Fehlerkultur in der Praxis ist eine heikle Angelegenheit. Müssen regelmäßige Kontrollen, Rumbrüllen und Strafen wirklich sein – oder ist ein vermeintlich weicherer Ansatz vielleicht doch der richtige?
Ich bin jetzt seit gut einem Jahr die Chefin in der eigenen Praxis und so langsam fühlt es sich auch normal an und nicht mehr so schräg wie am Anfang. Immerhin war ich vorher 12 Jahre einfach eine Angestellte und viele meiner Mitarbeiter sind deutlich älter als ich. Alles in allem bin ich sehr zufrieden. Das Team hat sich gut eingespielt und vor kurzem habe ich eine Szene mitbekommen, bei der ich am liebsten gejubelt hätte, weil sie für mich zeigt, dass mein Führungstil funktioniert.
Eine der MFA, die schon seit über 30 Jahren in der Praxis ist, hatte bisher die Anmeldung gemieden – und zwar unter so ziemlich allen Umständen. Durch Erkältungen und Urlaubszeit kurz vor Weihnachten, musste sie dann doch nach vorne an die Anmeldung und dort einen Vormittag durchstehen. Ich war so stolz und froh, als ich kurze Zeit später mitbekam, wie sie zur (Spätschicht-)Anmeldungs-MFA meinte: „Hey, ich habe das heute nach bestem Gewissen versucht, aber ich hab sicherlich irgendwo auch Mist gemacht. Wenn Dir was auffällt – setzt du es bitte auf meine ToDo-Liste und wir besprechen das? Damit es beim nächsten Mal besser läuft?“
Wie gesagt – es war Zufall, dass ich das Gespräch in der Küche mitbekam, aber ich wäre am liebsten in Jubel ausgebrochen. Denn so gut das Team auch früher zusammengearbeitet hat – mit der Fehlerkultur von meinem alten Chef war ich echt nicht glücklich. Es wurde immer eher zurückhaltend über Fehler gesprochen (oder am besten gar nicht). Ich hatte in meiner Anfangszeit echt Schwierigkeiten, als es ein Computerproblem mit dem Labor gab und die Fehler immer schon berichtigt wurden, bevor ich eine Chance hatte, herauszufinden, wo das Problem lag. Und nach massivem Drängen meinerseits wurde ich ERST informiert, damit der Informatiker das Problem wirklich mal sehen konnte, bevor wir es berichtigt hatten.
Aber jetzt scheint es zumindest so zu sein, dass sich alle wirklich auf diese Art des konstruktiven Miteinanders einlassen können. Auch meine neue leitende MFA zieht da voll mit und versucht, vor allem das Miteinander im Team zu fördern.
Klingt alles gut, Ende des Artikels – nein, nicht ganz. Sowohl meine leitende MFA als auch ich bekommen immer mal wieder Rückfragen, ob wir denn nicht „zu weich“ seien. Witzigerweise ohne, dass ein wirklicher Punkt benannt werden kann, bei dem es nicht gut läuft. Es scheint so zu sein, als wäre allein die Tatsache suspekt, dass wir auf Kommunikation, Miteinander und Verbesserung der Arbeitsabläufe setzen, statt auf Anordnungen, die Suche nach Schuldigen und Strafen, wenn mal etwas nicht läuft.
Ein Beispiel: Früher gab es bei uns eine Liste, anhand derer nach der Sprechstunde die Räume aufgefüllt wurden (Tupfer, Hütchen für das Fieberthermometer). Da standen aber auch Dinge drauf, die seit Jahren nicht mehr anfielen. Die Hauptsache war, dass überall ein Haken hinter war. Als die MFAs mir das erzählten, hatten unsere leitende MFA und ich besprochen, dass wir es ohne die Liste versuchen. Es zeigte sich aber, dass dann doch immer mal wieder was fehlte. Also gibt es jetzt wieder eine (deutlich kürzere) Liste – nämlich mit den Dingen, die auch wirklich erledigt werden müssen. Also nicht nur ein Haken um des Hakens willen, sondern eine Art Gedächtnisstütze, die dann bewusst abgehakt werden soll.
Auch die MFAs sollen jetzt bei der Doku ihr Kürzel dahinter machen, damit ich sehen kann, wer mit dem Arzt zusammen dokumentiert hat. So kann ich auch da schneller erkennen, wo das Problem liegt. Es gab beispielsweise mal Probleme mit der Ziffer für die Influenzaimpfung (Impfung bei über 60-jährigen vs. Indikationsimpfung). Erst hatte ich es allgemein erklärt, aber es wurde nicht besser und regelmäßig musste ich die Ziffer im Tagesprotokoll verbessern. Mit dem Kürzel konnte ich dann feststellen, dass es da bei einer MFA ein Missverständnis gab. Seitdem läuft das gut und der Fehler tritt nicht mehr auf.
Niemand will Fehler machen. Und ich bin mir sicher, dass alle in meinem Team sich bemühen, möglichst wenige Fehler zu machen, aber manchmal hat man halt doch etwas falsch verstanden. Muss ich dafür rumbrüllen? Nein – ich muss den Fehler finden, benennen und verbessern. Fertig.
Ich frage mich immer, was das über uns als Gesellschaft aussagt, wenn viele meinen, dass es ohne regelmäßige Kontrolle, Rumbrüllen und Strafen nicht geht. Klar schleichen sich manchmal Ungenauigkeiten ein. Da passen meine leitende MFA und ich beide auf und geben Rückmeldung. Aber ich muss kein Micromanagement betreiben und meinen Angestellten jeden einzelnen Schritt vorgeben – bei vielen Arbeitsabläufen wissen die selbst viel besser, wie das geht.
Mein Mann war früher bei der Bundeswehr und meinte damals, dass es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt, zu führen – indem man den Weg vorgibt, oder indem man ein Ziel vorgibt, wobei derjenige selbst entscheiden kann, wie er da hinkommt. Ich glaube, dass letzteres zu deutlich mehr Zufriedenheit führt. Solange der Weg für alle Beteiligten effektiv zum Ziel führt – warum nicht? Ich finde ehrlich gesagt auch per Anordnung zu regieren nicht mehr zeitgemäß. Ich bin gespannt, ob ich in Zukunft darüber anders denke – aber momentan bin ich einfach nur froh (und stolz), dass meine Vision einer Teampraxis sich wirklich so umsetzen lässt – zusammen, als Team.
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