Nur halb so viele Männer wie Frauen erkranken an Depressionen, heißt es in etlichen Studien. Es begehen aber mehr als drei Mal so viele Männer Suizid. Die häufigste Ursache von Selbstmord: die Depression. Die Rechnung geht nicht auf, kritisiert Soziologin Möller-Leimkühler.
Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland, laut Robert-Koch-Institut (RKI) stehen sie an erster Stelle der Krankheitslast. Weniger bekannt ist, dass weitaus mehr Männer betroffen sind, als bisher angenommen. „Der Befund, dass Frauen zwei bis drei Mal häufiger an einer unipolaren Depression erkranken als Männer scheint eher ein methodischer und diagnostischer Artefakt zu sein, als dass er ein geringeres Depressionsrisiko von Männern belegt“, sagt Anne-Maria Möller-Leimkühler, Professorin für psychiatrische Soziologie am Klinikum der Uni München: „Denn Männer begehen mindestens drei Mal so häufig Suizid, und die häufigste Ursache für einen Suizid ist Depression. Dahinter steckt also eine hohe Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern.“ Heute gilt die Depression als Volkskrankheit, das RKI bescheinigte ihr eine herausragende gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Bedeutung. Die Studie Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA) von 2010 besagt zudem, dass Frauen ungefähr doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Dies belegen auch Zahlen des statistischen Bundesamts (Destatis) von 2016: Fast 60.000 Fälle von einmaligen oder rezidivierenden, immer wiederkehrenden, depressiven Störungen bei Frauen stehen weniger als 30.000 Fälle bei Männern gegenüber.
Das bedeutet aber nicht, dass Männer seltener unter Depressionen leiden – sie werden nur seltener erkannt. „Dies hat mehrere Ursachen“, erklärt Möller-Leimkühler: „Eine unterschiedliche Symptomatik, die vom klassischen Bild der Depression abweicht, die geringe Inanspruchnahme professioneller Hilfe von Männern und ein Genderbias in der Depressionsdiagnostik.“ Epidemiologische Studien hätten gezeigt, dass Männer konsistent weniger konventionelle Depressionssymptome angeben würden als Frauen, etwa Traurigkeit, Antriebslosigkeit oder Interessenverlust, sagt die Soziologin. Das bedeute aber nicht, dass sie nicht an einer Depression leiden würden. Depressionen werden bei Männern häufig nicht erkannt, sagt Anne-Maria Möller-Leimkühler. Bei Männern würden sich depressive Symptome anders äußern, sie würden anders mit depressiven Symptomen umgehen und sie als solche oft nicht identifizieren können: „Typischerweise verarbeiten Männer emotionale Probleme über externalisierte Strategien auf der Verhaltensebene, also durch Aggression, Wut, riskantes Verhalten oder auch durch verstärkten Suchtmittelkonsum“, so Möller-Leimkühler. „Auch Hyperaktivität und suchtähnliches Verhalten in Bezug auf Arbeit, Sport, Internet oder Sex sind typisch. Man könnte das auf die Formel bringen: Außen Action, innen Konflikt.“ Dies seien zum Teil Formen der Selbsttherapie und der Abwehr. Denn eine Depression werde von Männern eher als typische Frauenkrankheit wahrgenommen, die sich durch Passivität, Schwäche, Klagsamkeit und depressive Verstimmung äußere, sagt die Soziologin. Dies sei nicht mit traditionellen Männlichkeitsnormen vereinbar: „Zwar gilt das Stereotyp vom starken Mann, der alles wegsteckt, heute als veraltet, aber solche Ideale haben immer noch einen starken Einfluss auf die Bewertung männlichen Verhaltens. Deshalb versuchen Männer so lange wie möglich, die Fassade des reibungslosen Funktionierens aufrechtzuerhalten und verleugnen oder bagatellisieren ihre Probleme, um ihre männliche Identität zu schützen.“
Dieser Unterschied zwischen Frauen und Männern ist auch in anderen Ländern so. Laut zahlreicher Studien sind doppelt so viele Frauen wie Männer depressiv. Allerdings gibt es auch Studien, die diese Quote anzweifeln. Im Rahmen einer Metaanalyse werteten amerikanische Psychologinnen 160 Studien mit repräsentativen Daten von 1,7 Millionen Frauen und Männern aus 90 Nationen aus. Ihr Resumee: Frauen sind zwar häufiger von Depressionen betroffen als Männer, aber anhand ihrer Daten konnten sie nicht belegen, dass es Frauen doppelt so häufig trifft. Es seien mehr Männer, als bisher angenommen. Das heißt, dass mehr Männer depressiv sind als es der weitläufigen Meinung entspricht. Die Wissenschaftlerinnen geben zu bedenken, dass männliche Betroffene aufgrund des Stereotyps „Depressionen sind eine weibliche Erkrankung“ häufig übersehen und nicht adäquat behandelt werden. „Verhaltensmuster wie Aggressivität, Risikoverhalten oder Hyperaktivität werden in der Regel nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht“, sagt Möller-Leimkühler. „Sie erscheinen auch nicht in den gängigen Depressionsinventaren, so dass Männer, die vorwiegend diese Art des Stressverhaltens schildern, tendenziell durch das diagnostische Raster fallen. Es wäre deshalb wichtig, die konventionellen Depressionskriterien um externalisierende Symptome zu erweitern“, rät die Expertin. Die Art der Stressverarbeitung spiele also eine wichtige Rolle: „Frauen internalisieren, grübeln und suchen Hilfe, Männer schweigen, werden aggressiv, lehnen Hilfe ab und wählen eher Suizid als eine effektive Problemlösung“, sagt Möller-Leimkühler. Männer seien vor allem gefährdet, wenn ihr sozialer Status bedroht oder verloren sei: „Ein niedriger sozioökonomischer Status, eine Scheidung oder Trennung, berufliche Stressoren wie Gratifikationskrisen, Arbeitslosigkeit oder Pensionierung, aber auch chronische körperliche Erkrankungen haben ein stärkeres Gewicht für Männer als für Frauen“, so die Soziologin.
Um Männern mit Depressionen besser zu helfen, seien insbesondere Hausärzte gefragt, sagt Möller-Leimkühler: „Studien zur Arzt-Patienten-Kommunikation haben gezeigt, dass Hausärzte unterschiedlich mit männlichen und weiblichen Patienten kommunizieren. Dies betrifft sowohl die Dauer der Gespräche, die bei männlichen Hausärzten und männlichen Patienten am kürzesten ausfällt, als auch die Inhalte.“ Nur selten würden psychosoziale und emotionale Probleme thematisiert, im Unterschied zu weiblichen Patienten. „Zusammen mit stereotypen Vorstellungen, dass Männer eigentlich nicht so häufig an einer Depression erkranken wie Frauen, besteht die Gefahr, dass Depressionen bei Männern nicht erkannt werden, zumal wenn der Hausarzt diese erst gar nicht nach typisch männlichen Stresssymptomen befragt“, erklärt Möller-Leimkühler. Eine Möglichkeit, männliche Patienten schonend mit der Diagnose Depression zu konfrontieren, sei die Thematisierung von Stressfaktoren und Burnout, die mittlerweile gesellschaftsfähig geworden seien. Die Soziologin rät, es müsse eine Sensibilisierung für Depressionen bei Männern auf verschiedenen Ebenen: „Einerseits durch gezielte Fort- und Weiterbildungen der Ärzte, speziell der Allgemeinmediziner, weil sie die erste Anlaufstelle sind. Andererseits durch gendersensitive Screeninginstrumente, um routinemäßig männerspezifische Symptome erkennen zu können.“ Männer müssten einen besseren Zugang zu ihrer Psyche finden, um Emotionen differenzierter wahrnehmen zu können und um sich nicht durch unrealistische Männlichkeitsideale selbst zu schädigen, sagt Möller-Leimkühler: „Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Vermittlungsaufgabe, die schon bei der Erziehung von Kindern in Familie, Schule und Sportvereinen beginnen sollte.“