BLOG | Der erkältete Patient fragt mich, ob er Aspirin nehmen kann. Ich bejahe – hake aber nach, weil mir die Art und Weise der Frage komisch vorkommt. Als er mir dann von seiner jährlichen ASS-Kur erzählt, stockt mir der Atem.
Vor vielen Jahren war ein etwa 35-jähriger Mann bei mir in der Sprechstunde. Es war „zwischen den Jahren“ und es fand lediglich die Akutsprechstunde statt. Der Mann benötigte eine Krankmeldung, er war erkältet und nicht arbeitsfähig. Ich füllte gerade die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus, da fragte er: „Kann ich Aspirin® nehmen?“
Noch beim Tippen nickte ich und antwortete: „Prinzipiell kann man bei einer Erkältung auch mal eine Aspirin® nehmen, es senkt Fieber und lindert Gliederschmerzen oder Kopfschmerzen.“
„Wieviele am Tag kann ich denn nehmen?“
„Sie können bis zu 3.000 mg am Tag nehmen, das wären 6 Tabletten. Aber das ist wirklich die Höchstdosis. Wenn Sie irgendwann mal 65 Jahre alt sind, ist die Höchstdosis auf 1.600 mg beschränkt. Nehmen Sie bitte nur eine Tablette mit 500 mg, wenn Sie Fieber oder Schmerzen haben.“
„Aber eine am Tag ist ok?“
„Ja, eine ist ok.“ Ich wundere mich etwas, weil er so insistiert.
„Dann kann ich ja meine jährliche Aspirin®-Kur machen.“
Nun wunderte ich mich noch mehr. Ich hatte ja schon viel gehört: Vitamin-Kur, Saft-Kur, Leber-Kur, Darm-Kur. Das Wort „Kur“ impliziert irgendwas Gesundes und Gutes und wird wahllos an ein Wort gehängt, das man entweder als Substanz einnehmen, oder das entsprechende Organ „entgiften“ soll. Aber bitte nicht verwechseln: Bei einer Saftkur wird Saft eingenommen, bei einer Leber-Kur jedoch keine Leber. Und bei der Darm-Kur … Nun ja, lassen wir das. Lecker.
Gerne wird eine Kur auch von zwielichtigen Webseiten angepriesen, um Geld zu verdienen, indem Nahrungsergänzungsmittel an gesundheitsbewusste oder verzweifelte Patienten teuer verkauft werden. Mit einer Aspirin®-Kur hatte ich bis dato aber noch keine Berührungspunkte, also hakte ich nach.
„Was meinen Sie denn damit?“
„Naja, Sie sagten ja, man könne eine Aspirin® pro Tag nehmen und ich mache einmal im Jahr eine Kur damit. Also ich nehme jeden Tag eine Tablette, das ist ja gut für die Blutverdünnung und gegen Entzündungen und dann werden die Organe mal wieder so richtig durchblutet und alle Entzündungen bekämpft.“
Tatsächlich war ich sehr verdutzt und suchte nach den richtigen Worten. „Das kann ich wirklich nicht empfehlen. ASS, also der Wirkstoff, ist ein Medikament und das sollte man nur nehmen, wenn man eine Erkrankung hat. Für die Blutverdünnung nehmen zum Beispiel Patienten mit Herzerkrankungen auch nur 100 mg am Tag. Und bei Fieber oder Schmerzen wirkt es gut – aber ohne Fieber und Schmerzen sollten Sie auch keine Tabletten nehmen. Die haben ja auch Nebenwirkungen.“
„Aber eine am Tag ist ja okay, sagten Sie.“
„Wenn Sie krank sind!“ Das Gespräch war schwierig, doch ich konnte ihm die „Kur“ nicht absegnen. Wir diskutierten noch eine Weile, dann beendete er meine Argumentation mit den ultimativen Worten: „Meine Mutter hat das auch immer so gemacht und mir hat es immer geholfen.“
„Geholfen, gegen was?“, fragte ich.
„Alles. Ich nehme das ja prophylaktisch.“
Ich bin ja ein großer Freund von Prophylaxe, doch diese Kur entbehrt jeglicher Evidenz. Es gibt durchaus Medikamente, die man prophylaktisch einnimmt, um Erkrankungen vorzubeugen. Statine zum Beispiel, also Cholesterinsenker, um Ablagerungen von Plaques an den Gefäßinnenwänden zu verhindern und damit die Gefahr für Schlaganfälle und Herzinfarkte zu senken. Oder Betablocker, die man zur Vorbeugung von Herzrhythmusstörungen schluckt.
Und natürlich auch ASS, in einer kleinen Dosis, um das Blut zu verdünnen, wie man salopp sagt. Eigentlich wird das Blut nicht dünner, es wird vielmehr die Verklumpung (Aggregation) der Blutplättchen vermindert. Das ist insbesondere bei Menschen wichtig, die Stents in den Herzkranzgefäßen oder schwere Arteriosklerose haben, sowie nach Schlaganfällen. Aber einfach so? Bitte nicht.
Der Wirkstoff Acetylsalicylsäure wurde bereits 1897 erstmals im Labor hergestellt. Es hemmt im Körper die Cyclooxygenase (COX). Die COX ist an der Produktion von Prostaglandinen beteiligt, die Schmerzen, Fieber und Entzündungsprozesse steuern. Blockiert man die COX, blockiert man auch die Prostaglandine. In der Folge werden Schmerzen gelindert, Fieber gesenkt und Entzündungen vermindert. Zudem ist es, wie schon erwähnt, als Hemmer der Thrombozytenaggregation wirksam.
ASS wird aufgrund seiner Eigenschaften als unverzichtbares Medikament geführt. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Wie jedes Medikament hat auch ASS Nebenwirkungen, und die können nicht unerheblich sein. Durch die Hemmung der Prostaglandine wird die Schutzschicht im Magen dünn und es kann zu Magengeschwüren und Magenschleimhautentzündungen kommen, im schlimmsten Fall auch zur Magenblutung. Das sollte unbedingt bei gleichzeitiger Einnahme von Kortisonpräparaten beachtet werden, bspw. bei Rheuma.
Daneben wird ASS über die Leber verstoffwechselt und kann auch mit Medikamenten interagieren, so dass manche stärker als gewünscht wirken (z. B. manche Antidiabetika, Valproat), oder schwächer (z. B. Diuretika, Medikamente gegen Bluthochdruck). Darüberhinaus sollten Asthmatiker kein ASS einnehmen, da es Asthmaanfälle auslösen kann, auch kann ein Angiödem entstehen.
Ganz wichtig: Kinder mit fieberhaften Infekten dürfen kein ASS nehmen, da dies das Reye-Syndrom auslösen kann: eine potentiell tödliche Kombination von Leber- und Gehirnschäden. Daher gebe ich Kindern prinzipiell nie ASS, in der Fachinformation ist es jedoch ab 16 Jahren zugelassen.
Mein Kur-Patient war sich sicher, dass ihn die Nebenwirkungen nicht treffen und er lediglich die positiven Effekte erleben würde. Ausprobieren würde ich das jedoch nicht. ASS ist ein super Medikament, aber es sollte eine Indikation bestehen, wenn man Tabletten einnimmt. Eine gesunde Ernährung, Nicht-Rauchen, Bewegung und guter Schlaf sind bessere Kuren – und man kann sie ohne Nebenwirkungen das ganze Jahr durchführen.
Bildquelle: Pawel Czerwinski, unsplash