Die rechtzeitige Diagnose einer erblichen Veranlagung für bestimmte Krebsarten ist für betroffene Familien wichtig – und ermöglicht eine frühe Therapie. Aber was, wenn man den Krebs vor lauter Genvarianten nicht sieht?
Die genetische Sicherung der Verdachtsdiagnose „erblicher Darmkrebs“ hat große Bedeutung für die medizinische Versorgung der betroffenen Familien. Aber viele der in den bekannten Genen identifizierten Varianten lassen sich derzeit hinsichtlich ihrer ursächlichen Rolle bei der Tumorbildung noch nicht sicher einordnen. Unter Federführung des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn (UKB) hat ein internationales Forscherteam gen-spezifische Klassifikations-Kriterien erarbeitet, durch die bei einem nennenswerten Anteil unklarer Varianten deren medizinische Relevanz neu bewertet werden kann. Die Studienergebnisse werden im Fachjournal Genetics in Medicine veröffentlicht.
In Familien mit erblichen Tumorerkrankungen besteht ein hohes Risiko für das Auftreten bestimmter Krebserkrankungen wie zum Beispiel Darmkrebs oder Brustkrebs. Für viele häufig vorkommende erbliche Tumorsyndrome gibt es inzwischen sehr wirksame, intensive und früh beginnende Krebs-Früherkennungs-Programme und andere vorbeugende Maßnahmen. Die rechtzeitige Erkennung und sichere Diagnose einer erblichen Veranlagung ist deshalb für die betroffenen Familien äußerst wichtig.
Durch die zunehmend umfangreicheren genetischen Untersuchungen werden in den verantwortlichen Erbanlagen aber auch immer mehr seltene genetische Varianten gefunden, deren ursächliche Bedeutung für die Tumorentstehung derzeit noch unklar ist. Man spricht hier von Varianten unklarer Signifikanz (VUS). Dies hat zur Folge, dass es sich bei den in öffentlichen internationalen Datenbanken (insbesondere ClinVar) gelisteten genetischen Varianten inzwischen bei manchen Genen in über 50 Prozent der Varianten um eine VUS handelt.
„Diese Varianten können nicht zur Diagnosestellung und auch nicht zur Testung gesunder Risikopersonen verwendet werden; andererseits erzeugen sie aber oft große Unsicherheit, da Träger einer VUS möglicherweise ein erhöhtes Tumorrisiko tragen“, sagt Erstautorin Dr. Isabel Spier vom Institut für Humangenetik. „Die ursächliche Bedeutung von VUS für die Krebsveranlagung zu klären, trägt deshalb direkt zu einer besseren Patientenversorgung bei.“
Die Forschergruppe um Prof. Stefan Aretz arbeitete für die aktuelle Studie mit einem internationalen und multidisziplinären Expertenteam aus Ärzten und Biologen zusammen. Die Gruppe entwickelte und validierte spezifische Klassifikationskriterien zur Beurteilung von Varianten im APC-Gen. Erbliche genetische Veränderungen des APC-Gens sind ursächlich für die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP), einer der häufigsten Ursachen für den erblichen Darmkrebs beziehungsweise erblichen Polypen-Erkrankungen des Magendarmtrakts. „Die entwickelten Gen-spezifischen Klassifikationskriterien erlauben es zukünftig, einen deutlichen Anteil von VUS des APC-Gens in eine medizinisch relevante Kategorie zu reklassifizieren“, erläutert Spier. „Wir gehen davon aus, dass ein großer Teil der VUS als harmlose, seltene Normvarianten bewertet wird. Hierdurch können dann weltweit alle Träger dieser Varianten entlastet werden.“
Im Anschluss planen die Bonner Forscher eine umfangreiche Reklassifizierungsstudie, um möglichst alle bisher bekannten VUS im APC-Gen bezüglich ihrer Relevanz neu zu bewerten. Die Arbeiten dienen auch als Modellprojekte für ähnliche Ansätze bei anderen Krebsgenen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums Bonn. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Kyle Glenn, Unsplash