Sie wurden von uns im Medizin-Studium gern für Bullshit-Bingo missbraucht – und belächelt: Begriffe wie der „biopsychosoziale Kontext“ oder das „abwartende Offenhalten“. Heute weiß ich es besser. Sie machen den Erfolg meiner Behandlungen aus.
Ich glaube, jeder Medizinstudent kennt das: Man vertieft sich in die Bücher einer Fachrichtung und hat zwischendurch das Gefühl, dass bestimmte Schlagworte immer wieder auftauchen. In unserer Lerngruppe für Allgemeinmedizin gab es auch solche Worte – von uns mehr oder weniger liebevoll allgemeinmedizinisches Bullshit-Bingo genannt. Drei klassische Beispiele: der „biopsychosoziale Kontext“, der „abwendbar gefährliche Verlauf“ und das „abwartende Offenhalten“. Heute, viele Jahre später, nochmal ein Blick auf diese Worte.
Der „biopsychosoziale Kontext“ klingt für mich immer noch fürchterlich hochgestochen, auch wenn ich das Konzept dahinter wirklich gut finde. Eine für mich alltagstaugliche Version ist: Wir sind Ärzte für den ganzen Menschen. Also nicht nur für den Körper („bio“), sondern eben auch für die Seele („psycho“) und die Beziehungen („sozial“), in deren Umfeld („Kontext“) unsere Patienten leben.
Ein überaus treffendes Beispiel dafür gab es in meiner Praxis erst vor ein paar Wochen. Eine knapp 60-jährige Patientin kam zu mir, sie klagte über einen hohen Leidensdruck wegen immer wiederkehrender Oberbauchschmerzen. Im Rahmen der Anamnese konnten wir mehrere Dinge herausarbeiten: Von den berichteten Beschwerden war wahrscheinlich ein Reflux bzw. eine Gastritis Teil des Problems („bio“), aber ein großer Teil des Leidensdrucks kam aus einer großen Krebsangst („psycho“), weil die Schwester an Darmkrebs erkrankt war.
Die letzte Vorsorgekoloskopie meiner Patientin war aber erst vor wenigen Monaten durchgeführt worden, also war ich da halbwegs entspannt und konnte auch die Patientin beruhigen. Im Verlauf unterhielten wir uns noch etwas länger, auch weil ich vor kurzem im Tagesprotokoll gelesen hatte, dass ihr Sohn bei der Kollegin gewesen war wegen einer Depression („sozialer Kontext“). Der Patientin stiegen spontan Tränen in die Augen und sie berichtete mir, wie sehr sie das alles belaste. Das war sicherlich auch ein großer Teil des Leidens, das sie verspürte – die schwierige Beziehung zum Sohn. Die wiederum als Stressfaktor sicherlich auch die Menge an Magensäure erhöht, womit sich dann wieder der Kreis zur biologischen Ursache schließt.
Ich versuche den Patienten dann direkt zu erklären, dass es zwei Arten von Beschwerden gibt: Zum einen die mess- und sichtbaren, wie etwa Gallensteine, und zum anderen die funktionellen. Letztere sind für die Patienten extrem frustrierend, weil ich als Arzt keine direkte Beschwerdeursache darstellen kann und sie eben oft mit Stress zusammenhängen. Das Erklären hilft, damit die Patienten nicht immer weiter nach einer körperlich fassbaren Ursache suchen, weil sie das Gefühl haben, als Psycho abgestempelt zu werden, wenn Untersuchungen keine Erkenntnisse liefern.
Im Bullshit-Bingo wäre das der Ausschluss eines „abwendbar gefährlichen Verlaufs“ – wie etwa bei Pankreatitis, Cholestase, Raumforderung oder einer Entzündung. Diese Dinge wären akut behandlungsbedürftig und müssten daher zeitnah abgeklärt werden. Doch bei meiner Patientin waren Labor und Ultraschall wie erwartet unauffällig. Daher versuchten wir eine Therapie mit einem Magensäureblocker, die die Beschwerden innerhalb von zwei Wochen zwar deutlich besserte, aber nicht komplett beenden konnte. Wir besprachen bei einem Folgetermin, zumindest einmalig eine Magenspiegelung durchführen zu lassen.
Diese Konstellation würde man dann als „abwartendes Offenhalten“ deklarieren. Den Begriff finde ich aus anderen Gründen nicht so schön: Es klingt auf den ersten Blick sehr passiv. Den englischen Begriff des „watchful waiting“ finde ich da treffender: Grob übersetzt „aufmerksam beobachtendes Warten“.
Zum Problem können dann die stetig wachsenden Wartezeiten auf Untersuchungen wie die Gastroskopie werden. Für elektive Gastroskopien sind hier inzwischen 3–4 Monate ganz normal, das belastet viele Patienten zusätzlich psychisch. Deswegen versuche ich den Patienten schon klarzumachen, dass es nicht nur Nichtstun ist, sondern ich auch gern zwischendurch ein Feedback haben möchte, wie es läuft. Eventuell hilft auch ein Ernährungs-/Beschwerdetagebuch, um parallel den Bereich Nahrungsmittelunverträglichkeiten abzuchecken. Also eben nicht nur abwarten, sondern aktiv beobachten.
Bei der Patientin scheint es zu funktionieren – wir hatten direkt besprochen, dass wahrscheinlich auch eine funktionelle (Stress-)Komponente vorliegt. Im weiteren Verlauf konnte sie das gut annehmen und es scheint sich auch auf ihre Beschwerden ausgewirkt zu haben. Letztlich muss ich also sagen, dass bei allem Bullshit-Bingo die Konzepte, die uns damals vermittelt werden sollten, mehr als sinnvoll sind.
Heutzutage stößt mir eher etwas anderes auf: Sind das wirklich nur allgemeinmedizinische Konzepte – oder sollten sie nicht besser in allen medizinischen Fachrichtungen vorkommen? Mein Eindruck ist, dass sie das zunehmend auch tun – was gut ist. Denn jede Erkrankung (Herzinfarkt, chronisch-entzündliche Darmerkrankung, Hauterkrankungen wie Ekzeme oder Psoriasis, etc.) hat neben den biologischen auch psychologische und eigentlich immer soziale Auswirkungen (allein schon wegen eventueller Arbeitsunfähigkeiten mit resultierendem Jobkonflikt).
Glücklicherweise scheint es zumindest hier in der Gegend so, dass viele Kollegen sich damit tatsächlich beschäftigen und sogar in den Arztbriefen aktiv darauf hinweisen. Jetzt fehlen nur noch die Kapazitäten für diesen psychischen Beistand. Also bleiben wir weiter nicht nur diagnostisch der Hausarzt für den ganzen Menschen, sondern auch therapeutisch mit Gesprächen.
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