Cara wimmert und hält sich die Seite mit der gebrochenen Rippe. Ihre Sanitäterkollegin versucht, zu helfen, kassiert dafür aber einen Faustschlag ins Gesicht – vom Patienten. Das ist leider kein Einzelfall.
Der Typ schrie Schimpfwörter, die an dieser Stelle absolut nicht zitierfähig sind. Das Gefahrenradar der beiden Notfallsanitäterinnen Isabell und Cara ist längst auf Anschlag. „Wir brauchen die Polizei an der Einsatzstelle. Sofort!“, riss Isabell den Hörer von der Wand des Rettungswagens. Eines war sicher: Der Typ hatte zu viel getrunken, vermutlich Opiate genommen und konnte so auf keinen Fall allein auf der Straße bleiben. Entweder musste er in die Klinik oder zumindest in die Ausnüchterungszelle. Klar, dass sich seine Begeisterung darüber in Grenzen hielt. Und das machte ihn reichlich aggressiv.
Die Beleidigungen nahmen immer weiter zu, obwohl Cara und Isabell ihn zu beschwichtigen versuchten. Der Typ wollte verschwinden, aber er hätte sich durch seinen Rausch selbst gefährdet. Die Garantenstellung des Rettungsdienstmitarbeiters kommt an dieser Stelle ins Spiel: Dieser hat in so einem Fall dafür zu sorgen, dass dem Patienten nichts passiert und dieser zum Beispiel nicht unvermittelt auf die Straße läuft. In diesem Moment für die beiden Frauen ein fatales juristisches Konstrukt, denn plötzlich hatten die beiden den Point-of-no-Return erreicht.
Der Schläger holte aus. Er riss an den Gurten der Trage, fuchtelte mit den Armen und traf Notfallsanitäterin Cara, die rückwärts gegen die Hecktür fiel. Er kesselte sie ein. Sie griff zur Abwehr nach seinen Armen und versuchte, ihn von sich wegzuhalten. Es gelang ihr aber nicht. Er trat wieder und wieder nach Cara. Auch Isabell hing sich von hinten an den Typen dran und versuchte, ihn von seiner Tat abzuhalten, aber sie hatte ihm körperlich nichts entgegenzusetzen.
Trotz der Tatsache, dass sie hinter ihm stand, schlug er nach Isabell und versuchte, sie zu verletzen. Dann trat und schlug er erneut nach Cara, traf sie und schleuderte sie gegen die Wand. Ein Türgriff bohrte sich dabei in ihren Rücken. Eine Rippe brach, aber es reichte ihm noch nicht. Er hörte nicht auf, bis die beiden Notfallsanitäterinnen endlich aus dem Rettungswagen fliehen konnten und den Typen auf der Trage zurückließen. Er beleidigte die beiden Frauen weiter, obwohl längst klar war, was er angerichtet hatte.
„Ich kriege keine Luft“, wimmerte Cara und hielt sich die Seite mit der kaputten Rippe, an der sich ein Bluterguss bildete. Der Schläger hatte sich mittlerweile abgeschnallt, kam dazu und bedrängte die beiden zu allem Überfluss noch. Erst als Isabell ihn anschrie, er solle sie in Ruhe lassen, verschwand er für kurze Zeit. Aber er machte kehrt, lief auf Isabell zu und schlug ihr seine Faust direkt und gezielt ins Gesicht. Sie ging zu Boden.
Endlich kam ein Passant herbeigeeilt und warf sich auf den Aggressor. „Geht’s noch?“, hörte Isabell ihn den Schläger anschreien, bevor ihr schwarz vor Augen wurde. Drei Minuten nach dem Notruf an die Leitstelle quietschten Reifen, Streifenwagen bügelten um die Ecke. Die Polizisten nahmen den Täter fest und dieser wusste genau, dass für ihn heute kein Konfetti regnen würde.
„Der Weg aus Angst heraus geht immer durch Angst hindurch.“ Mit dieser Aussage hat Friedrich Nietzsche, der Urheber des Spruchs, wohl Unrecht. Seit diesem Rettungsdienst-Einsatz schlagen immer wieder Flashbacks – besonders bei Cara – ein. Jedes Mal, wenn die Einsatzmeldung „alkoholisierte Person“ auf dem Daten-Display steht, zieht sich ihr Magen zusammen. Jedes Mal bekommt sie Gänsehaut und ihr Herz überschlägt sich. Und jedes Mal steigt ihr die Magensäure hoch wie an Weihnachten, wenn man ordentlich zuschlägt und nach der finalen Portion doch noch einen Nachschlag nimmt.
Sie musste Schichten seit dem Ereignis schon vorzeitig beenden, weil es einfach nicht mehr ging und weil die Bilder wiederkamen und sie nicht mehr losließen. Durch diesen Einsatz hat Cara eine posttraumatische Belastungsstörung kassiert und wird nie wieder völlig unbekümmert einen Einsatzort anfahren können. Isabell geht es ähnlich. Sie fordert seitdem bei jedem noch so geringen Anzeichen einer Aggression oder einer Beleidigung die Polizei an. Auch der Schlag in ihr Gesicht hat Spuren hinterlassen, die man nicht einfach so ausradieren kann.
Gerade im Stadtbereich haben Angriffe auf Rettungsdienstpersonal erheblich zugenommen. Eine Studie des Deutschen Roten Kreuzes zeigt, dass Übergriffe auf Rettungsdienstpersonal zum Alltag gehören. 40,3 % des Personals waren ausschließlich von verbaler Gewalt betroffen, während etwa ein Drittel sowohl verbale als auch körperliche Übergriffe erlebte. 14,1 % berichteten von ausschließlich tätlichen Übergriffen. Verbale Übergriffe kamen bei fast 20 Prozent des Personals mindestens ein- bis zweimal pro Woche vor. Die Studie ergab auch, dass 52 % der Gewaltanwendungen im innerstädtischen Bereich stattfanden, gefolgt von sozialen Brennpunkten und bürgerlichen Wohngegenden. Vorrangig betreffen Übergriffe Polizisten. Nordrhein-Westfalen verzeichnete dabei die meisten Vorfälle mit über 20.100 betroffenen Einsatzkräften. Bayern und Berlin folgten mit knapp 19.000 bzw. etwa 9.000 Betroffenen. Wenn man überlegt, dass in Bayern in etwa 34.000 Polizeibeamte beschäftigt sind, wurde jeder zweite Beamte Ziel eines Übergriffs.
Um solche Situationen zukünftig zu vermeiden und das Sicherheitsniveau für Rettungsdienstpersonal zu erhöhen, ist ein mehrschichtiger Ansatz erforderlich. Zentral ist die Stärkung der Ausbildung, in der Deeskalationstechniken und Konfliktmanagement verstärkt vermittelt werden sollten. Dies umfasst sowohl theoretisches Wissen über psychologische Grundlagen als auch praktische Übungen zur Selbstverteidigung und zum Schutz vor physischer Gewalt.
Parallel dazu muss die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Arbeit und die Risiken des Rettungsdienstpersonals vorangetrieben werden. Darüber hinaus ist eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei und anderen Sicherheitsorganen unerlässlich, um bei Bedrohungslagen schnell und effektiv reagieren zu können. Alarm- und Kommunikationssysteme, die eine sofortige Notrufmöglichkeit bieten, verbessern zusätzlich die Sicherheit des Personals. Einzig die Gesetzgebung hat die Möglichkeiten zur Strafverfolgung deutlich angezogen. Aber dieser gesetzliche Rahmen nützt leider gar nichts, wenn die Gesundheit von Einsatzkräften für ein Strafgericht bedeutungslos ist.
Und dann kam der Prozess. Die beiden Notfallsanitäterinnen dachten, an diesem Tag würde der Schläger für seine Gewalt gegen Einsatzkräfte auf Heller und Pfennig bezahlen. Lange haben Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Feuerwehr dafür gekämpft, besser geschützt zu werden. Dann endlich war es so weit und der Gesetzgeber erweiterte das Strafgesetzbuch um zwei Paragrafen. Paragraf 115 StGB schreibt eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor, wenn ein Aggressor jemanden angreift, der einem Polizeibeamten gleichgestellt ist. In diesem Fall handelte es sich bei den Gleichgestellten um zwei Notfallsanitäterinnen des Rettungsdienstes, die keine andere Wahl hatten, als diesen Einsatzort anzufahren und sich dieser Gefahr auszusetzen.
Der Angeklagte hatte noch einen Taschendiebstahl auf dem Kerbholz gehabt, den das Gericht an diesem Tag gleich mitverhandelte. Das Blöde an der ganzen Geschichte: Er war zum Zeitpunkt der Tat erst achtzehn Jahre alt. Für ihn galt trotz seines Status als Erwachsener zu diesem Zeitpunkt zur Strafbemessung das Jugendgerichtsgesetz – die Tat wurde nach Jugendstrafrecht verhandelt.
Die Entschuldigung des Schlägers klang wie ein kafkaeskes Theaterstück, um die Richterin zu beeindrucken und nur das Strafmaß zu drücken. Isabell nahm es ihm nicht ab und sagte ihm ins Gesicht, dass nichts von der Tat wiedergutzumachen ist. Der Typ reagierte darauf auch noch mit Abweisung, saß auf der Anklagebank wie ein Schüler bei der Klassensprecherwahl und redete, wie ein Jugendlicher eben redet – und beeindruckte damit das Gericht.
In der Jugendstrafrechtspflege steht nicht die Sühne oder Vergeltung für begangene Taten im Vordergrund, sondern vielmehr die Erziehung und die Prävention weiterer Straftaten. Die Justiz zielt darauf ab, junge Täter durch geeignete Maßnahmen zu resozialisieren und in die Gesellschaft zu reintegrieren. Sie achtet darauf, dass junge Straftäter nicht unnötig stigmatisiert oder von der Gesellschaft isoliert werden, da dies ihre Chancen auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung verringern würde. Daher werden bei Jugendstrafen besondere Prinzipien angewandt, die sich deutlich von denen des Erwachsenenstrafrechts unterscheiden. Schließlich gilt auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Die Strafe sollte immer der Schwere der Tat angemessen sein, ohne das Ziel der Erziehung aus den Augen zu verlieren.
Im Fall der beiden Notfallsanitäterinnen Cara und Isabell war das Strafmaß ein Schlag ins Gesicht von Rettungskräften. Es kam, wie es niemand der Beteiligten erwartet hatte: nur sieben Tage Jugendarrest als ein Urteil im Namen des Volkes dafür, einer Notfallsanitäterin eine PTBS angehängt, eine Rippe gebrochen und einer anderen ins Gesicht geschlagen zu haben. Das ist eine Strafe, die selbst für einen jugendlichen Straftäter so gering bemessen ist, dass sogar der Verurteilte selbst nur abwinkte: „Ja, easy … und ich habe schon mit wesentlich mehr gerechnet.“ Ein Lachen noch in Richtung der beiden Notfallsanitäterinnen, dann verließ der Schläger den Gerichtssaal und ließ sie mit den Folgen der Tat allein.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney