Ein schwieriger Patient ruft mich an, er fühle sich „irgendwie nicht gut“. Ich solle ihm doch bitte einen Rettungswagen bestellen, damit er in der Klinik schneller drankommt. Ich finde das falsch – müssen wir Ärzte immer alle Wünsche erfüllen?
„Es fehlt an immer mehr Personal, die Wartezeiten werden länger“ – so lassen sich fast alle Artikel über das deutsche Gesundheitssystem in den letzten Monaten zusammenfassen. Daraus resultieren wiederum neue Probleme, wie Aggressivität gegenüber medizinischen Fachkräften aufgrund langer Wartezeiten, die dann dafür sorgen, dass noch weniger Leute in der Medizin arbeiten wollen. Ein Teufelskreis, der das Problem weiter verschärft.
Dieses Problem hat aber meiner Meinung nach mehrere Aspekte. Einer ist sicherlich, dass wir immer mehr diagnostische und therapeutische Möglichkeiten haben. Was an sich gut ist. Andererseits muss ich sagen, dass viele Ansätze für die Wirtschaft zwar positiv sind, da sie viel „Leistung generieren“, aber beim einzelnen Patienten letztlich nur Schadensbegrenzung leisten. Ein Stent ist super, ein Bypass ist toll und verlängert das Leben des Erkrankten im Vergleich zu Nichtstun – aber letztlich wäre es doch besser, wenn wir insgesamt weniger KHK-Patienten hätten.
Heute möchte ich aber einen anderen Aspekt ansprechen, mit dem Hausärzte täglich in ihrer Praxis zu tun haben – und der für eine ordentliche Portion Konfliktpotenzial sorgt. Es geht um das subjektive Empfinden der Patienten.
Schon den Kindern wird heute immer wieder beigebracht, dass sie „auf ihr eigenes Empfinden“ hören sollen. Das ist in gewisser Hinsicht auch gut, denn die Selbstverleugnung, die früher propagiert wurde, war sicherlich auch nicht gesund. Aber nicht alles, was man selbst als wichtig, belastend oder dringend empfindet, ist es auch objektiv. Das ist besonders schwierig, weil wir als Hausärzte da ja jetzt als Bollwerk hingesetzt werden mit Dringlichkeitscodes und Hausarztvermittlungsfällen.
Auch da wieder: Die Grundidee dieser Maßnahmen war gut. Wir Hausärzte haben immer schon mal bei Kollegen angerufen, wenn es um etwas objektiv Dringendes geht und ich bin froh, dass ich so ein paar „Nummern gegen Kummer“ habe, unter denen ich um Rat fragen oder einen Termin vereinbaren kann. Dass man dafür auch eine finanzielle Entlohnung bekommt, war sicherlich ein guter Gedanke. Der Haken: Wir bekommen immer häufiger Druck von Patienten, dass wir solche Maßnahmen ausnutzen sollen, weil der subjektive Leidensdruck so hoch ist.
Ein Beispiel aus unserer Praxis: Ein Mann mittleren Alters hat bereits seit Monaten einen Tremor der Hände. Wir hatten ihn schon hausärztlich untersucht (inkl. Schädel-MRT), vermuteten einen essentiellen Tremor und hatten ihn dann mit unseren Unterlagen zur Neurologin geschickt. Die hat die Diagnose letztlich bestätigt. Der Patient vermutet aber weiterhin eine schlimmere Ursache und kann sich mit der Diagnose „essentieller Tremor“ – was ja letztlich die verklausulierte Version von „ist einfach da, keine Ahnung warum“ ist – nicht abfinden. Jetzt drängte er den Kollegen auf einen Dringlichkeitscode für eine Zweitmeinung. Was tun bei diesem „subjektiven Notfall“, wie der Kollege es so schön formulierte?
Der Leidensdruck des Patienten ist immens. Und oft ist die Ausdauer und Vehemenz, mit der wir Hausärzte dann „belagert“ werden, immer wieder beeindruckend. Andererseits sind Neurologen-Termine wirklich schwer zu bekommen und objektiv betrachtet war die gesamte Diagnostik durch und die Diagnose stand.
Das Problem sehe ich auch darin, dass wir als Gesellschaft das subjektive Empfinden des Einzelnen so stark in den Fokus gerückt haben. Und es für den Patienten als extreme Zurückweisung rüberkommt, wenn wir in dem Fall dann sagen: „Sie können sich gern eine Zweitmeinung holen, aber es gibt keine medizinische Dringlichkeit“. Und wir Hausärzte, die normalerweise ja versuchen sollen „partnerschaftlich und partizipativ“ mit dem Patienten zu arbeiten, müssen plötzlich den Patienten begrenzen und ihm klar machen, dass seine subjektive Wahrnehmung eben NICHT in allen Aspekten berücksichtigt werden kann. Das ist bei einem guten Arzt-Patienten-Verhältnis machbar, aber kostet mal wieder (nicht vorhandene) Zeit.
Noch ein krasserer Fall ist mir vor Kurzem passiert: Ein Patient, mit einer medizinisch mehr als komplizierten Vorgeschichte, rief mich an, als er auf dem Weg von seinem Urlaub nach Hause war. Er sagte, er würde sich irgendwie nicht gut fühlen und ich solle doch schon mal den Rettungswagen zu ihm nach Hause bestellen. Auf meine Frage, warum er nicht einfach bei der Klinik halten würde, da er dort eh vorbeikam, kam als Antwort: „Wenn ich mit dem RTW komme, werde ich schneller behandelt, also machen Sie bitte den Transportschein fertig.“ Ich habe es nicht gemacht, er hat daraufhin von zu Hause selbst den Rettungswagen gerufen – und sich dann aber geärgert, weil er bei der Triage als „nicht-dringend“ eingestuft wurde.
Und da sind wir wieder bei einem zentralen Konflikt des Hausarzt-Daseins, der durch die stetig knapper werdenden Ressourcen immer heftiger wird: Sind wir Ärzte Dienstleister und die Patienten unsere Kunden, deren Wunscherfüllung unser primäres Ziel sein soll? Oder stehen wir doch auf einer anderen Ebene, weil wir auch andere Aspekte berücksichtigen müssen – nämlich, dass bei knappen Ressourcen doch eine gewisse Objektivität bei der Entscheidung mitspielt – und nicht nur der subjektive Leidensdruck. Und auch Kosten im Gesundheitssystem berücksichtigt werden müssen und jede Entscheidung, die wir für einen Patienten treffen, auch andere Menschen und auch die Umwelt mit beeinflusst (Stichwort „One Health“).
Ich bin Hausärztin mit Leib und Seele und ich setze mich gern und viel für meine Patienten ein. Aber ich glaube auch, dass wir ein Gleichgewicht finden müssen zwischen dem individuellen Empfinden und den Bedürfnissen des Patienten einerseits und dem sprichwörtlichen Rest der Welt andererseits: Den anderen Patienten, die vielleicht dringender den Neurologen-Termin oder gar den RTW brauchen. Den Beitragszahlern der Krankenkassen, der Umwelt und so weiter. Denn wir leben alle auf derselben Welt. Und wir müssen einfach Rücksicht aufeinander nehmen. Denn letztlich gilt, was Benito Juarez sagte: Die Rücksicht auf das Recht des anderen – das ist der Friede.
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