Nach dem Ende der Pandemie-Maßnahmen kam es zu einer Häufung an Atemwegserkrankungen – dank des Nachholeffekts. Müssen wir uns auch dieses Jahr auf überfüllte Praxen und Krankenhäuser einstellen?
Alle Jahre wieder beginnt die Erkältungssaison. Doch seit 2020 ist sie einfach nicht mehr wie früher. Erst war es die Corona-Pandemie, die alles auf den Kopf gestellt hat und letztes Jahr war es der berühmt-berüchtigte Nachholeffekt. Müssen wir auch dieses Jahr noch nachholen oder ist endlich alles wieder wie früher – und was bedeutet das eigentlich, dieses Nachholen?
Die Immunität gegen die meisten Erreger von Atemwegserkrankungen (akute respiratorische Erkrankung, ARE) hält immer nur für eine gewisse Zeit. Prof. Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, erklärt im Gespräch mit den DocCheck News, dass der Verlust des Immunschutzes mit mehreren Faktoren zusammenhängt. Zum einen mutieren viele Erreger regelmäßig: „Die Grippe verändert sich jedes Jahr und SARS-CoV-2 ist noch so jung, dass es sich wild austobt.“ Deshalb sind gerade bei diesen Viren jährliche Auffrischungsimpfungen sinnvoll. Um gegen alle ARE geschützt zu bleiben, mit denen ein Mensch jemals in Kontakt gekommen ist, müssten sich aber auch sehr viele Antikörper dauerhaft in den Schleimhäuten der Atemorganen befinden, was das Immunsystem überlasten würde – und möglicherweise Autoimmunerkrankungen begünstigen würde. Deshalb nimmt die Immunität nach Erreger-Kontakt zunehmend ab – „und nach wenigen Jahren ist man wieder ‚fällig‘ für diesen Erreger“, so Watzl. „Und nach der Aufhebung der Pandemie-Maßnahmen haben wir die doppelten und dreifachen Jahrgänge, die wieder ‚fällig‘ sind für die Infektionen, weil sie ihre Immunität nicht aufgefrischt haben.“
Ein gängiges Missverständnis, mit dem Ärzte immer wieder konfrontiert werden, ist, dass ein „fälliges“ Immunsystem gleichzusetzen ist mit einem „schwachen“ Immunsystem. Watzl stell klar: „Unser Immunsystem muss nicht erst in Anspruch genommen werden, damit es überhaupt funktioniert. Es ist ja kein Muskel, der irgendwann abbaut, wenn ich ihn nicht benutze.“ Es sei lediglich das Gedächtnis gegen bestimmte Erreger, das abbaue. „Aber gegen einen komplett neuen Erreger würde unser Immunsystem jetzt genauso reagieren wie es vor der Pandemie reagiert hätte.“
Eine akute Infektion mit Erregern wie dem Influenza-, Corona oder RS-Virus macht allerdings anfälliger für sekundäre bakterielle Infektionen. Das heißt, wenn man in einem Jahr viele virale Infektionen durchmacht, dann steigt das Risiko für solche Superinfektionen. Das bestätigt auch die Infektiologin Dr. Nazifa Qurishi gegenüber den DocCheck News: „Die bakteriellen Superinfektionen werden bei uns in der Praxis gehäuft beobachtet.“ Es ist aber wichtig, zu betonen, dass dieser Effekt nur für akute virale Infektionen gilt, so Watzl. „Die meisten der ARE-Erreger schwächen das Immunsystem nicht dauerhaft.“
Ein Virus wird besonders häufig im Zusammenhang mit den Nachholeffekt genannt: das respiratorische Synzytial-Virus (RSV). In der Regel ist die erste Infektion die schwerste, vor allem Säuglinge und Kleinkinder erkranken daran. Letztes Jahr waren viele Krankenhäuser überlastet, weil neben den Neugeborenen auch die Kinder ihre erste oder zweite Infektion durchmachten, die durch die Corona-Maßnahmen bisher noch keinen Kontakt hatten (DocCheck berichtete).
Watzl erklärt, dass es durchaus einen Unterschied machen kann, in welchem Alter die erste Infektion passiert. In den ersten Lebensmonaten reagiert das Immunsystem noch nicht so stark. „Das hat Vorteile, denn viele Sachen sind für das neugeborene Kind ja fremd, zum Beispiel viele Nahrungsmittelbestandteile und Darmbakterien.“ Bei Infektionen, bei denen die Erkrankung vor allem durch eine übermäßige Immunantwort verursacht wird, kann das von Vorteil sein. Auf der anderen Seite hat ein zweijähriges Kind ein besser ausgeprägtes adaptives Immunsystem, wodurch es B- und T-Zellen bilden, also eine Immunität entwickeln kann. „Man kann also nicht pauschal sagen, ob es besser ist, eine Infektion früh oder spät zu kriegen.“
Neben Kindern gelten auch Menschen über 60 und mit eingeschränktem Immunsystem als Risikogruppen für RSV. Durch die ausbleibende Auffrischung der Immunität sind aber auch häufiger Menschen außerhalb dieser Gruppen erkrankt, erklärt Qurishi. „Wir sehen in letzter Zeit gehäuft RSV-Erkrankungen bei Erwachsenen, meistens bei Eltern kleiner Kinder, die zuerst krank werden.“
Der Gedächtnisverlust des Immunsystems erklärt also, warum die ARE-Zahlen letztes Jahr so hoch waren. Aber auch dieses Jahr beginnt die Erkältungssaison vergleichsweise hoch: Die aktuellsten Zahlen des RKI, die bei Redaktionsschluss vorlagen, berichten von einer ARE-Inzidenz von 8.800 pro 100.000 Einwohner für die KW47. Watzl sagt dazu: „Das ist auf hohem Vor-Corona-Niveau – wir steigen schon sehr hoch ein.“ Er betont aber auch: „So schlimm wie letztes Jahr wird es vermutlich nicht werden.“ Trotzdem sei es gut möglich, dass dieses Jahr noch einige Menschen Infektionen nachholen würden, denn „man kommt ja nicht ständig mit allen Viren in Kontakt.“
Das Aufholen scheint also noch anzudauern, wenn auch in geringerem Maße. Viele Ärzte treibt aber die Frage um, ob nach dem Nachholen alles wieder wie früher wird. Qurishi meint: „Ich kann mir gut vorstellen, dass sich in den nächsten Jahren die Zahl der ARE auf dem ‚normalen‘ Level wieder einpendeln wird.“ Watzl hingegen ist nicht ganz so optimistisch: „Man muss beachten, dass wir jetzt einen ARE-Erreger mehr haben mit SARS-CoV-2. Von daher kann es durchaus sein, dass wir auch in den nächsten Jahren oberhalb des Vor-Corona-Niveaus liegen.“
Es bleibt also abzuwarten, ob wir uns auf ein neues Normal einstellen müssen. In jedem Fall wünscht sich Watzl, dass sich in Deutschland eine bessere Infektionshygiene etabliert. „Diese Pflichten während der Pandemie sind ja sehr politisiert worden und das muss es ja nicht sein. Aber das Ganze komplett ins Gegenteil zu wenden, dass man sagt, wir brauchen das nicht mehr und wollen es auch nie wieder sehen, das muss ja auch nicht sein.“ Auch außerhalb einer Pandemie ist es sinnvoll, bei einer ARE zu Hause zu bleiben oder eine Maske zu tragen. Denn selbst mit jährlichen Impfungen sei es „notorisch schwer, sich mit Hilfe des Immunsystems vor allen ARE komplett zu schützen.“
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