefe anhand der Gehirnaktivität erfasst. Um eine definierte Narkosetiefe aufrecht zu erhalten, wird alle 20 Sekunden automatisch die benötigte Menge des Narkosemittels Propofol abgegeben. Das neue Narkosesystem erprobten die Wissenschaftler in Experimenten mit zwei Rhesusaffen. Ihre Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift PNAS Nexus erschienen.
In Voruntersuchungen erfassten die Forscher mithilfe von Elektroden im Bereich des präfrontalen Cortex zunächst die lokalen Feldpotentiale (LFP). Dies sind elektrische Signale, die durch die synchrone Aktivität einzelner, nahe gelegener Neuronen entstehen. Durch Vergleiche verschiedener Kennwerte kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Power der LFP im Frequenzband 20 bis 30 Hertz ein zuverlässiger Marker für die Tiefe der Bewusstlosigkeit ist.
In ihr computerbasiertes Regelkreis-System integrierten die Wissenschaftler ein Modell der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Propofol. Dieses erlaubt es vorherzusagen, welche Menge des Wirkstoffs benötigt wird und wie schnell sie verabreicht werden muss, um eine bestimmte Veränderung der Narkosetiefe zu erreichen. In weiteren Versuchen stellten Brown und sein Team fest, dass sie mit kurzen, einfachen LFP-Messungen während der Propofolgabe schnell herausfinden konnten, wie jemand individuell auf die Substanz reagiert. Dadurch war es möglich, das Modell schnell an ein individuelles Versuchstier anpassen.
Im nächsten Schritt erprobten die Wissenschaftler das neue Narkosesystem in zwei Rhesusaffen. Die Narkose wurde zunächst manuell eingeleitet, nach 30 Minuten übernahm das CLAD-System die Narkosesteuerung. Dieses vergleicht die gemessenen lokalen Feldpotentiale in Echtzeit mit dem – ebenfalls durch die LFP definierten – gewünschten Grad an Bewusstlosigkeit. Bei Abweichungen zwischen Ist- und Soll-Wert wird alle 20 Sekunden automatisch die für eine bestimmte Narkosetiefe benötigte Propofolmenge abgegeben. Die Experimente ergaben, dass das System in der Lage war, die Narkosetiefe über 18 Stunden und 45 Minuten präzise zu steuern. In diesem Zeitraum wurden die Tiere in neun Experimenten von je zwei Stunden Dauer in verschiedenen, zuvor definierten Graden von Bewusstlosigkeit gehalten.
Weiterhin beobachteten die Forscher, dass der Marker für Bewusstlosigkeit in den ersten 30 Minuten der Narkose bei konstanter Infusionsrate kontinuierlich absank. Übernahm das Closed-Loop-System die Narkosesteuerung, wurde zunächst drei bis acht Minuten lang kein Propofol abgegeben. „Das ist eine klinisch relevante Beobachtung“, schreiben die Autoren. „Es zeigt, wie die üblicherweise verwendeten konstanten Infusionsraten zu einer Überdosierung des Narkosemittels führen können.“ Bei solchen Dosierungen können insbesondere ältere Patienten schnell in eine tiefe Bewusstlosigkeit geraten, die durch eine so genannte Burst Suppression gekennzeichnet ist. Dabei handelt es sich um Phasen von nahezu fehlender elektrische Aktivität im Gehirn, die sich mit kurzen Phasen starker elektrischer Aktivität abwechseln – ein Hirnstrom-Muster, das unter physiologischen Bedingungen nicht zu beobachten ist.
Zusammengefasst ermögliche es das neue System, die Narkosetiefe anhand der eingesetzten Propofolmenge präzise, zuverlässig und in Echtzeit zu steuern, schreiben die Autoren. Ihr Ziel ist es, das System in Zukunft routinemäßig auch beim Menschen einsetzen zu können. Dabei soll auch die Einleitung und Beendigung der Narkose automatisiert gesteuert werden. Dazu sind jedoch weitere Studien notwendig. „Ein Aspekt dabei ist, geeignete Kennwerte für die Tiefe der Bewusstlosigkeit beim Menschen zu finden“, schreiben die Forscher. Dies könnten Kennwerte im Elektroenzephalographamm (EEG) sein. So hat sich gezeigt, dass der Grad der Bewusstlosigkeit in Narkose mithilfe von Echtzeit-Kennwerten im EEG, etwa der Aktivität in bestimmten Frequenzbändern zuverlässig erfasst werden kann. „Wir sind sehr optimistisch, dass das von uns entwickelte Narkose-System in Zukunft erfolgreich bei Menschen eingesetzt werden kann“, resümiert Brown.
Die Idee, die Medikamentengabe während einer Narkose anhand von EEG-Parametern zu steuern, sei nicht ganz neu, sagt Prof. Gerhard Schneider. Er ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM) und federführend in der Kommission Neuromonitoring der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) tätig. „Allerdings ist einiges noch nicht in der Form wie in der Studie untersucht worden. Bisher kamen überwiegend aus dem EEG errechnete Indexwerte zum Einsatz. Diese wurden von Firmen entwickelt und ihre genaue Berechnung ist unbekannt, es handelt sich dabei sozusagen um eine ‚Black Box‘“, erläutert der Experte. „In der vorliegenden Arbeit wurden dagegen mathematisch nachvollziehbare EEG-Parameter zur Messung der Tiefe der Bewusstlosigkeit verwendet und ein Modell zur Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Propofol einbezogen.“
Die neue Studie zeige, dass die Steuerung der Narkose-Tiefe und das Beibehalten eines bestimmten Grades von Bewusstlosigkeit mit einem Closed-Loop-Narkosesystem prinzipiell möglich seien, so der Experte. Allerdings bedeute das nicht unbedingt, dass es sinnvoll sei, solche Systeme zukünftig routinemäßig in der Praxis einzusetzen. „Bei einer Narkose spielen insbesondere drei Komponenten eine Rolle: die Ausschaltung des Bewusstseins, die Ausschaltung von Schmerzen und die Aufrechterhaltung eines stabilen Herz-Kreislauf-Systems“, erläutert der Anästhesist. „Einem Closed-Loop-Narkosesystem liegt die Annahme zugrunde, dass man eine dieser Komponenten unabhängig von den anderen steuern kann – diese beeinflussen sich jedoch gegenseitig. Zusätzlich ist nicht berücksichtigt, dass während einer Operation verschiedene chirurgische Reize auf den Patienten einwirken, etwa in Form von Schmerzen oder mechanischen Belastungen.“ Ziel bei einer Narkose sei es, vorausschauend zu handeln, um das Einwirken negativer Reize auf den Patienten möglichst zu vermeiden. „Das bedeutet, dass es sinnvoll ist, bereits vor einem chirurgischen Stimulus, etwa einem Hautschnitt, ein tieferes Narkosestadium einzuleiten – und insgesamt die Medikamentengabe und den Grad der Bewusstlosigkeit vorausschauend anzupassen“, betont Schneider. „Das kann nur durch einen Menschen zielgenau gesteuert werden.“
In der Vergangenheit habe es schon einmal ein Closed-Loop-Narkosegerät gegeben, bei dem die Gabe von Propofol automatisch anhand der Registrierung von Patientenreaktionen gesteuert wurde. „Das Gerät namens Sedasys wurde 2013 in den USA zugelassen, allerdings nur zur Steuerung einer Sedierung, wie sie bei kleineren und wenig belastenden Eingriffen, etwa einer Darmspiegelung erfolgt“, berichtet der Anästhesist. Das Gerät sei nach weniger als einem Jahr wieder vom Markt genommen worden, die Gründe dafür seien unklar. Möglicherweise sei es aus Sicht der Firma nicht ausreichend profitabel gewesen, vermutet Schneider. Bei längeren und deutlich belastenderen Eingriffen sei ein Closed-Loop-Narkosesystem aber nicht von Vorteil.
Sehr sinnvoll sei es dagegen, bei Operationen standardmäßig ein EEG-Monitoring durchzuführen. „Auf diese Weise kann man die Tiefe der Bewusstlosigkeit kontinuierlich beobachten und gezielt anpassen“, sagt Schneider. „Das ist zum einen wichtig, um postoperative kognitive Störungen und mögliche Langzeitfolgen einer zu tiefen Narkose zu vermeiden. Aber es ist auch bei jüngeren Patienten sinnvoll. Denn wir erleben immer wieder Überraschungen, wie ein Patient auf die Narkosemedikamente reagiert.“ So würden manche Patienten deutliche Veränderungen im EEG, andere geringere Veränderungen zeigen. „Der Vorteil ist, dass wir sofort gegensteuern können, wenn wir während der Operation Zeichen einer zu tiefen Narkose sehen – etwa durch eine geringere Dosis des Narkosemittels oder durch unterstützende Medikamente“, erläutert der Experte. „Allerdings gelingt es uns nicht immer, das optimale EEG hervorzurufen. Das kann dann ein wichtiges Signal sein, dass es sich um einen Hochrisikopatienten handelt, der nach der Operation intensiv nachbetreut werden muss, um ein postoperatives Delir zu vermeiden.“
Konkret geht es darum, während der Narkose eine Burst Suppression zu vermeiden und die Aktivität im Alpha-Band des EEG aufrecht zu erhalten. „In Studien hat sich gezeigt, dass eine Burst Suppression mit einer hohen Rate postoperativer kognitiver Störungen und langfristiger negativer Folgen nach der Narkose wie anhaltenden Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen einhergehen kann“, erläutert Schneider. „Umgekehrt ist eine hohe Aktivität im Alpha-Band mit einem geringeren Risiko für postoperative Störungen verbunden.“ Daher werde bei Operationen in ihrer Klinik standardmäßig ein EEG-Monitoring durchgeführt.
Inzwischen sei dies in immer mehr Kliniken in Deutschland der Fall – wenn auch noch nicht flächendeckend. „In den letzten fünf bis zehn Jahren hat das EEG-Monitoring bei Operationen stark zugenommen“, berichtet der Anästhesist. Die Kenntnisse dafür seien zwar bisher kein Bestandteil der Facharztausbildung für Anästhesie, sie können jedoch in Weiterbildungen erworben werden. „Wir arbeiten darauf hin, solche Weiterbildungen bekannter zu machen und die Ausbildung von Anästhesisten in Bereich EEG-Monitoring zu fördern“, sagt Schneider. Dies geschehe etwa über die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). „Aus unserer Sicht sollte das EEG-Monitoring während der Anästhesie jetzt flächendeckend als Routine eingeführt werden, nicht erst in zehn Jahren“, betont der Experte.
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