Eine Krankschreibung bei Depression ist immer ein Wettlauf gegen die Zeit. Aber eine AU ohne Behandlungserfolg sei „unethisch“, so die Versorgungsleitlinie. Schreiben Ärzte zu schnell krank?
Die unipolare Depression ist eine häufige psychische Erkrankung. In Deutschland werden über die Hälfte dieser Patienten allein hausärztlich behandelt. Dabei stellt sich meist schon früh die Frage, ob Betroffene krankgeschrieben werden sollten oder nicht. Diesen Aspekt adressiert die überarbeitete Version der nationalen Versorgungsleitlinie, die 2022 publiziert wurde. Grund dafür ist, dass die Leitliniengruppe ein Problem darin sieht, dass aus ihrer Sicht im hausärztlichen Bereich Menschen mit depressiven Symptomen reflexhaft und zu früh krankgeschrieben werden.
Nach Erhebungen der DAK sind depressive Episoden der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen hinter Atemwegsinfektionen und Rückenschmerzen. Allein 2015 wurden in Deutschland etwa 31.000 Menschen wegen depressiver Störungen vorzeitig berentet (ca. 10.500 Männer, 20.500 Frauen). Die Betroffenen waren zu dieser Zeit im Schnitt etwas über 50 Jahre alt. Dabei wird die Rückkehr zum Arbeitsplatz immer unwahrscheinlicher, je länger eine Krankschreibung dauert. Das macht auch die volkswirtschaftliche Dimension der Krankschreibungen bei depressiven Symptomen klar.
Die Leitliniengruppe gibt an, dass aus ihrer Sicht die Symptomatik und Beeinträchtigungen der Betroffenen, die in die Hausarztpraxis kommen, häufig nicht so stark ausgeprägt sind, dass eine eindeutige Arbeitsunfähigkeit (AU) vorliegt. Neu ist deshalb die starke Empfehlung, gerade bei diesen Fällen die Vor-und Nachteile einer AU mit den Betroffenen zu erörtern. Neben der ICD-basierten Diagnostik empfiehlt die NVL den Einsatz der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) mit psychosozialer Anamnese sowie die Erfassung von Einschränkungen der Lebensqualität, der Funktionsfähigkeit und der Teilhabe. Besteht danach eine klare Arbeitsunfähigkeit, soll die Krankschreibung weitgehend unabhängig von psychosozialen oder arbeitsplatzbezogenen Faktoren erfolgen.
Die Leitliniengruppe gibt selbst an, dass die zur Verfügung stehenden deutschsprachigen Erhebungsinstrumente für den ICF in erster Linie für gutachterliche Tätigkeit und Bedarfsermittlung im rehabilitativen Kontext entwickelt wurden und für die klinische Praxis nur bedingt geeignet sind. In der Leitlinie ist deshalb eine Tabelle mit Fragen abgedruckt, die helfen sollen, den ICF zu erheben. Dazu sollen insgesamt 11 Kategorien mit 2–3 Fragen erfasst werden. Wann anhand der Erfassung dieser Fragen jedoch von einer klaren Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden kann, bleibt unklar.
Ist eine AU nicht zwingend erforderlich, nennt die Leitliniengruppe eine ganze Reihe von Aspekten, die in die Entscheidung einer AU mit einbezogen werden können. Zunächst soll die depressive Symptomatik z. B. in Bezug auf ihren Schweregrad, somatische Symptome und das Vorhandensein psychotischer Symptome oder komorbider psychischer Störungen eingeschätzt werden. Dabei soll auch der Einfluss der Arbeit auf die Symptomatik in die Erwägungen eingehen. Weiterhin sollen psychosoziale Faktoren abgewogen werden. So können sich eine Deaktivierung, der Verlust des Tagesrhythmus und sozialer Kontakte über die Arbeit und die damit verbundene Vereinsamung negativ auf die Symptomatik auswirken. Umgekehrt kann es sein, dass therapeutische Angebote aufgrund der Alltagsbelastung nicht wahrgenommen werden können.
Zuletzt empfiehlt die NVL, sogenannte arbeitsplatzbezogene Faktoren mit in den Blick zu nehmen. Problematisch kann es z. B. sein, wenn die Krankschreibung ein Vermeidungsverhalten bei Problemen am Arbeitsplatz unterstützt. Auch ein drohender Arbeitsplatzverlust und der Verlust einer möglichen positiven Bestätigung durch die Arbeit können sich negativ auf den weiteren Krankheitsverlauf auswirken. Zu besonderer Vorsicht mahnt die Leitliniengruppe vor allem bei rezidivierenden und langanhaltenden Krankschreibungen, da diese in besonderem Maß zu einer Chronifizierung depressiver Störungen beitragen.
Eine Krankschreibung sollte laut der NVL nie als Monotherapie verordnet werden und immer mit dem Angebot einer angemessenen therapeutischen Intervention verbunden sein. Daher empfiehlt die Leitliniengruppe, Patienten zumindest niedrigintensive Interventionen wie z. B. Psychoedukation, Bibliotherapie, aktivierende Begleitung sowie unterstützende Maßnahmen wie Sport anzubieten. Wird eine AU verlängert, soll das immer mit einer Intensivierung der Behandlung einhergehen. Die Leitliniengruppe geht sogar so weit, eine wiederholte AU ohne Versuch, den Behandlungserfolg zu verbessern, als unethisch einzustufen. Für Betroffene steht ein Patientenblatt mit dem Titel „Ist eine Krankschreibung für mich sinnvoll?“ zum Download zur Verfügung.
Die Behandlung von Menschen mit depressiven Symptomen stellt in der Hausarztpraxis eine enorme Herausforderung dar. Sicher ist es sinnvoll, bei der Krankschreibung von Betroffenen innezuhalten und zu überlegen, ob sie wirklich nötig ist und den Betroffenen nicht vielleicht sogar schadet. Auch ein offener Dialog über die Entscheidungsfindung ist angebracht.
Gleichzeitig erscheinen die von der Leitliniengruppe angeratenen Diagnosekriterien, wie der ICF, in der täglichen Praxis sehr schwer anwendbar. Das liegt zum einen daran, dass die Erhebung den zeitlichen Umfang einer normalen Sprechstunde sprengen dürfte und dass nicht genau klar wird, wie die Fragen in die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit überhaupt eingehen sollen. Die NVL erscheint hier sehr theoretisch und für die Praxis wenig hilfreich. Inwieweit Betroffene in einer Hausarztsprechstunde an die vorgeschlagenen „niedrigintensiven Interventionen“ herangeführt werden können, sei einmal dahingestellt.
Im klinischen Alltag ist es oft schon schwierig genug, eine Depression überhaupt zu erkennen, das Thema mit den Betroffenen offen zu besprechen, etwaige Gefahren z. B. durch Suizidalität einzuschätzen und eine angemessene Therapie mit Patienten durchzugehen und zu initiieren. Sicher müssen wiederholte AUs immer kritisch hinterfragt werden. Gleichzeitig scheitert der von der Leitliniengruppe geforderte Versuch, den Behandlungserfolg vor jeder neuen AU zu verbessern, in der Praxis schlichtweg daran, dass therapeutische Angebote häufig nicht oder nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen.
Betroffene warten oft – selbst wenn sie die Kraft haben, sich mit großer Beharrlichkeit um einen Therapieplatz zu kümmern – monatelang auf Termine bei Psychotherapeuten und Psychiatern. Daran kann selbst der engagierteste und psychiatrisch bestens vorgebildete Hausarzt nichts ändern. Die Krankschreibung ist also häufig fast schon eine Verzweiflungstat, ein Versuch, Betroffenen Zeit zu verschaffen, damit sie Zugang zu erforderlichen Therapien finden – kein „unethischer“ Akt ärztlicher Ignoranz. Die Verantwortung für die klaffende Versorgungslücke bei psychischen Erkrankungen liegt nicht bei den betreuenden Hausärzten, sondern geht zu ihren Lasten. Und zu Lasten der Erkrankten.
Bildquelle: Joshua Rawson-Harris, unsplash