„Es blinkt, es kann nichts, es heißt DiGA“, urteilt der G-BA. Zufriedene Ärzte, steigende Nutzerzahlen und weltweite Nachahmer, deuten aber auf eine deutsche Erfolgsgeschichte hin. Wer hat recht?
Anno 2020, Deutschland sieht eine Corona-Pandemie auf sich zurollen. Digitale Versorgungsangebote sollen dabei helfen, die Krise einzudämmen, ohne das Infektionsrisiko zu steigern. In einer präcorona initiierten Studie (Oktober 2019) im Auftrag des BMG wurden dazu bereits Voraussetzungen zur Implementierung, Zielsetzung und Anwendungsdokumentation formuliert. Kurz darauf ging es dann schnell: Zwar waren die Wege vorgezeichnet, doch Institutionen, Hersteller und Ärzteschaft wurden ins kalte Wasser gestoßen.
„Zu Beginn wussten weder die Unternehmen, noch wir, noch das BfArM, was es zu tun gab. Das war aber auch gut so und mal erfrischend, dass man sich in Deutschland in einen neuen Prozess wagt, der seine eigenen Dynamiken noch entwickelt“, erklärt Jonas Albert, der die DiGA seit ihrer Geburtsstunde in der Regelversorgung begleitet, gegenüber DocCheck. Der Experte für Digitalisierung im Gesundheitswesen nimmt nicht nur an den politischen Prozessen teil, sondern berät auch Hersteller und konnte als Sanitäter Einblicke in die Praxis erhalten. Was und wie es folgte, erkennt man retrospektiv als Erfolg.
Das BfArM als Kontrollinstanz übernahm die Übersichtsfunktion, fasst in einer Liste gebündelt alle Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) zusammen, die den Anspruch auf Aufnahme in die Regelversorgung haben. In einem bis heute beibehaltenen Fast-Track-Verfahren zeigte man, dass wissenschaftliche Prüfung auch schnell gehen kann – in 3 Monaten bewertet die Behörde eingegangene Anträge in Sachen Produkteigenschaften, Datenschutz, Benutzerfreundlichkeit sowie realisierbare positive Versorgungseffekte. Auch dies mit Erfolg: Innerhalb von gut 3 Jahren wuchs die Liste von 0 auf derzeit 49 verschreibbare DiGA. Zurückgezogen wurden derweil 101 Anträge, abgelehnt 16, aus dem Verzeichnis wieder gestrichen wurden 6 und weitere 20 sind aktuell in Bearbeitung.
„Die Abläufe wie sie aktuell sind werden zwar oft kritisiert, aber in einer Sache läuft es gut: Das BfArM als blinde Justizia mit Waage und Schwert nimmt seine Aufgabe sehr institutionsgetreu wahr – dem ist es im Endeffekt egal, ob man ein kleines Startup oder eine Großkonzern ist, getreu nach dem Motto ‚Vor Gott und dem BfArM sind alle gleich‘. Und das ist auch gut so – so gibt es in Deutschland, man mag es kaum glauben, viel weniger Klüngel und Verhandlungen als in anderen europäischen Ländern. Natürlich gibt es auch manchmal Uneinigkeit hinsichtlich der Spruchpraxis des BfArM, aber auch diese verteilt sich gleichmäßig auf große und kleine Unternehmen“, schätzt Albert die aktuellen Prozesse ein.
Schon nach einem Jahr Praxiserfahrung verzeichnete der E-Health-Monitor eine Verdopplung der App-Downloads. Auch in ihrer Ausgestaltung seien DiGA „neben Arznei-, Hilfs- und Heilmitteln eine gleichberechtigte vierte Säule der Regelversorgung“ und nicht mehr wegzudenken.
„DiGA sind gekommen, um zu bleiben. Sie ermöglichen eine leitliniengerechte Behandlung und helfen Patient*innen unabhängig von Wohnort und Praxis-Öffnungszeiten. DiGA werden auch zunehmend in anderen Ländern ein Thema mit der einmaligen Chance, einen europäischen Markt für digitale Therapien zu etablieren. (...) Denn DiGA erweitern zielgerichtet und evidenzbasiert die Therapieoptionen in unserem von knappen Ressourcen geprägten System“, bestätigt Dr. Anne Sophie Geier, Geschäftsführerin des Spitzenverbands der Digitalen Gesundheitsversorgung gegenüber den DocCheck News.
Und die Zahlen geben den Prognosen Recht. Zwar sind die digitalen Helfer mit bisher 203.000 verordneten und genehmigten DiGA gegenüber 550 Millionen Behandlungsfällen verhältnismäßig gering. Mit 33 Millionen potenziell DiGA-behandelbaren Indikationen ist jedoch viel Luft nach oben. So hat ein Drittel der ambulant tätigen Ärzte bereits DiGA verschrieben, weitere knapp 14 Prozent wollen oder würden es tun. Gleichzeitig sinkt der Widerstand – der Anteil an Ärzten, die DiGA ablehnen, ist von 55 auf 34 Prozent gesunken.
„In den letzten Quartalen habe ich eine deutliche Zunahme des Verschreibens verzeichnet. Teils treten Patienten sogar mit konkreten Wünschen nach DiGA an mich heran. Im Schnitt würde ich sagen, habe ich im Monat 3–4 DiGA verordnet, mittlerweile auch mehr aus ärztlicher Eigeninitiative und eher an jüngere Patientinnen und Patienten. Einige DiGA von anderen fachärztlichen Kollegen (vor allem Neurologen und Psychiater) habe ich mir schon angesehen und sehe auch, dass da doch eine Zunahme zu verzeichnen ist“, berichtet Dr. Moritz Tellmann, Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, aus eigener Erfahrung.
Die Entwicklung auf Patientenseite verläuft derweil parallel – verschiedene Umfragen belegen, dass rund 58 Prozent der Nutzer die Anwendungen als sinnvolle Ergänzung betrachten, 40 Prozent bestätigten, dass sich ihre Symptome dadurch verbesserten. Der durchschnittliche Patient ist derweil im Durchschnitt 49 Jahre alt, weiblich (70 Prozent), erhält das Rezept von seinem Hausarzt (ein Drittel) und lebt in Schleswig-Holstein (165 Verordnungen je 100.000 Versicherten). Am häufigsten kamen DiGA derweil bei psychischen Erkrankungen, Krankheiten des Muskuloskelettalen Systems, Krankheiten des Ohres sowie Stoffwechselkrankheiten zum Einsatz.
Diesen positiven Fahrtwind nahm zuletzt auch der digital affine Bundesminister auf und springt mit zwei Gesetzentwürfen auf den Digitalzug auf. Während das Gesundheitsdatennutzungsgestz (GDNG) eine „erleichterte Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten für gemeinwohlorientierte Zwecke“ zum Ziel hat, eine verbesserte Dateninfrastruktur vorsieht und sich vermehrt Forschungsfragen widmet, wird es im Digital-Gesetz (DigiG) konkreter für die DiGA. Darin vorgesehen: DiGA sollen insgesamt transparenter gemacht werden, auf Medizinprodukte höherer Risikoklassen (IIb) ausgeweitet werden und unklare Finanzierungsfragen sollen präzisiert werden. Weitere Punkte sind ein 14-tägiges Rückgaberecht nach Einsatz der DiGA vor, eine Bepreisung, die an den Erfolg der Therapie gekoppelt wird, das Verbot zur Bindung von DiGA an spezielle Medikamente oder Hersteller und eine 12-monatige Sperrfrist für Unternehmen nach Rücknahme eines Erstantrags.
Ob Erweiterung oder nicht – das BfArM sähe sich vorbereitet. Bereits jetzt führe man regelmäßig Beratungsgespräche mit entsprechenden Herstellern. Bisher habe man über 220 Hilfestellungen gegeben. Doch nicht alle sehen in den Ankündigungen Fortschritt.
„Die im DigiG enthaltenen Regelungen bauen neue Barrieren für DiGA auf, statt deren Verankerung in der Versorgung zu fördern. So ist unter anderem ein 14-tägiger Probierzeitraum für Patient:innen vorgesehen. Dieser berücksichtigt weder den in Studien nachgewiesenen Wirkeintritt, noch die vielfältigen Gründe für einen möglichen Abbruch der Nutzung. Die Einführung einer verpflichtenden Erhebung des Nutzungserfolgs als variabler Vergütungsbestandteil ist unausgereift. Und die vorgesehene verpflichtende Leihgabe von Hardware durch DiGA-Hersteller führt zu neuen administrativen Aufwänden und Qualitätsmanagementpflichten“, so Geier.
Dass es sich noch nicht um eine finale Fassung handelt, zeigt auch die offene Diskussion darum, ob man die Evidenz der DiGA für höhere Risikogruppen in die Hände des G-BA legen sollte. Unterstützt von BÄK und KBV hat sich der G-BA unterdessen gegen eine Erweiterung der DiGA auf höhere Risikoklassen ausgesprochen, sofern „zu befürchten sei, dass Medizinprodukte mit schwachen Nutzenbelegen und unzureichenden Risikobewertungen im Schnellverfahren in die Versorgung aufgenommen werden.“
Zwar sei mit Ausweitung der DiGA eine neue Dimension zu erwarten, doch befürchten Experten, dass ein vorgeschobenes Kompetenzgerangel bremsend auf den ganzen Prozess wirken könne. „Es gibt zwei Entitäten in Deutschland, die Interesse daran hätten, den Drachentöter zu spielen. Zum einen den GKV-Spitzenverband, der oft die DiGA in unnötig schlechtem Licht dastehen lässt. Das spiegelt sich in den viel kritisierten Berichten des GKV-SV wieder und auch in den Versuchen einiger Krankenkassen, ärztliche Verordnungen von DiGA zu umgehen und stattdessen billigere, nicht validierte Produkte aus Selektivverträgen an Versicherte zu vermitteln. Doch hier sind zuletzt ja wichtige Klagen zu Gunsten der DiGA-Hersteller ausgegangen. Zum anderen wäre da der G-BA – inklusive Aussagen von Prof. Hecken wie: ‚Es blinkt, es kann nichts, es heißt DiGA‘. Oder wie es in einer Stellungnahme des G-BA steht, dass es sich bei DiGA um ‚harmlose Apps mit Pulsmessern‘ handeln würde. Das ist verletzter Stolz und reine Stimmungsmache, die leider immer noch Medien dazu verleitet, negativ zu berichten – obwohl DiGA klar ein Erfolg sind“, erklärt Albert.
Einen weiteren Schlagabtausch liefern sich derweil die Kassen – mit dem Rest der am System Beteiligten. Ihr Argument: Die Bepreisung der DiGA ist nicht angemessen. „Unsere Erfahrungen zeigen, dass der geforderte Herstellerpreis nicht im Verhältnis zum Patientennutzen steht. Die mit den Krankenkassen verhandelten Preise sollten daher sofort nach Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis gelten“, fordert Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek). Einen weiteren Punkt bringt Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes: „Die freie Preisbildung führt gegenwärtig zu einem enormen Missverhältnis zwischen Innovation und Wirtschaftlichkeit in der Versorgung und ist für die GKV mit einem hohen Ausfallrisiko bei eintretender Insolvenz der Hersteller verbunden.“
Ein Schelm ist, wer eine Verbindung zwischen der Kritik an der (zu hohen) Bepreisung der DiGA und der nachgewiesenermaßen späten Freischaltung und Genehmigung der Anwendungen sowie den unrechtmäßigen Verweisen auf kostengünstigere Alternativen zieht (DocCheck berichtete).
Ohnehin müsse es noch darum gehen, dass man der gesamten Thematik positiver begegne und Kritik abbaue. „Überall auf der Welt wurden wir für den Mut gelobt […]. Es ist so paradox bis lustig, dass man das grade im digitalisierungsfeindlichen Deutschland geschafft hat – entgegen aller Regularien. Überall feiert man uns und man fragt sich, wie man auch nur ein schlechtes Haar daran lassen und diesen Erfolg so kleinreden kann“, so Albert.
Dass letztlich der medizinische Mehrwert und die Vorteile in der Versorgung das Störfeuer aus der Gesundheitspolitik überwiegen, sind sich Ärzte wie Hersteller einig. „Ein großer Vorteil aus meiner Sicht ist die unmittelbare Selbstwirksamkeit durch die Patientin mit dem Gefühl, sofort etwas in der Hand zu haben und das Besprochene nicht aus den Augen zu verlieren. Die Patienten haben so wirklich konkrete Möglichkeiten, sich mit der Therapie zu beschäftigen und ich als Arzt weiß, dass der Patient adäquates Material zur Hand hat, ohne sich in unkonkreten Empfehlungen zu verlieren“, erklärt Tellmann.
Um DiGA weiter auszurollen, alle Akteure sicherer zu machen und zu überzeugen, müsse es künftig eher darum gehen, denjenigen Sicherheit zu geben, die diese auch verkaufen und verantworten müssen: der Ärzteschaft. Eine Forderung, die man unisono von Medizinern, DiGA-Experten und Kassen hört, ist die nach einer professionelleren Schulung der Ärzteschaft mit digitalen Anwendungen. Am einfachsten wäre dies durch die Aufnahme ins Curriculum zu erreichen – ergänzt um Fortbildungen und Schulungen zu einzelnen Angeboten. Eine solche Regelung findet sich im Digital-Gesetz derweil nicht.
Bildquelle: Zachary Kadolph, Unsplash