Es gibt ihn: Rassismus im Gesundheitswesen. Ob gewollt oder ungewollt, auch Ärzte tragen rassistische Bilder weiter – der Genfer Deklaration zum Trotz. Wie ernst ist es wirklich? Ein Statusbericht.
Um beim Thema Rassismus eine sachliche Diskussionsgrundlage zu bieten, braucht es erstens das Wissen darum, dass es nicht unbedingt darum geht, Schuldige zu finden und zweitens eine klare Definition. Ein Problem: Der Rassebegriff ist in Deutschland historisch geprägt und verpönt. Denn die hierzulande vorherrschende Reduzierung des Begriffs auf einen vermeintlichen biologischen Unterschied von Personengruppen ist auf die nationalsozialistische Ideologie zurückzuführen. Definitionen, insbesondere im Fachwissenschaftlichen, die sich an Selbstidentifikation oder erfahrener Diskriminierung orientieren, sind hierzulande bisher noch nicht etabliert.
Entsprechend tappen Ärzte in Deutschland manchmal im Dunkeln, so Simon Gerhards, medizinischer Doktorand in der Abteilung Ethik in der Medizin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg: „Wir haben in der Ärzt*innenschaft ein großes Wissensdefizit dazu, was Rassismus überhaupt ist. Die extreme Ausprägung, die man auch aus anderen nicht-medizinischen Kontexten kennt, ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Man muss sich bewusst sein, dass wir alle in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die rassistisch geprägt ist.“
Auch Ärzte tragen diese Prägung ungewollt weiter. Dabei wird zwischen strukturellem und individuellem Rassismus unterschieden. Struktureller Rassismus meint dabei eine systematische, teils institutionalisierte Form, in der rassistische Begriffe, Vorgehen und Denkansätze subtil, auch ohne Intention angenommen und weitergetragen werden. Beispiele aus der Praxis: im dermatologischen Fachbuch ist fast nur helle Haut abgebildet, das Pulsoximeter liefert bei Anwendung auf dunkler Haut schlechtere Ergebnisse, bei der Anamnese schießen Begriffe wie „Morbus Mediterraneus“ oder „Mamma-Mia-Syndrom“ in den Kopf.
Daneben gibt es den individuellen Rassismus, der oftmals intendiert ist und sich an einem persönlichen Gegenüber abarbeitet. Das müssen nicht direkt abwertende Kommentare sein. Vielleicht bekommt der Patient mit dem afrikanisch klingenden Nachnamen einen späteren Termin oder es werden Fragen gestellt wie „Woher kommen Sie denn wirklich?“. In dieser Form ist Rassismus mit bewusster oder unbewusster Diskriminierung verbunden.
Dass beide Formen auch durch das System begünstigt werden und oft dann durchbrechen, wenn Spannungen zunehmen, bestätigt der aktuelle Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa). „Die Frage des Zeitdrucks und Personalmangels ist stellenweise auch in unseren Interviews problematisiert und als Verstärker rassistischer Diskriminierung verhandelt worden“, erklärt Dr. Hans Vogt, wissenschaftlicher Mitarbeiter des NaDiRa-Teams, gegenüber den DocCheck News. Tanja Gangarova, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin, ergänzt: „Eine deutsche Studie legt nah, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen im Feld, insbesondere das DRG-System, und die fehlende Kostenübernahme von Sprachmittlung bestehende Strukturen von Diskriminierung und Rassismus verstärken (können).“
Rassismus kann in beide Richtungen laufen: von Arzt zu Patient ebenso wie von Patient zu Arzt. „Aus meinem täglichen Erleben muss ich sagen, dass rassistische Tendenzen eher nicht von Seiten des Gesundheitspersonals aufkommen, sondern andersherum. Ich sehe viel mehr Patienten, die mein Personal beleidigen […], als dass es mein Personal mit ihnen macht. Bei uns kriegt zum Beispiel einfach niemand einen sofortigen Termin – es sei denn, man hat eine Notfallüberweisung, aber sonst geht es nicht. Wenn das die Personen dann nicht verstehen – auch aus sprachlicher Ermangelung heraus – dann wird es schwierig“, erklärt Dr. Uwe Schwichtenberg, Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Deutschen Dermatologen.
Doch auch unter Medizinern gibt es diese Fälle, wie ein Sprecher der Anlaufstelle Diskriminierung bei der Ärztekammer Hamburg gegenüber DocCheck berichtet: „Anlass für die Einrichtung […] waren Rückmeldungen unserer Mitglieder über erfahrene Diskriminierung sowie Fragen unserer Mitglieder zu Rassismus und Diskriminierung im Gesundheitswesen allgemein. […] In den bisher behandelten Fällen ging es oft um Diskriminierung durch Kollegen oder Vorgesetzte, als Diskriminierungsgründe wurden unter anderem Geschlecht, Herkunft, der Familienstand oder auch das Alter angegeben. Anfragen zu Konflikten oder Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit Patient*innen hat es nicht gegeben.“
Nun bringt Rassismus im Gesundheitswesen auch noch die direkte Gefahr der körperlichen Gefährdung mit sich. „Die medizinische nüchterne Seite: Hauterkrankungen sehen auf dunkler Haut nun mal anders aus als auf heller Haut. […] Bei sehr dunkel pigmentierter Haut fehlt das Rot, weil es in dem Braun oder Schwarz untergeht. Sie wirkt dann eher gräulich statt rötlich. Da das Rot aber die Alarmfarbe für uns ist, sind Kollegen oftmals nicht darauf eingestellt und sehen nicht, dass man antientzündlich arbeiten muss. Es kann dann sein, dass der Arzt die Entzündlichkeit der Hautveränderung unterschätzt“, beschreibt Schwichtenberg, der auch CMEs zum Thema anleitet.
Im Afrozensus 2020 – eine Erhebung von Daten zu Diskriminierungserfahrungen schwarzer oder afrikanischer Menschen – gibt es einen Bericht über ein Kleinkind, das in Köln geboren und dennoch auf Malaria und andere tropische Erkrankungen untersucht wurde. Wenn der Assistenzarzt dieses Vorgehen nicht angemessen findet, sich aber aufgrund der hierarchischen Verhältnisse keine Kritik an seinen Chefs erlaubt, werden bestehende Muster nicht durchbrochen.
Ein weiteres Beispiel aus dem NaDiRa: „Schwarze Studienteilnehmerinnen werden z. B. hypersexualisiert: In der Folge werden ihnen häufig ohne Grund HIV/STI-Testungen angeboten. Muslimisch gelesenen Studienteilnehmerinnen wird dagegen eine unterdrückte Sexualität zugeschrieben: Ärzt*innen sehen seltener einen Grund, gewisse Gesundheitsdienstleistungen wie Tests auf STI bei diesen durchzuführen.“ Ein Beispiel aus anderem Kontext: Eine Patientin mit türkischen Wurzeln beschreibt, dass sie mit akuten starken Rückenschmerzen in eine Hannoveraner Klinik eingeliefert wurde und dort für zehn Tage ohne sichtliche Besserung verblieb. Die Diagnose des Nervenwurzelkompressionssyndroms wurde erst korrigiert, als sie die Ärzte wechselte und dort eine Herzklappenentzündung festgestellt wurde – vorher sollte sie sich „nicht so anstellen.“
Doch auch zum Auslöser von Beschwerden kann Rassismus werden. Beispielsweise, wenn Betroffene berichten, dass sie wegen Diskriminierungserfahrung einen Arzt erst aufsuchen, wenn akute Beschwerden bestehen. Notwendige Untersuchungen werden nicht wahrgenommen, wie Gangarova bestätigt: „Als mögliche Folgen werden der Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem, das Meiden der Inanspruchnahme medizinischer Behandlungen und die Verschlechterung der psychischen und physischen Gesundheit der Betroffenen durch die Studienteilnehmenden beschrieben.“ Im Uni-Alltag kann diese Dynamik ebenfalls Probleme machen: „[Studien haben belegt], dass die Erfahrungen von Rassismus mit Symptomen von Angststörungen korrelieren und auch depressiv machen können. Von Rassismus betroffene Studierende haben auch in unserer Studie berichtet, dass es extrem anstrengend ist, immer wieder die eigene Gegenwart im Medizinstudium rechtfertigen zu müssen“, erklärt Gerhards.
Neben einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung muss also schon in Ausbildung und Studium sensibilisiert werden – und viele Studenten legen bereits vor. Neben BIPOC Hochschul- und Anti-Rassismus-Gruppen, Organisationen wie Black in Medicine und dem Bundesfachnetz Gesundheit und Rassismus, sind es beispielsweise die Medical Students for Antiracist Action (MAA), die Stellung beziehen. Gegenüber den DocCheck News erklären sie: „Wir Studierende wünschen uns mehr oder überhaupt eine Lehre zu dem Thema und bemängeln fehlendes Wissen und Lehre an unseren Universitäten.“ Die zunehmende Beschäftigung mit der Problematik sei zwar „lobenswert“; doch: „Wir Medizinstudierende beobachten Rassismus auch bei unseren approbierten Kolleg*innen und Professor*innen, von denen wir eigentlich etwas lernen wollen.“ Lehrkräfte fühlten sich, darauf angesprochen, oft persönlich angegriffen. Die Studenten fordern die Aufnahme des Themas ins Curriculum sowie die „Einführung von Qualitätszirkeln, bei denen interprofessionell reflektiert und ausgewertet wird, wie/ob rassismuskritisch gearbeitet wird.“
Auch immer mehr praktizierende Ärzte gehen das Problem an: Die Kammern Hamburg und Nordrhein bestätigen gegenüber den DocCheck News ihre Beteiligung am Projekt „Empowerment für Diversität“. Schwichtenbergs pragmatische Idee dazu: „Die Sprache ist [für Integration] die wichtigste Grundlage […]. Man könnte einfach damit anfangen, eine EBM-Ziffer einzuführen für Patienten mit einer Sprachbarriere.“
Allein sind wir mit dem Problem nicht – und auch nicht mit der Suche nach Lösungen. Das bestätigt die „Deklaration von Berlin“ des Weltärztebundes, in der Präsidentin Osahon Enabulele festhält: „Systemischer Rassismus ist völlig inakzeptabel.“ Gerhards betont: „Wir benötigen Mittel, um alle Beteiligten zu sensibilisieren, um klarzumachen, dass es kein ausschließlich individuelles Problem ist und dass man nicht unbedingt sofort ein schlechter Mensch ist.“ Für die zukünftige Forschung, praktizierende Medizin und Ausbildung sei die persönliche und kritische Beschäftigung mit dem Thema gefordert. Dazu gehöre auch, das Thema im Lehrplan einzubinden und schon Studenten zu vermitteln, „Rassismus zu erkennen, zu benennen, zu verhindern und zu beseitigen“. Wenn man sich die studentischen Statements dazu anschaut, wird klar: Hier könnten Generationen von Medizinern zusammenkommen – gegen Rassismus.
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