Ob für Prothesen oder Wearables – künstliche Muskeln können auch in der Medizin Anwendung finden. Forscher entwickelten nun muskelbetriebene Systeme, die leistungsstärker und dabei leichter sind. Lest hier mehr.
Viele Robotiker träumen davon, Roboter zu bauen, die nicht nur aus einer Kombination von Metall oder anderen harten Materialien und Motoren bestehen, sondern auch weicher und anpassungsfähiger sind. Weiche Roboter könnten auf ganz andere Weise mit ihrer Umgebung interagieren; sie könnten zum Beispiel Stöße wie menschliche Gliedmaßen abfedern oder einen Gegenstand feinfühlig ergreifen. Dies hätte auch Vorteile für den Energieverbrauch: Heutige Roboterbewegungen benötigen in der Regel viel Energie, um eine Position zu halten, während weiche Systeme die Energie auch gut speichern könnten. Was liegt also näher, als den menschlichen Muskel als Vorbild zu nehmen und zu versuchen, ihn nachzubilden?
Die Funktionsweise der künstlichen Muskeln basiert also auf der Biologie. Wie ihre natürlichen Gegenstücke ziehen sich die künstlichen Muskeln auf einen elektrischen Impuls hin zusammen. Die künstlichen Muskeln bestehen jedoch nicht aus Zellen und Fasern, sondern aus einem mit einer Flüssigkeit (meist Öl) gefüllten Beutel, dessen Hülle teilweise mit Elektroden bedeckt ist. Wenn diese Elektroden eine elektrische Spannung erhalten, ziehen sie sich zusammen und drücken die Flüssigkeit in den Rest des Beutels, der sich biegt und so ein Gewicht heben kann. Ein einzelner Beutel ist vergleichbar mit einem kurzen Bündel von Muskelfasern; mehrere davon können zu einem kompletten Antriebselement verbunden werden, das auch als Aktor oder einfach als künstlicher Muskel bezeichnet wird.
Die Idee, künstliche Muskeln zu entwickeln, ist nicht neu, aber bisher gab es ein großes Hindernis für ihre Verwirklichung: Elektrostatische Aktoren funktionierten nur mit extrem hohen Spannungen von etwa 6.000 bis 10.000 Volt. Diese Anforderung hatte mehrere Auswirkungen: Die Muskeln mussten an große, schwere Spannungsverstärker angeschlossen werden, sie funktionierten nicht im Wasser und waren für den Menschen nicht ganz ungefährlich. Eine neue Lösung hat nun Robert Katzschmann, Professor für Robotik an der ETH Zürich, zusammen mit Stephan-Daniel Gravert, Elia Varini und weiteren Kollegen entwickelt. Sie haben ihre Version eines künstlichen Muskels, der mehrere Vorteile bietet, in Science Advances veröffentlicht.
Gravert, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor von Katzschmann arbeitet, hat eine Hülle für den Beutel entworfen. Die Forscher nennen die neuen künstlichen Muskeln HALVE-Aktoren, wobei HALVE für „hydraulisch verstärkte Niederspannungselektrostatik“ steht. „Bei anderen Aktoren befinden sich die Elektroden an der Außenseite der Hülle. Bei uns besteht die Hülle aus verschiedenen Schichten. Wir haben ein ferroelektrisches Material mit hoher Kapazität genommen, d. h. eines, das relativ große Mengen an elektrischer Energie speichern kann, und es mit einer Schicht aus Elektroden kombiniert. Anschließend haben wir es mit einer Polymerhülle überzogen, die hervorragende mechanische Eigenschaften hat und den Beutel stabiler macht“, erklärt Gravert. Dadurch konnten die Forscher die benötigte Spannung reduzieren, denn die viel höhere Permittivität des ferroelektrischen Materials ermöglicht große Kräfte trotz niedriger Spannung. Gravert und Varini haben nicht nur die Hülle für die HALVE-Aktoren gemeinsam entwickelt, sondern die Aktoren auch selbst im Labor gebaut und in zwei Robotern eingesetzt.
Eines dieser Roboterbeispiele ist ein 11 Zentimeter großer Greifer mit zwei Fingern. Jeder Finger wird von drei in Reihe geschalteten Beuteln des HALVE-Aktors bewegt. Ein kleines batteriebetriebenes Netzteil versorgt den Roboter mit 900 Volt. Batterie und Netzteil wiegen zusammen nur 15 Gramm. Der gesamte Greifer, einschließlich der Leistungs- und Steuerelektronik, wiegt 45 Gramm. Der Greifer kann einen glatten Kunststoffgegenstand so fest greifen, dass er sein eigenes Gewicht trägt, wenn der Gegenstand mit einer Schnur in die Luft gehoben wird. „Dieses Beispiel zeigt sehr gut, wie klein, leicht und effizient die HALVE-Aktoren sind. Außerdem sind wir damit unserem Ziel, integrierte muskelbetriebene Systeme zu schaffen, einen großen Schritt nähergekommen“, freut sich Katzschmann.
Das zweite Objekt ist ein fischähnlicher Schwimmer von fast 30 Zentimetern Länge, der sich geschmeidig durch das Wasser bewegen kann. Er besteht aus einem Kopf, der die Elektronik enthält, und einem flexiblen Körper, an dem die HALVE-Aktoren befestigt sind. Diese Aktoren bewegen sich abwechselnd in einem Rhythmus, der die Schwimmbewegung erzeugt. Der autonome Fisch kann in 14 Sekunden vom Stillstand auf eine Geschwindigkeit von drei Zentimetern pro Sekunde kommen – und das in normalem Leitungswasser.
Dieses zweite Beispiel ist wichtig, weil es eine weitere neue Eigenschaft der HALVE-Aktoren demonstriert: Da die Elektroden nicht mehr ungeschützt außerhalb der Hülle sitzen, sind die künstlichen Muskeln nun wasserdicht und können auch in leitenden Flüssigkeiten eingesetzt werden. „Der Fisch verdeutlicht einen generellen Vorteil dieser Aktoren: Die Elektroden sind vor der Umgebung geschützt und umgekehrt ist die Umgebung vor den Elektroden geschützt. Man kann diese elektrostatischen Aktoren also zum Beispiel im Wasser betreiben oder berühren“, erklärt Katzschmann. Und der schichtweise Aufbau der Beutel hat noch einen weiteren Vorteil: Die neuen Aktoren sind viel robuster als andere künstliche Muskeln.
Im Idealfall sollen die Beutel viel Bewegung machen können und das schnell. Doch schon der kleinste Produktionsfehler, etwa ein Staubkorn zwischen den Elektroden, kann zu einem elektrischen Ausfall führen – eine Art Mini-Blitzschlag. „Wenn das bei früheren Modellen passiert ist, hat die Elektrode gebrannt und ein Loch in der Hülle verursacht. Dadurch konnte die Flüssigkeit entweichen und der Antrieb wurde unbrauchbar“, sagt Gravert. Dieses Problem ist bei den HALVE-Aktuatoren gelöst, da sich ein einzelnes Loch aufgrund der schützenden Kunststoffaußenschicht im Wesentlichen selbst verschließt. So bleibt die Tasche auch nach einem elektrischen Ausfall meist voll funktionsfähig.
Die beiden Forscher sind sichtlich erfreut, die Entwicklung künstlicher Muskeln einen entscheidenden Schritt vorangebracht zu haben, aber sie sind auch realistisch. Katzschmann: „Jetzt müssen wir diese Technologie zur Serienreife bringen, und das können wir nicht hier im ETH-Labor machen. Ohne zu viel zu verraten, kann ich sagen, dass wir bereits jetzt Interesse von Firmen registrieren, die mit uns zusammenarbeiten möchten.“ Künstliche Muskeln könnten zum Beispiel eines Tages in neuartigen Robotern, Prothesen oder Wearables zum Einsatz kommen, also in Technologien, die am menschlichen Körper getragen werden.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der ETH Zürich. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Cash Macanaya, Unsplash