Bei einer früh diagnostizierten HIV-Infektion entwickeln nur wenige Patienten eine Immunschwäche. Bei späten Diagnosen sieht das anders aus – was können Hausärzte also tun, um die Infektion schnell zu erkennen?
Die Werkzeuge, um die HIV/AIDS-Pandemie zu beenden und Neuinfektionen zu verhindern, sind zwar vorhanden, aber dennoch infizieren sich jedes Jahr knapp 2.000 Menschen in Deutschland mit dem Virus. Woran liegt das und was können Hausärzte tun? Darüber hat Prof. Jürgen Rockstroh in der DocCheck CME-Veranstaltung „HIV: Verschlaf die Diagnose nicht!“ gesprochen.
Zunächst liefert Rockstroh einen Überblick über die aktuelle Lage: Weltweit gibt es 39 Millionen HIV-infizierte Menschen, von denen 29,8 Millionen Zugang zu antiretroviraler Therapie (ART) haben. In Deutschland haben sich 2022 geschätzt 1.900 Personen neu mit HIV infiziert. Davon waren ca. 53 % Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), wobei die Prävalenz in dieser Gruppe in den letzten 15 Jahren stark gesunken ist.
27 % der Übertragungen verliefen auf heterosexuellem Weg – und hier ist die Tendenz steigend. Rockstroh erklärt den Grund: Menschen in dieser Gruppe denken oft, dass sie nicht von HIV betroffen wären und deshalb weniger aufpassen müssten als MSM – für die es wiederum gezielte Beratungsangebote gibt und die häufig auch Prophylaxe nehmen. 19 % der neuen Infektionen verliefen über intravenösen Drogengebrauch (IVD) und auch hier hat die Zahl in den letzten Jahren zugenommen. Rockstroh erklärt dies mit der starken Stigmatisierung und Migration.
Um die Zahl der HIV-Infizierten weiter zu reduzieren, hat die WHO im Rahmen ihres UNAIDS-Programmes das 95–95–95-Ziel gesetzt: 95 % aller HIV-Neuinfektionen sollen diagnostiziert werden, von denen sollen 95 % mit ART behandelt werden und von diesen sollen wiederum 95 % erfolgreich therapiert werden, indem die Viruslast unter die Nachweisgrenze gedrückt wird. Deutschland erfüllt zwar die Ziele bei der Behandlung und erfolgreichen Therapie, jedoch werden hierzulande nur etwa 90 % der Neuinfektionen diagnostiziert. Dazu kommt, dass immer noch zu viele Menschen erst spät – nämlich, wenn bereits eine Immunschwäche aufgetreten ist – eine Diagnose bekommen. Das betrifft vor allem Menschen über 40 Jahre und Heterosexuelle. „Daran müssen wir arbeiten“, so Rockstroh und stellt vor, was Hausärzte konkret tun können, um mehr HIV-Patienten so früh wie möglich einzufangen.
Bei einer akuten Infektion entwickeln etwa 40–90 % der Betroffenen Symptome, allerdings sind diese häufig unspezifisch. Oft haben Patienten Fieber, makulopapulöse Exantheme, orale Ulzerationen, Lymphadenopathie, Arthralgie oder Pharyngitis. Deshalb ist es wichtig, eine ausführliche Anamnese, inklusive Sexualanamnese, zu erstellen, um herauszufinden, ob eine mögliche Übertragung stattgefunden haben könnte. Rockstroh empfiehlt grundsätzlich, Patienten mit einer STD zusätzlich auf HIV zu testen.
Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Erkrankungen, die relativ häufig gemeinsam mit HIV auftreten. Bei einer Prävalenz der Co-Existenz von über 0,1 % sollte ebenfalls auf HIV getestet werden. Die entsprechenden Krankheiten sind in der folgenden Tabelle aufgelistet:
Credit: hiveurope.eu
Die HIV-Diagnose besteht aus zwei Stufen, nämlich dem Suchtest und Bestätigungstest. Für den Suchtest ist mittlerweile die 4. Generation auf dem Markt. Dabei handelt es sich um einen ELISA-Test, der nicht nur auf HIV-spezifische Antikörper reagiert – die erst bis zu sechs Wochen nach der Infektion ausreichend vorhanden sind – sondern auch auf ein HIV-Antigen. Dadurch kann die diagnostische Lücke, also die Zeit zwischen Infektion und Nachweisbarkeit, verkürzt werden. Ist der Suchtest positiv, folgt ein Bestätigungstest, meist eine PCR, um die Infektion zu bestätigen. Zudem ist seit kurzer Zeit auch ein frei verkäuflicher Selbsttest verfügbar.
Bei einer HIV-Testung sollten Ärzte also an die diagnostische Lücke denken. Doch die HIV-Diagnose kommt noch mit einer weiteren Besonderheit: In Deutschland gilt ein HIV-Test ohne ausdrückliche Zustimmung des Patienten als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht. Deshalb musste ein Patient früher unterschreiben, dass er den Test machen möchte, mittlerweile genügt eine gut dokumentierte, mündliche Zustimmung. Rockstroh ordnet ein: „Die Deutschen entfernen sich in diesem Kontext von anderen europäischen Ländern, die sagen, diese Zustimmung ist eine Barriere für Arzt und Patient.“ Aktuell laufen aber Gespräche im Gesundheitsministerium, um die deutsche Entscheidung nochmal zu prüfen.
Eine HIV-Diagnose ist heutzutage kein Todesurteil mehr. Tatsächlich zeigt eine Studie in der Schweiz, dass sich die Lebenserwartung der Menschen, die mit HIV leben und frühzeitig Behandlung bekommen, immer mehr an die der Gesamtbevölkerung anpasst und aktuell nur noch ein paar Jahre geringer ist. Der Hauptgrund für diese positive Entwicklung sind die modernen Therapien, „die die Behandlung ein Stück weit revolutioniert haben“, so Rockstroh. HIV ist zwar noch immer nicht heilbar, aber mit den heutigen ART kann man die Viruslast in > 95 % der Fälle dauerhaft so weit senken, dass das Virus nicht mehr nachweisbar und auch nicht mehr übertragbar ist. Aus diesem Grund sagte Anthony Fauci, der damalige Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Disease der USA, im Jahr 2019: „Wir haben alle Werkzeuge, um die HIV/AIDS-Pandemie zu beenden.“
Als Fauci seine Aussage 2019 machte, wusste er allerdings noch nicht, was in den Folgejahren auf uns zukommen würde: die Corona-Pandemie. Und die hat für deutliche Einschnitte in der HIV-Kontrolle gesorgt. Beratungsstellen mussten schließen, Testangebote wurden zurückgeschraubt und Geld wurde kurzerhand für die Pandemie-Bekämpfung umgelagert. Es sei noch nicht ganz klar, inwieweit sich die Corona-Pandemie auf das HIV-Geschehen in Deutschland ausgewirkt hat, so Rockstroh. Hinzu kämen die aktuellen Kriege und damit einhergehenden Fluchtbewegungen aus Ländern mit teilweise deutlich höheren HIV-Prävalenzen, wie zum Beispiel der Ukraine.
Eine weitere große Hürde im Kampf gegen HIV ist laut Rockstroh die Stigmatisierung von MSM und IVD, die die Betroffenen oft davon abhalten, sich Beratung zu suchen. Zurzeit erlebten wir in einigen europäischen Ländern eine Verstärkung dieser Stigmatisierung durch bestimmte Gesetze. Rockstroh erklärt: „Der Zugang zu Hilfe wird extrem erschwert, wenn Drogengebrauch per se sofort strafbar ist oder wenn Männer, die Sex mit Männern haben, inzwischen verfolgt werden.“ Über die UNAIDS-Ziele der WHO sagt Rockstroh: „Wenn wir weitere Neuinfektionen verhindern wollen, müssen wir einen Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung erreichen.“
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