Ihr denkt, ihr liegt mit euren Diagnosen immer richtig – und wählt die korrekte Therapie? Wie der Framing-Effekt euch zu irrationalen Entscheidungen verleitet und eure Patienten gefährdet, lest ihr hier.
Im ersten Teil der Artikelserie ging es um zwei Systeme, mit denen wir denken und entscheiden. Das schnelle System 1 ist meistens aktiv und übernimmt Routine-Aufgaben. Das langsame System 2 kontrolliert System 1 und ist normalerweise im „Standby-Modus“. Auch wenn System 1 meist gute Entscheidungen trifft, hat es doch ein großes Problem: Es ist anfällig für Fehler, sogenannte kognitive Verzerrungen (im Englischen cognitive bias). Die Fehler, die System 1 macht, sind immer wieder die gleichen. Im diagnostischen Prozess sind diese Fehler von hoher Relevanz, da sie zu einer falschen oder verzögerten Diagnosestellung und so zu einem gesundheitlichen Schaden für den Patienten führen können.
Vor allem im wirtschaftlichen Kontext wurden diese Denkfehler detailliert untersucht. Während früher der Mensch als „homo oeconomicus“ betrachtet wurde, der seine Entscheidungen rein rational trifft, hat die Verhaltensforschung aufgedeckt, dass sich Menschen oft anders verhalten, als es von einer rein sachlich-logischen Perspektive aus zu erwarten wäre: Menschen spielen Lotto, lassen sich von Werbung beeinflussen und geben ihr Geld für große Autos oder Fernseher aus, anstatt es für das Alter zurückzulegen. Die kognitiven Verzerrungen, die zu suboptimalen Entscheidungen im wirtschaftlichen Kontext führen, können genauso auch zu medizinischen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen führen. Schauen wir uns deshalb einen der häufigsten im medizinischen Kontext relevanten Bias genauer an.
Eine Patientin stellt sich mit neu aufgetretenen starken Rückenschmerzen bei ihrer Ärztin vor. Die Ärztin wirft als erstes einen Blick in die Krankenakte mit den Vordiagnosen, dort steht an erster Stelle Fibromyalgie. Diese Vordiagnose ruft – bewusst oder unbewusst – weitere Assoziationen hervor, wie vielleicht „Somatisierung“, „schwierige Patientin“ oder „nichts Gefährliches“. Die weitere Verarbeitung der von der Patientin in Gespräch und Untersuchung an die Ärztin vermittelten Informationen wird jetzt von diesen durch die Vordiagnose Fibromyalgie geweckten Assoziationen beeinflusst.
Diese Art der kognitiven Verzerrung wird als Framing Bias bezeichnet. Ein früh im diagnostischen Prozess auftauchendes und hervorstechendes Merkmal (in diesem Fall die Vordiagnose Fibromyalgie mit den entsprechenden Assoziationen) dient als Rahmen oder Frame, in dem alle weiteren Informationen bearbeitet werden. Auch wenn die Patientin im weiteren Gespräch Informationen bietet, die auf eine akute Erkrankung mit Handlungsbedarf hindeuten, kann es sein, dass diesen Informationen im unbewussten Entscheidungsprozess der Ärztin weniger Gewicht verliehen wird und der Patientin so eigentlich notwendige Diagnostik vorenthalten wird.
Der beschriebene Framing-Effekt spielt auch im Entscheidungsprozess von Patienten eine große Rolle. In einer häufig zitierten Studie aus dem Jahr 1982 wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie bei Lungenkrebs eher eine operative Therapie oder eine Bestrahlung bevorzugen würden. Bezüglich der 5-Jahres-Überlebensrate war die operative Therapie der Bestrahlung überlegen. Das kurzfristige Risiko war aber bei der chirurgischen Vorgehensweise aufgrund von möglichen OP-Komplikationen erhöht. Alle Teilnehmer erhielten dieselben Informationen zu den Therapiealternativen, allerdings in einer unterschiedlich „geframeten“ Version.
Der einen Gruppe wurde mitgeteilt, wie viele von 100 Patienten der Statistik nach überleben würden. Der anderen Gruppe wurde mitgeteilt, wie viele von 100 Patienten versterben würden. Die Teilnehmer, denen die Überlebens-Rate genannt wurde, entschieden sich deutlich häufiger für die operative Therapie als die Teilnehmer, denen das Sterbe-Risiko genannt wurde. Rein rational hätten sich die Teilnehmer in beiden Gruppen gleich entscheiden müssen, da ihnen die gleichen Zahlen genannt wurde. Durch die Unterschiede im Framing kam es aber zu großen Unterschieden in der Entscheidung bezüglich der bevorzugten Therapie.
Die Studie beinhaltet noch weitere interessante Merkmale in der Art, wie die Informationen den Teilnehmern präsentiert wurden, die einen großen Einfluss auf die Entscheidung der Teilnehmer hatten. Auch ist sie ein schönes Beispiel, mit welchem vermeintlich simplen Studiendesign man damals im New England Journal of Medicine publizieren konnte.
Framing Bias bei der Therapieentscheidung: Obwohl alle Studienteilnehmer dieselben Informationen erhielten, entschieden sich deutlich mehr für eine operative Therapie, wenn der positive „Überlebens-Frame“ verwendet wurde, als wenn der negative „Sterbe-Frame“ verwendet wurde. Rein rational hätten sich die Teilnehmer in beiden Gruppen gleich häufig für die operative Therapie entscheiden müssen.
Auch für Aufklärungsgespräche bezüglich möglicher Therapieoptionen kann es also von großem Nutzen sein, den Framing Bias zu kennen. Ein Patient lässt sich wahrscheinlich eher von einer medikamentösen Therapie überzeugen, wenn er hört, dass 80 % der Patienten das Medikament gut vertragen, als wenn er hört, dass in 20 % der Fälle unangenehme Nebenwirkungen auftreten.
Warum lassen wir uns von objektiv irrelevanten Informationen so sehr beeinflussen? Die Antwort liegt erneut in den 2 Systemen, mit denen wir denken. System 1, welches die meisten Entscheidungen für uns trifft, kann nicht mit Zahlen umgehen. Es vergleicht also nicht die Prozentsätze der zwei Alternativen. Stattdessen verlässt es sich auf die Assoziationen, welche die verwendeten Wörter bzw. der verwendete „Frame“ weckt. Der „Überlebens-Frame“ weckt dabei positive Assoziationen und Gefühle, während der „Sterbe-Frame“ das Gegenteil bewirkt. Unsere Entscheidung wird dadurch in die entsprechende Richtung gelenkt.
Der Framing Bias ist allgegenwärtig, vermeiden lässt er sich nicht. Es gibt aber Strategien, mit ihm umzugehen und seinen Einfluss auf unsere Entscheidungen zu verringern. Eine Strategie, um objektivere Entscheidungen zu treffen, ist, einen Fall bewusst aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und abwechselnd verschiedenen Informationen mehr Gewicht zu verleihen.
Bildquelle: Nadeem Choudhary, Unsplash