Strategien zum Abnabeln von Frühgeborenen gibt es viele – ebenso uneinheitlich sind die weltweiten Leitlinien. Forscher kommen nun zum Schluss: Mindestens zwei Minuten sollten Ärzte abwarten.
Geht es einem Neugeborenen schlecht, möchten Geburtshelfer so schnell wie möglich das Kind an die Neonatologen übergeben. Das bedeutete bisher ein sofortiges Abnabeln und schnellstmögliche Übernahme in die Reanimationseinheit. Ob dies immer das beste Vorgehen bei Frühgeborenen ist, war Gegenstand einer groß angelegten Studie. Sie wurde nun mit interessanten Ergebnissen in The Lancet veröffentlicht.
Weltweit kommen jedes Jahr nahezu 13 Millionen Frühgeborene vor der SSW 37+0 zur Welt. Davon versterben fast 1 Millionen Kinder innerhalb von vier Wochen. Besonders Frühgeborene profitieren von einem kontinuierlichen Nabelschnurfluss postpartal, der den Lungen mehr Zeit für einen reibungsloseren Übergang zur neonatalen Atmung lässt. Die Frage, wie lange man mit dem Abklemmen der Nabelschnur warten sollte, blieb bisher unbeantwortet. Die weltweiten Leitlinien für die Strategie des Abnabelns bei Frühgeborenen sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von 30 bis mindestens 60 Sekunden. Einige Leitlinien empfehlen das Abklemmen der Nabelschnur erst dann, wenn die Lungen belüftet sind. Andere schlagen das Ausstreifen der Nabelschnur, sogenanntes Ausmelken, als Alternative zum verzögerten Abklemmen vor. In mehr als 100 Studien wurden bisher Strategien beim Abnabeln von Frühgeborenen verglichen, jedoch konnte kein zufriedenstellendes Ergebnis gefunden werden.
Unter australischer und britischer Federführung wurden 2.369 Datensätze, von denen in 48 randomisierte Studien individuelle Teilnehmerdaten von 6.367 Neugeborenen ausgewertet wurden, berücksichtigt. Es wurden verschiedene Zeitpunkte des verzögerten Abnabelns, des Nabelschnurausstreichens und die sofortige Abnabelung bei Frühgeborenen miteinander verglichen. Alle Daten wurden nach vorgegebenen Kriterien geprüft und das Ergebnis war über mehrere Untergruppen auf Teilnehmer- und Studienebene hinweg konsistent.
Die Studie zeigte, dass ein verzögertes Abnabeln nach mindestens 120 Sekunden mit hoher Wahrscheinlichkeit die beste Strategie zur Verhinderung kindlicher Todesfälle bei Frühgeborenen ist. In dieser Gruppe war die Zahl der Todesfälle bis zur Entlassung im Vergleich zu den Frühabnabelungen am geringsten. Sie reduzierte sich um ein Drittel. Ein Ausstreichen der Nabelschnur erbrachte sowohl bei den sofort als auch bei den verzögert abgenabelten Kindern keinen eindeutigen Unterschied bezüglich der Rate an Todesfällen.
Vorläufige qualitative Untersuchungen haben zudem ergeben, dass das Aufschieben der Abnabelung für die Mütter ein wesentlicher Beitrag zu einem positiveren Geburtserlebnis sein könnte. Es wird als eine unmittelbarere und längere Verbindung zum Kind beschrieben.
Die Plazenta ist ein enormes Reservoir sauerstoffreichen fetalen Blutes, das durch schnelles Abnabeln ungenutzt bleibt.
Während das Kind noch mit der Nabelschnur verbunden ist, wird der plazentare Kreislauf noch einige Minuten nach der Geburt aufrechterhalten. Dadurch wird ein zirkulierendes zusätzliches Blutvolumen von 80–100 ml geschaffen, was einer Erhöhung um etwa 30 % entspricht.
Untersuchungen zeigen, dass die Schwerkraft kaum Einfluss auf die Plazentatransfusion hat, sondern der Hauptfaktor für die weitere Plazentazirkulation die Atmung des Kindes ist. Durch sie entsteht ein Druckunterschied, der das Blut gleichsam in den kindlichen Kreislauf zieht.
Die Folgen sind weniger kindliche Anämien, geringerer Bedarf an Bluttransfusionen, mögliche Risikoverringerung von Hirnblutungen und nekrotisierender Enterokolitis. Die postnatale Sterblichkeit verringert sich um etwa 33 %.
Es gibt keine Belege für eine nachteilige Auswirkung der verzögerten Abnabelung gegenüber dem Neugeborenen oder der Mutter.
Verzögertes Abnabeln erfordert eine anspruchsvolle multidisziplinäre Zusammenarbeit eines Teams aus Hebammen, Geburtshelfern, Kinderärzten und ggf. Mitarbeitern der Anästhesie.
Problematisch sind Situationen, in denen eine sofortige Therapie des Kindes nötig ist, was insbesondere bei Frühgeborenen nicht selten vorkommt. Müssen sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet werden, benötigt ein verzögertes Abnabeln bestimmte technische Voraussetzungen, damit das neonatologische Team trotzdem einen adäquaten Handlungsspielraum hat. Eine Neuerung zur medizinischen Erstversorgung Neugeborener aus den Niederlanden könnte dabei eine wichtige Errungenschaft sein.
Entwickelt wurde der Concord (con cord = mit Nabelschnur) Birth Trolley® durch Prof. Arjan te Pas und Prof. Stuart Hooper am medizinischen Zentrum der Universität Leiden.
Es handelt sich um einen mobilen Wagen, auf dessen höhenverstellbaren und drehbaren Arm sich eine mobile Tragefläche für das Neugeborene befindet. Das Kind wird nahe bei der Mutter positioniert, wobei die Nabelschnur über eine patentierte Öffnung geführt wird. Die Mutter sieht ihr Kind und kann es berühren.
Der Birth Trolley verfügt neben einer Wärmelampe über ein umfassendes Monitoring aus EKG und Sauerstoffsättigung, sowie Beatmungsvorrichtungen. Dadurch besteht keine Dringlichkeit mehr für ein schnelles Abnabeln, da die Erstversorgung an der Nabelschnur so lange erfolgen kann, bis das Baby vollständig stabil ist und selbständig atmet. Das System ist sowohl bei Spontangeburten als auch während eines Kaiserschnittes einsetzbar.
Das Universitätsklinikum Dresden hat als erste deutsche Geburtsklinik einen Concord Birth Trolley® eingeführt. Mittlerweile wird er auch an weiteren Perinatalzentren eingesetzt.
„Aus medizinischer Sicht ist der größte Vorteil des Birth Trolleys, dass er einen schonenden Übergang von der Nabelschnurversorgung hin zur Selbstatmung des Kindes bei größtmöglicher Kreislaufstabilität ermöglicht“, meint PD Dr. Thomas Völkl, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der KJF Klinik Josefinum in Augsburg, das als dritte deutsche Klinik den Concord Birth Trolley® seit 2022 eingeführt hat.
Verzögertes Abnabeln bereitet Frühgeborenen einen möglichst sanften und medizinisch optimalen Start ins Leben. Die postnatale Sterblichkeit verringert sich um ein Drittel. Es sollte mindestens zwei Minuten, besser noch länger, abgewartet werden. Das erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Geburtshilfe und Neonatologie. Schwierig gestaltete sich bisher das Dilemma zwischen verzögertem Abnabeln, Nähe zur Mutter und neonatologischer Erstversorgung. Der Concord Birth Trolley® scheint eine sehr sinnvolle Errungenschaft für die moderne Geburtsmedizin zu sein.
Seidler, Anna Lene, et al.; Deferred cord clamping, cord milking, and immediate cord clamping at preterm birth: a systematic review and individual participant data meta-analysis. The Lancet (2023).
Concord neonatal
Josefinum KJF Klinik Augsburg
Bildquelle: Getty Images, unsplash