GLP-1-Rezeptor-Agonisten wurden als „bahnbrechende Arzneimittel des Jahres 2023“ ausgezeichnet. Aber haben sie wirklich die Adipositas-Therapie revolutioniert – oder ist doch nicht alles Gold, was glänzt?
Eines ist sicher: GLP-1-Rezeptor-Agonisten, vor allem Semaglutid, Liraglutid und Tirzepatid, gehören zu den heiß diskutierten Wirkstoffen der letzten Zeit. Doch sind es wirklich „bahnbrechende Arzneimittel des Jahres 2023“, wie es in Science heißt? DocCheck hat bei Prof. Baptist Gallwitz nachgefragt. Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und war bis zu seinem Ruhestand stellvertretender ärztlicher Direktor an der Medizinischen Klinik IV (Diabetologie, Endokrinologie, Nephrologie) des Universitätsklinikums Tübingen.
„Die Substanzklasse ist eine Bereicherung der Diabetes-Therapie“, sagt Gallwitz. So senke das lang wirksame Semaglutid den HbA1C-Wert, aber auch den Blutdruck und das Körpergewicht. „Zunehmend zeigen Daten, dass sie auch die Nieren schützen.“ Bei Menschen mit Diabetes und mit hohem kardiovaskulärem Risiko würden europäische bzw. US-amerikanische Leitlinien bevorzug GLP-1-RA empfehlen. „Europäische Kardiologen gehen sogar einen Schritt weiter“, berichtet Gallwitz. „Bei Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko und Typ-2-Diabetes sollte man gleich GLP-1-RA verordnen, und nicht zuerst Metformin.“
Bekannt wurden GLP-1-RA in Laienmedien aber durch ihren Einsatz bei Übergewicht oder Adipositas. „Den Hype sehe ich sehr kritisch und bin sehr skeptisch“, stellt der Experte klar. Das Phänomen habe zu den aktuellen Lieferengpässen mit beigetragen. Doch wann machen Verordnungen Sinn? „Man muss ganz klar zwischen krankhafter Fettsucht mit Begleiterkrankungen und Übergewicht unterscheiden“, so Gallwitz weiter. Patienten mit Adipositas bei einem BMI von mindestens 30 und mit Begleiterkrankungen könnten von einer zusätzlichen Therapie profitieren. Gallwitz: „Dass sich jeder, der Übergewicht hat, mit den Medikamenten behandeln lässt, sehe ich nicht. Adipositas kommt auch nicht über Nacht – ich denke, bei der Therapie müssen wir stark in Richtung Prävention gehen, mit einem gesunden Lebensstil und einer umfassenden Betreuung.“
Doch wie geht es weiter mit den GLP-1-RA? Gallwitz erwähnt die Einführung von Tirzepatid in die Therapie. Es adressiert den GLP-1- und den GIP-Rezeptor. In den USA hat es schon die Zulassung bei Adipositas, in Europa noch nicht. „Im direkten Vergleich mit Semaglutid zeigt es deutlich stärkere Effekte, um den Blutzucker zu normalisieren und um das Gewicht zu verringern“, so der Experte. Daten zu den Effekten auf Gefäßerkrankungen lägen erst Ende 2024 oder Anfang 2025 vor.
Zum Hintergrund: GLP-1-Rezeptor-Agonisten wurden erst vor zwei Jahren populär, als Semaglutid zur Gewichtsreduktion in den USA und in Europa zugelassen worden ist. Laut einer wegweisenden Studie verloren Menschen mit dem Wirkstoff innerhalb von 16 Monaten 15 Prozent ihres Körpergewichts. In einer Studie mit Jugendlichen waren es 16 Prozent, jeweils verglichen mit Placebo. Alle Teilnehmer wurden motiviert, ihren Lebensstil zu verändern.
Das Magazin Science hat sich vor allem für die Bewertung der Wirkstoffe als Durchbruch entschieden, weil sie bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankung und Übergewicht oder Adipositas, aber ohne Diabetes, das Risiko verschiedener kardiovaskulärer Ereignisse verringern. Ein kardiovaskuläres Ereignis trat 6,5 Prozent der Patienten unter Semaglutid versus 8,0 Prozent unter Placebo auf. Dazu zählten laut Studiendesign Todesfälle aus kardiovaskulären Gründen, nichttödlichem Myokardinfarkt oder nichttödliche Schlaganfälle.
Bei Patienten mit Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion und Adipositas, aber ohne Diabetes, verbesserte Semaglutid die Leistungsfähigkeit und verringerte die Beschwerden bzw. senkte das Körpergewicht stärker als Placebo. Betroffene konnten beispielsweise in sechs Minuten 20 Meter mehr laufen als Kontrollen. Die Studien zeigten erstmals methodisch auf hohem Niveau, dass GLP-1-RA über die Gewichtsabnahme hinaus von kardiovaskulärem Nutzen sind.
Doch nicht alles, was in Studien glänzt, ist Gold. Zu den häufigsten Nebenwirkungen der Therapie zählen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Verstopfungen und Bauchschmerzen. „Wenn Millionen Menschen mit Medikamenten wie Semaglutid behandelt werden, dann treten selbst relativ seltene Nebenwirkungen bei einer großen Zahl von Personen auf“, schreibt Dr. Susan Yanovski vom am National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases in Bethesda, USA. So sind bei Adipositas GLP-1-Agonisten im Vergleich zu Bupropion-Naltrexon mit einem erhöhten Risiko für Pankreatitis, Darmverschluss und Gastroparese verbunden.
Außerdem besteht bei Patienten, die langwirksame GLP-1-RA anwenden, ein erhöhtes Risiko einer Lungenaspiration unter Narkose, womöglich aufgrund einer verlangsamten Magenentleerung. Das zeigt ein Fallbericht. Trotz einer präoperativen Fastenperiode von 20 Stunden für feste Nahrung und acht Stunden für klare Flüssigkeiten kam es zum Einatmen von Mageninhalt. Besondere Risikofaktoren hatte der Patient nicht. Fachgesellschaften raten deshalb, dass Menschen, die wöchentlich GLP-1-Agonisten erhalten, ihr Präparat eine Woche vor dem Eingriff abzusetzen – unabhängig von der Indikation. Diabetologen sind gegebenenfalls zu Rate zu ziehen.
Ob die Wirkstoffe zu mehr Suizid- oder Selbstverletzungsgedanken führen, wie teils befürchtet, ist fraglich. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat nach Hinweisen der isländischen Arzneimittelbehörde Mitte 2023 eine Überprüfung initiiert. Bislang liegen 150 Berichte über mögliche Fälle von Selbstverletzung und Selbstmordgedanken in Zusammenhang mit den Medikamenten vor. „Auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Schlussfolgerung über einen Kausalzusammenhang gezogen werden kann, gibt es dennoch einige Fragen, die geklärt werden müssen“, hieß es letzten Dezember. Die EMA selbst hat diverse Fragen zur Sicherheit vorbereitet und an alle Zulassungsinhaber verschickt. Bleibt als gute Nachricht: Anfang 2024 veröffentlichte Daten geben keine Hinweise auf derartige Sicherheitssignale. Es bleibt abzuwarten, wie sich die EMA äußert.
Doch das vielleicht größte Problem ist, dass Patienten mit Adipositas die Medikamente wohl auf unbestimmte Zeit anwenden müssen, damit der Nutzen nicht verloren geht, wie eine Studie zeigt: Nach 36 Wochen Tirzepatid verringerte sich das Gewicht bei Erwachsenen mit Adipositas oder Übergewicht, aber ohne Typ-2-Diabetes, um durchschnittlich 20,9 Prozent. Ab Woche 39 wurden die Teilnehmer auf Tirzepatid oder Placebo randomisiert. Von Woche 36 bis Woche 88 verloren Teilnehmer unter Verum weitere 5,5 Prozent ihres Körpergewichts, während Personen im Placebo-Arm der Studie 14,0 Prozent zunahmen. GLP-1-RA werden zur Dauertherapie.
In Science heißt es dazu: „Diese neuen Therapien verändern nicht nur die Art und Weise, wie Adipositas behandelt wird, sondern auch, wie sie verstanden wird – als chronische Krankheit mit biologischen Wurzeln und nicht als einfaches Versagen der Willenskraft.“
Bildquelle: Pramod Tiwari, unsplash