Ein Auto rast in einen vollbesetzten Bus, es knallt, dann eine Explosion. Allen ist klar: Hier ist gerade etwas Schlimmes passiert. Warum der deutsche Rettungsdienst in so einer Situation versagt, lest ihr hier.
Als der leuchtorange BMW 525i auf dem Asphalt entlangschlitterte und die Reifen quietschten, schrie niemand. Die Menschen standen da, ihre Münder zu einer Null geformt, während sich ihre Blicke auf die Szenerie vor ihnen hefteten. Sie duckten die Köpfe für den Bruchteil einer Sekunde – so, als hätte ein Kind neben ihnen einen Ballon zum Platzen gebracht. Dann der Einschlag.
Die Motorhaube des Wagens verkürzt sich wie eine Ziehharmonika, die jemand zusammenschiebt. Zwei der sechs Airbags explodieren. Die Menschen ducken sich wieder. Der Fahrer fällt in die Gurte, es staubt. Der Bus springt mit einem Ruck zur Seite. Scheiben bersten in eine Millionen Teile und bleiben überall verteilt liegen. Dann zwei Sekunden Stille, gefolgt von einem so lauten Knall, als hätte jemand zwanzig Polen-Böller gleichzeitig gezündet. Sprengstoff reißt Teile aus dem Wagen. Überall Rauch und Flammen, die aus dem Bus schlagen. Dann fangen die Menschen an, zu schreien, dass es einem kalt den Rücken runterläuft.
Die Personen im Bus schienen wild durcheinandergewürfelt. Wo kamen sie her? Wo wollten sie hin? Als der BMW in der rechten Seite des Busses einschlug, dachte jeder vermutlich nur an einen ganz normalen Verkehrsunfall – was es aber nicht war. Jemand hatte einen Bus gerammt und dann einen Sprengsatz gezündet. Wir hatten es diesmal mit einem Terroranschlag zu tun.
Dann der Alarm. Ich hörte noch den Spruch durch den Lautsprecher des Funkgerätes vom Typ FuG 8b, der immer bei einem unerwarteten Großschaden durchgesagt wurde: „Funkstille – mehrere Alarme.“ Dann drückte der Disponent auf den großen roten Knopf. Eine Kaskade an Fünfton-Selektivruftönen kam aus dem Lautsprecher und schien, nicht enden zu wollen. Das war der Moment, in dem einem das Adrenalin in die Blutbahn schoss und sich am ganzen Körper Gänsehaut bildete.
Wir sollten uns zuerst an einem Abrufplatz sammeln, bevor uns irgendein Einsatzleiter, der noch nicht einmal da war, an den Schadensort befahl. Aber hatte irgendjemand die Möglichkeit eines Second-Hits bedacht? Was, wenn wir als Rettungskräfte mit angegriffen werden sollten? Das Chaos nahm seinen Lauf.
Es war 2002, ein Jahr nach dem Terroranschlag 9/11. Die israelische Delegation des MDA saß auf der Tribüne und blickte sich gegenseitig an. MDA steht für Magen David Adom. Das ist die zentrale Hilfsorganisation Israels, die die Notfallrettung und den Blutspendedienst durchführt. Alle trugen Kippas unterschiedlicher Farben. Einer schüttelte seinen Kopf. Ein weiterer deutete auf die Übungsszenerie voller Staub, dirigierte unseren RTW in eine Richtung, gestikulierte und sagte etwas zu dem, der direkt neben ihm stand. Ein Dritter notierte sich Stichpunkte mit Kugelschreiber auf einem Papierblock, der seine beste Zeit hinter sich hatte.
Die Delegation des MDA war an diesem Tag zu uns eingeladen, um unserem alljährlich organisierten Trauma-Tag beizuwohnen, nachdem Leute unseres Traumateams einige Monate zuvor in Tel Aviv gewesen waren. Die Israeli hatten einen weltweit ausgerufenen Rettungsdienstcontest veranstaltet. Paramedics und Ärzte aus der ganzen Welt nahmen daran teil. Für uns lief es damals gut und so wollten wir ihnen zeigen, wie unser Trauma-System im Großschadensfall funktioniert und was wir draufhaben.
Als wir am Bus ankamen, war das Chaos schon in vollem Gange. Perfekt geschminkte Schauspieler mimten die Verletzten und schrien wie aufgespießt, fünfzehn an der Zahl. Überall dampfte Rauch aus Nebelmaschinen und nahm uns die Sicht. Auch die Feuerwehr war bereits eingetroffen und dabei, den Bus zu sichern. Rettungswagen, Notarztwagen, ein Großraum-Rettungswagen, Einsatzleitfahrzeuge und ein paar Krankenwagen füllten den Platz, bis er komplett voll war. Teams waren damit beschäftigt, große Zelte aufzubauen, damit Ärzte darin die ganzen Verletzten strukturiert sichten konnten. Dann noch Bereitstellungsraum, Behandlungsplatz mit den unterschiedlichen Modulen, wobei die Helfer die Verletztenablage je nach Schweregrad der Verletzungen in die Kategorien I–IV unterteilten.
Dazu kamen noch die Module Führung, Eingang und Sichtung, Totenablage und Technik und die Verletztenablage, auf die wir die Patienten dann aus der Triage heraus verteilten. Alle liefen durcheinander. Jemand mit Wasserwacht-Rückenschild schrie eine gehfähige Mimin an, gefälligst zur Triage zu laufen. Dann ging er einfach woanders hin und schrie den nächsten an. Einer der leitenden Notärzte stand wie bestellt und nicht abgeholt neben dem Notarztwagen. Zwei meiner Kollegen zogen einen männlichen Mimen aus dem Bus, legten ihn auf die Trage und verschwanden in einem Rettungswagen. Niemand befand sich mehr am Bus. Am Ende kamen noch mein Kollege und ich zum Zug. Wir retteten einen brandverletzten Schauspieler und brachten ihn in die Triage. Zwei Stunden nach dem Alarm fiel die Klappe.
Die Israelis standen auf und klatschten in die Hände. Sie freuten sich über die Show, wie sie aus einem Actionfilm stammen könnte, und beglückwünschten uns zu unserem Fuhrpark und der technischen Ausstattung. Als es aber an die Bewertung der Leistung und Koordination ging, sah die Sache schon unfreundlicher aus. Die Rede auf dem anschließenden Meeting im Veranstaltungshaus vernichtete uns. Sie sagten, dass wir im Ernstfall eines Terroranschlages keine Chance hätten, weil wir Patienten niemals schnell genug auf die umliegenden Kliniken verteilt bekämen. Dazu gesellten sich viel zu viele Führungskräfte aller Art mit Westen in allen Farben. Der Ablauf mangelte an konzeptioneller Schärfe. In unserem Konzept fehlte den drei Männern schlicht und ergreifend das Tempo, die Einsatzstelle so schnell wie möglich wieder zu verlassen.
In Israel sieht es anders aus. Das Hauptaugenmerkt der israelischen Rettungskräfte liegt darauf, schwer- von leichtverletzten Opfern an der Schadenstelle auseinanderzutriagieren. Die Besatzungen fahren die schwerverletzten Patienten sofort nach Triage und Erstversorgung in die nächstgelegene Klinik – unabhängig davon, ob es sich um ein höhergradiges Traumazentrum handelt oder nicht. Dann geht’s zurück an die Einsatzstelle und der nächste Patient wird transportiert.
Die Israelis haben erkannt, dass wirklich schwer verletzte Patienten vor Ort deutlich weniger Chancen haben als in einer Klinik und dass so viele wie möglich in möglichst kurzer Zeit aus der Gefahrenzone herausgebracht werden müssen. Krankenhäuser nehmen alles auf, was durch den Rettungsdienst angebracht wird. Als ein gutes Beispiel kann man den Anschlag vom 5. Dezember 2005 in Netanya nennen: Nach drei Minuten wurde der erste Schwerverletzte von einem RTW-Team aus der Gefahrenzone gerettet und in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht. 74 der 131 Patienten wurden durch Rettungsmittel transportiert, welche die Opfer auf drei Krankenhäuser verteilten.
Die mittel- und leichtverletzten Opfer davon kamen in die weiter entfernten Kliniken. Damit war es dem Personal des nächstgelegenen Hauses möglich, sich auf dringende Patienten zu konzentrieren. Zufall? Nein, war es nicht: Ein weiterer Selbstmordanschlag fand am 26. Oktober 2005 auf einem kleinen israelischen Marktplatz statt. Es gab acht Schwerverletzte, zwei Mittelschwerverletzte und 48 Leichtverletzte. Innerhalb von 17 Minuten nach der Explosion hatte das Personal des Rettungsdienstes die roten und gelben Patienten erstversorgt und in die umliegende Klinik transportiert.
Um vor Ort handlungsfähig zu bleiben, haben die Israelis Gadgets erfunden, die lebensrettende Sofortmaßnahmen ermöglichen und die wir mittlerweile auch benutzen. Die Israeli Bandage wurde Mitte der neunziger Jahre von einem israelischen Militärsanitäter entwickelt. Sie ermöglicht Primärversorgung, Druckverband, Sekundärbehandlung und sichere Fixierung in einem einzigen Notfallverband. Eine weitere Erfindung war die Bone-Injection-Gun durch den israelischen Orthopäden Dr. Marc Waisman. Da man im Falle eines Konfliktes nicht viel Zeit hat, langwierig venöse Zugänge zu legen, nimmt man die B.I.G., setzt diese auf und drückt ab. Zack – venöser Zugang über den Knochen.
Meine Erkenntnis des Kontaktes zu den Israelis war recht einfach: Wenn wir im Traumafall ebenso schnell sein wollten, dann müssen wir es eben genauso machen. Man könnte nun argumentieren, dass wir es in Deutschland im Vergleich zu Israel mit wenig Terroranschlägen zu tun haben. Glücklicherweise ist das so. Das heißt aber nicht, dass wir es nie mit einer großen Anzahl an Verletzten zu tun haben.
Vergleichbar ist zum Beispiel der MANV: Bei einem Massenanfall an Verletzten im Rahmen eines Verkehrsunfalls gilt es auch, die Szenerie möglichst schnell zu verlassen. Das Foto zeigt eine Szene auf der A8 nahe München nach einem Massenunfall.
Der Einsatz hatte etliche Stunden gedauert, obwohl wir es nicht mit annähernd so vielen Verletzten vor Ort zu tun hatten, wie seinerzeit die Kräfte beim Anschlag in Netanya. Schon damals habe ich mir die Frage gestellt, wieso man den Patienten nicht einfach so schnell wie möglich in die Klinik bringt, anstatt ihn an der Einsatzstelle totzubehandeln.
Es ist auch schön, dass ich bei so einem Einsatz in kalten Wintertagen von einer extra dazu alarmierten Einheit mit warmem Tee versorgt werde – aber diese Zeit könnte ich auch mit einem Transport in irgendeine Klinik nutzen, von denen wir in und um München mehr als genug haben. Die Rechnung habe ich allerdings ohne die Aufnahmekapazität ebendieser Krankenhäuser gemacht – in Zeiten wie diesen, in denen wir bei fast jeder Aufnahme in einer Notaufnahme Diskussionen darüber führen müssen, dass das Krankenhaus gerade abgemeldet ist.
Vor einigen Tagen traf ich einen der Notärzte von damals während eines Einsatzes wieder. Auch heute noch ist er Mitstreiter des Traumateams von 2002. Wir lachten und scherzten und jeder freute sich, den anderen wiederzusehen. „Weißt du noch, als die aus Tel Aviv damals bei uns waren? Das war echt eine schräge Zeit“, sagte er. „Der eine ist ganz schön weiß geworden, als der BMW mit dem Attentäter in den Bus geknallt ist“, antwortete ich. Wir lachten wieder.
Aber dann hielt er einen kurzen Moment inne. Er drehte sich um, stieg aus dem Rettungswagen auf die Straße und sah mich an: „Bei einem Terroranschlag hätten wir noch immer keine Chance.“
Quellen
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36695069/
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15075644/
Bildquelle: erstellt mit Midjourney